Magische Momente | | von Reinhard Kleber
Wenn Liebe Flügel verleiht
Eine Szene aus Ruth Olshans „Himbeeren mit Senf“.
Wenn die Schmetterlinge im Bauch so wild mit den Flügeln schlagen, dass ein Mädchen den Boden unter den Füßen verliert.
Die 13-jährige Meeri Ehrlich schwärmt für den attraktiven Rocco, der drei Jahre älter ist als sie. Allerdings wagt sie es nicht, ihm ihre Gefühle zu gestehen, weil sie nicht weiß, ob sie erwidert werden. Doch dann passiert ein Wunder: Als Meeri in seiner Nähe ist und ihr Herz immer schneller schlägt, hebt sie vom Boden ab. Das erste Mal passiert ihr das, als der versierte Sportkletterer Rocco sie und ihre beste Freundin Klara in einen Kletterpark einlädt. Dass Rocco ihr auf einem Kletterturm die Technik erklärt, nimmt Meeri kaum wahr, sie schmachtet ihn einfach nur an. Offensichtlich hat sie ganz viele Schmetterlinge im Bauch. Als ihre Füße einige Zentimeter abheben, steht Klara mit offenem Mund daneben. Rocco hat das Wunder nicht mitbekommen, weil er mit der Klettertechnik beschäftigt war. Unterstrichen wird der emotionale Höhenflug von leisen romantischen Gitarrenklängen.
Das Abheben ist nur der erste magische Moment in einer Reihe von übernatürlichen Flugerlebnissen, mit denen sich Meeri unfreiwillig konfrontiert sieht. Als Rocco ihr beim Einklinken der Sicherheitsgurte für eine kleine Rutschfahrt am Drahtseil nahe kommt, lächelt das Mädchen selig. Rocco ermuntert sie mit den Worten: „Du wirst sehen, es wird dir gefallen.“ Meeri sagt nur: „Es ist jetzt schon schön.“ Als sie auf der Drahtseilfahrt unterwegs hängen bleibt, erweist sich der Junge als Kavalier, der sie zum Turm zurückholt. Auf dem Rückweg darf sie sich von hinten an ihm festhalten und kommt ihm so noch näher. Spätestens als sie die Augen schließt, ist klar: Da spielen die Hormone verrückt. Prompt dreht sich Meeris gesamter Körper in die Waagerechte.
Klara staunt weiter und sagt nur: „Oh, mein Gott.“ Vor Rocco hält Meeri ihre übernatürliche Fähigkeit aber geheim, denn sie möchte ihn nicht erschrecken und schon gar nicht als creepy gelten. Zumal sie ihre fliegerischen Aktivitäten zuerst kontrollieren kann. In der folgenden Szene testen die Freundinnen Meeris mysteriöse Gabe. In einer Scheune springt das Mädchen von einem hohen Heuballen – nichts passiert. Als Meeri jedoch an Rocco denkt, hebt sie ab und schwebt mühelos in der Luft.
Der Regisseurin Ruth Olshan ist in ihrem Kinderfilm „Himbeeren mit Senf“ eine schöne Sequenz gelungen, die den alten Menschheitstraum vom Fliegen aufgreift und das deutsche Sprichwort „Liebe verleiht Flügel“ sozusagen wörtlich nimmt. Olshan formuliert dieses überwältigende Gefühl so: „Die Hormone kicken ein, knallen gegen die Schädeldecke, und man hebt ab. Es ist die Versinnbildlichung dieser ersten Verliebtheit, dieses großen Gefühls, das Literatur, Musik und Film ja immer wieder darzustellen versuchen.“
Wie bei so vielen Liebesgeschichten hält der romantische Glücksmoment nicht lange vor, auf den Höhenflug folgt zwangsläufig ein „Crash“. Schließlich kann Rocco weder schweben noch fliegen – ein sicheres Zeichen, dass er Meeris Gefühle nicht erwidert. Doch das verliebte Mädchen muss sich nicht grämen: Sie wird ihr Flugkünste noch öfter nutzen können. Und es ist nicht das letzte Mal in diesem beschwingten Film, dass die Liebe ihr Flügel verleiht.