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Migration | Essay

Von „Futur Drei“ zu „Sieger sein“

Wie postmigrantisches Kino die deutsche Filmlandschaft verändert

Filmstill von "Futur Drei"
"Futur Drei" (c) Salzgeber

Der Ball wird mit einem zielsicheren Tritt ins Tor geschossen und prallt gegen die Wand dahinter. Das Tor steht auf dem Schulhof einer Schule in Berlin-Wedding. Die Schützin heißt Mona. Sie ist 11 Jahre alt und vor wenigen Monaten mit ihrer kurdischen Familie aus Syrien geflohen. Dort hinterließ sie ihren Fußball, ein Geschenk ihrer geliebten Tante, die im Widerstand kämpfte. Mit diesem Treffer beginnt für Mona das Ankommen in ihrem neuen Zuhause, Deutschland. „Sieger sein“ von Soleen Yusef feierte Premiere auf der Berlinale 2024 und startete am 11. April bundesweit im Kino. Damit reiht sich der Film in das immer vielfältiger werdende postmigrantische Kino in Deutschland ein.

Bereits in den 1970ern Jahren gab es erste Filme, die die Perspektive der Migrant*innen, diasporischer und migrantisierter Menschen zeigten. Ab den 1990ern Jahren werden vor allem deutsch-türkische und deutsch-kurdische Regisseur*innen für ihre Filme bekannt, in denen Sprachen, Milieus und Kulturen selbstverständlich in die Handlung eingebettet werden. Es waren wenige Filme und es waren ausschließlich Filme für ein erwachsenes Publikum. Trotzdem läuteten sie ein Erzählen ein, das Aurora Rodonò in ihrem Essay „Blickwechsel Migration – Überlegungen für eine rassismuskritische Filmvermittlung“ so beschreibt: „Beim postmigrantischen Kino geht es nicht um visuelle Artikulationen und Repräsentationen nach der Migration, sondern um die Zeichnung einer Gesellschaft, die im Wesentlichen durch Migrationsprozesse geprägt ist. Das ist eine Gesellschaft, in der Migration und transnationale Lebensentwürfe eine soziale Tatsache sind und keine Randerscheinung innerhalb der Dominanzgesellschaft.“

Doch bis es solche Filme für Kinder und Jugendliche gab – solche, die sich an sie wenden und sie auch als Protagonist*innen erzählen –, hat es lange gedauert. Und das, obwohl migrantische und migrantisierte Kinder und Jugendliche schon seit Generationen Teil des Kinopublikums sind. Dass „Sieger sein“ und auch andere, deutsche Filme, die in diesem Dossier zu finden sind, gefördert werden, auf großen Festivals laufen und mit vielen Kopien in den Kinos starten, ist vor allem einem Film zu verdanken: „Futur Drei“.

Aktivistisches Popcorn-Kino

Filmstill von "Futur Drei"
"Futur Drei" (c) Salzgeber

„Wer sind wir? Wir sind diejenigen, die in erster oder zweiter Generation in Deutschland aufwachsen. Wir erzählen unsere Geschichten. Wir sind all diejenigen, die sich darin wiederfinden, aber auch diejenigen, die noch ganz andere Geschichten zu erzählen haben.“ So stellt sich Jünglinge Film in der Broschüre „I see you – Gedanken zum Film Futur Drei“ vor. Das Filmkollektiv wurde 2013 von Paulina Lorenz, Faraz Shariat und Raquel Kishori Dupka gegründet. Die Produktion des Coming-of-Age-Films „Futur Drei“ erstreckte sich über fünf Jahre, bis er 2020 auf der Berlinale Premiere feierte. Die Macher*innen, die keine Filmhochschule besucht haben, landeten mit diesem einen Volltreffer und konnten seither Fuß in der Branche fassen. Als Kollektiv stehen sie weiterhin für das, was sie schon zu Beginn ausgezeichnet hat: für ein aktivistisches Popkorn-Kino.

In den fünf Jahren seiner Entstehung wurde „Futur Drei“ durch nordmedia, die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, das Kulturdezernat der Stadt Hildesheim, die Stadt Hannover, die Kulturstiftung der Sparkasse für die Region Hildesheim, die Friedrich-Weinhagen-Stiftung, das Studentenwerk OstNiedersachsen, die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung für Homosexuelle Selbsthilfe (hms) und die Bürgerstiftung Hildesheim gefördert. Die begleitenden Workshops „Perspektivwechsel WIR“ wurden unterstützt von der Lotto-Sport-Stiftung, der Heinrich-Dammann-Stiftung, dem Regionalrat Hildesheim und der Klosterkammer Hannover. Produziert wurde der Film von Jünglinge Film, in Koproduktion mit Jost Hering Filme, Iconoclast Germany und La Mosca Bianca Films. Diese Liste zeigt, dass die Arbeit der Jünglinge abseits des deutschen Filmfördersystems gefördert wurde. Es lässt sich daher sagen: „Futur Drei“ ist nicht mit, sondern trotz der Filmförderung entstanden.

Bis zur Entstehung von „Futur Drei“ wurde Migration im deutschen Kinder- und Jugendfilm entweder ignoriert: Getreu dem Motto „Alle sind gleich“ wurden Biografien unsichtbar gemacht. Oder sie fanden meist Ausdruck in Form von Familiendramen oder auch Integrationskomödien mit dazugehörigem Clash of Cultures. „Futur Drei“ bricht mit dieser einzigen Geschichte von Migration, indem er die Gleichzeitigkeit von Migration zeigt (Die drei Hauptfiguren gehören einer Generation an, doch Parvis wächst als Sohn iranischer Eltern in einer Provinzstadt in Deutschland auf, während Amon und Banafshe iranische Geflüchtete sind). Durch die erzählte Queerness nimmt er zudem eine intersektionale Perspektive ein und ermöglicht, dass die Figuren sich selbst benennen und einordnen. Die Figuren werden dadurch zu Subjekten: Sie sind nicht da, um ein weißes Publikum an die Hand zu nehmen, sondern dienen als potentielle Identifikationsfiguren für ein migrantisches Publikum. Im Film wird das Leben von BIPoCs in Deutschland weder idealisiert, noch problematisiert. Dennoch zeigt er auch die Diskriminierungserfahrung der Figuren – ohne großes Drama, aber auch ohne erzwungenen Witz.

Die poetische Kraft dieses Debütfilms ist eine Form von Widerstand gegen die eine, immer wiederkehrende Art, Migration zu erzählen. Dafür hat der Film den First Steps Award 2019 für den besten abendfüllenden Spielfilm und das Ensemble den Götz-George-Nachwuchspreis erhalten, auf der Berlinale 2020 gewann „Futur Drei“ den Teddy Award für den besten Spielfilm, beim Toronto LGBTQ Film Fest Inside Out den Preis für den besten Debütfilm und beim Outfest Los Angeles 2020 den Grand Jury Prize – International Narrative für das beste Drehbuch. Ein verdienter Erfolg, der nachwirkt! Denn ohne „Futur Drei“ – vor allem in seinem Narrativ – wären deutschsprachige Filme wie „Sonne“, „Nico“, „Elaha“, „Ellbogen“ und schließlich auch „Sieger sein“ so nicht entstanden.

Wir wollen „Sieger sein“

Filmbild aus "Sieger sein"
"Sieger sein" (c) DCM

Die Regisseurin und Drehbuchautorin Soleen Yusef kam mit 9 Jahren aus Dohuk in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak aus politischen Gründen mit ihrer Familie als Geflüchtete nach Deutschland. Nach einigen Umwegen begann sie 2008 ihr Studium in Szenischer Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Ihr Debütfilm „Haus ohne Dach“ drehte sie 2015 in ihrer Heimat. Danach arbeitete sie für zahlreiche nationale und internationale Serienproduktionen u.a. für Netflix und Amazon Prime, bis sie mit „Sieger sein“ ihren ersten Kinder-/Familienfilm drehte. Die Arbeit an dem Drehbuch zu „Sieger sein“, der so wie „Futur Drei“ größtenteils autobiografisch ist, lief parallel dazu und erstreckte sich über mehrere Jahre.

Doch „Sieger sein“ wurde anders als „Futur Drei“ bereits ab der Drehbuchentwicklung in den Jahren 2019/2020 durch die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ gefördert. Das Programm ermöglichte den frühen Einstieg der deutschen Sender MDR, SWR und WDR. Produziert wurde der Film von DCM, inklusive Verleih, und Boje Buck. Dass große Partner bei postmigrantischen Filmen einsteigen, ist bei weitem keine Ausnahme mehr. Auch Filme wie „Elaha“ von Milena Aboyan oder „Ellbogen“, eine Adaption vom gleichnamigen Roman von Fatma Aydemir, von Aslı Özarslan profitieren von den Bemühungen um mehr Diversität in der Filmbranche.

Diese Filme schaffen Narrative, die das Leben von Migrant*innen und migrantisierten Menschen in Deutschland weder idealisieren noch problematisieren. Doch während Elaha aus dem gleichnamigen Film und Hazal aus „Ellbogen“ sich isolieren, schlägt Mona, die Protagonistin von „Sieger sein“, einen anderen Weg ein. Soleen Yusef lässt bekannte Erzähltechniken des Mainstreams mit einem Narrativ der Verbundenheit und des Verbündetseins verschmelzen. Mona startet in einer einsamen Position: Sie ist eine Loserin unter anderen Loser*innen. Erst durch das Fußballspielen geht sie in den Kontakt – auch körperlich – mit den anderen. Sie kommuniziert, fragt und stellt ihre eigenen Antworten zur Verfügung. Und so zeigt sie, was sie wirklich kann: Von ganz hinten in der Verteidigung – nämlich im Tor – schafft Mona Zusammenhalt. In ihrem Team und in der Schule.

Soleen Yusef versteht Film und Kino nicht als ein Medium, das das Politische und Soziale lediglich abbildet oder bestätigt. Film ist in „Sieger sein“ ein Imaginations- und Verhandlungsraum. Sie stellt politische und soziale Fragen und entwirft zugleich andere Modelle des Zusammenlebens für den postmigrantischen Raum, in dem wir alle leben. Sehr bedacht hat die Regisseurin das Kostüm jeder Figur gewählt, so dass sie Role Models für Kinder und Jugendliche sein können. Musik, Kamera und Schnitte machen diese Intention klar. Hier sollen und wollen Migrant*innen und migrantisierte Menschen – was sonst – Sieger sein!

Letícia Milano

Zu den Filmen

Filmbild aus "Futur drei"
"Futur drei" (c) Salzgeber

Futur Drei

Deutschland 2022, Faraz Shariat

Parvis entkommt der Langeweile in der Provinz durch Partys und Dates. Nach einem Ladendiebstahl muss er Sozialstunden in einem Geflüchtetenheim leisten. Dort lernt er Amon und Banafshe kennen und verliebt sich in Amon. Sie feiern den Sommer und die Liebe, während sie ihre Zugehörigkeit in Frage stellen.

Filmbild aus "Sieger sein"
"Sieger sein" (c) Stephan Burchardt / DCM

Sieger sein

Deutschland 2024, Soleen Yusef

Den Fußball hat die 11-jährige Mona bei der Flucht nicht mitnehmen können. Und doch wird sie in ihrer Schule in Berlin-Wedding das Feld von hinten aufräumen. Denn noch mehr als ihr Können als Torhüterin bringt Mona im Koffer ein ganz besonderes Verständnis von Zusammenhalt mit.

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