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Migration | Über dieses Dossier

Postmigrantische Perspektiven machen Kino lebendig

Migration im Kinder- und Jugendfilm kuratieren

Filmstill aus "Die Schwimmerinnen"
"Die Schwimmerinnen" (c) Laura Radford/ Netflix

Die Verfilmung von Kinderbuchklassikern ist in Deutschland ein bewährtes Erfolgsrezept. Da wundert es nicht, dass viele der neu erscheinenden deutschen Kinderfilme Neuauflagen dieser sind. Wobei Modernisieren in diesem Kontext meist „divers“ Besetzen heißt. Denn schließlich sagt das Statistische Bundesamt, dass 2022 41,2% der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren eine Zuwanderungsgeschichte haben. Das kann nicht oft genug wiederholt werden: Fast die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland hat selber eine Migrationserfahrung oder Familienmitglieder, die diese gemacht haben. Doch eine alleinige Repräsentation dieses Teils unserer Gesellschaft reicht keinesfalls aus! So könnten wir schlussfolgern, dass knapp die Hälfte des jungen Publikums andere Geschichten braucht als diejenigen, die aktuell in Deutschland erzählt werden: solche, die ihre Erfahrungen und Realitäten widerspiegeln, die ihre Potentiale und Herausforderungen beleuchten. In Wahrheit brauchen wir aber alle diese neuen Geschichten. Denn als postmigrantische Gesellschaft haben wir alle ein Recht auf alle Geschichten. Ein Recht auf viele und vielfältige Geschichten, weil wir viele und vielfältig sind.

Aber die gibt es doch schon, diese Geschichten!

Die Familiendramen über die gescheiterte Emanzipation der Kinder. Die Integrationskomödien, die die Vorurteile der Deutschen aufs Korn nehmen, die Genrefilme, die „die Exotik der Anderen“ in Deutschland hervorheben. Die Dokumentationen über Flucht und Wirtschaftsmigration. Ja, die gibt es. Doch sie finden in dieses Dossier keinen Eingang.

Wir haben uns für unsere Kuration gefragt, welche Filme, die das Thema Migration auf die eine oder andere Art berühren, auch noch in fünf Jahren relevant sein werden. Das sind keine Filme, in denen Migration als ein Defizit, als ein Mangel erzählt wird. Als etwas, das ausgeglichen werden muss – am besten durch Anpassung. Das sind keine Opfer-Erzählungen, die Integration oder Assimilation als unkritisches Ziel haben – schon gar nicht in Verbindung mit dem Narrativ „Wenn du dich nur genug anstrengst“. Das sind Filme, die aber auch keine Unsichtbarmachung der Erfahrung mit Rassismus, Antisemitismus, keine Unsichtbarmachung der Differenz versuchen. Wir haben daher nach Filmen mit jungen Protagonist*innen gesucht, die Subjekt in der Erzählung bleiben. Das bedeutet, dass die Filme ihre Perspektiven erzählen, ihr Blick die Geschichte führt und prägt. Das sind Filme, in denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die Hoheit über ihre eigene Geschichte behalten. In denen sie mehr als ihre Migrationserfahrung oder ihre Migrantisierung – also die gesellschaftliche Zuschreibung „Migrant*in“ – sind. Das sind Erzählungen, die über das Stereotyp hinausgehen und einen differenzierten Blick auf die Figur und ihr Handeln werfen.

Ein wertschätzender Rundumblick

Im Dossier wollten wir die Migration in ihrer ganzen Bandbreite vertreten sehen: Flucht aus wirtschaftlichen, politischen oder kriegerischen Gründen, aber auch als Projekt, als Akt der Selbstermächtigung, als großes Abenteuer. Wir haben geschaut, was Migration in den verschiedenen Generationen hervorruft und was Transkulturalität bedeutet, ohne Rassismus in seinen verschiedenen Ausformungen außer Acht zu lassen. Weil wir von Filmen sprechen, die sich an eine marginalisierte Gruppe in der Gesellschaft – Kinder und Jugendliche – richten, war es uns wichtig, die Intersektionalität der Protagonist*innen zu würdigen. Nicht nur, was es bedeutet, Kind und Migrant*in zu sein, sondern Migration, Gender und Sexualität gleichermaßen zu feiern.

Zudem war es für uns relevant, dass die Filme in diesem Dossier keine pädagogischen Erzählungen für Nicht-Betroffene sind. Dass sie nicht nur Kinder und/oder Jugendliche allgemein ansprechen, sondern vor allem das Publikum berücksichtigen, das eine Migrationsgeschichte hat. Nicht zuletzt haben wir Wert daraufgelegt, dass die vorgestellten Filme in Deutschland verfügbar sind, damit sie ihr Publikum auch über dieses Dossier hinaus erreichen.

Von Leerstellen und Zukunftsvisionen

Herausgekommen ist daher eine handverlesene Kuration, die auf zwei Entwicklungen hindeutet. Auf der einen Seite gibt es essentielle Leerstellen beim Thema „Migration im Kinder- und Jugendfilm“: Über Migration, die freiwillig geschieht – aus Neugier, aus Abenteuerlust –, wird beispielsweise noch nicht erzählt. Ebenso fällt auf, dass positive Erzählungen mit Protagonist*innen, die Rom*nja oder Sinti*zze sind, bislang keinen Raum in der breiten Öffentlichkeit bekommen. Auch jüdische Protagonist*innen treten jenseits der Shoa kaum in Erscheinung. Auf der anderen Seite tun sich interessante ästhetische und erzählerische Entwicklungen auf, wenn migrantische oder migrantisierte Filmemacher*innen am Werk sind. Die Entwicklung von „Futur Drei“ zu „Sieger sein“ zeigt auf, was postmigrantisches Kino bewirken kann.

„Wir drehen das Spiel um und entscheiden, was wir wie erzählen wollen“, sagt Đức Ngô Ngọc im Podcast zu seinem Projekt „Dreh's Um“. Und die dort entstandenen Kurzfilme sprechen für sich. Dies gilt im Übrigen für alle der in diesem Dossier vorgestellten Titel, die Sie in den Filmsammlungen Gehen, Unterwegssein, Ankommen und Dasein finden. Und ganz ehrlich: Wie schön wäre es, wenn diese und weitere Filme den Beginn des Schließens einer großen Wissenslücke markieren! Denn eines steht fest: Mehr als Neuverfilmungen von alten Klassikern brauchen wir zeitgemäße Geschichten. Nicht nur für die neue Generation von Kindern und Jugendlichen. Jetzt!

Büro für vielfältiges Erzählen

Die Kurator*innen I Büro für vielfältiges Erzählen

Seit 2019 arbeiten Letícia Milano und Johanna Faltinat an der Schnittstelle von Dramaturgie und Diversität, Inklusion und Antidiskriminierung. Sie halten zu diesem Themenkomplex Workshops, Vorträge und Keynotes, sie beraten und lektorieren Film- und Serienprojekte in allen Phasen der Entwicklung. Gelegentlich sitzen sie in Auswahljurys und kuratieren.

Die Herausgeber*innen I KJF

Als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen haben Carina Schlichting und Christian Exner im Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum (KJF) ein Auge auf die Filmempfehlungen. Und Andrea Mittelbach macht Datenpflege und Koordination.

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