Magische Momente | | von Holger Twele

Ohne große Worte

Eine Szene aus „Desperté con un sueño/I Woke Up With a Dream“ von Pablo Solarz.

Manche Figuren reden in Filmen unablässig. Wie viel mit wenig Worten erzählt werden und welche Wucht die Stille haben kann, zeigt eine Szene aus einem Film, der bei der Berlinale 2023 in der Reihe 14plus passenderweise unter dem Titel „Auch wenn ich nicht viel sage“ lief.

Filmstill aus I Woke Up With A Dream
"I Woke Up With A Dream" (c) Marcelo Iaccarino

Felipe möchte wie sein verstorbener Vater unbedingt Schauspieler werden und besucht heimlich einen Theaterworkshop. Der Mutter darf er davon nichts erzählen, denn die ist uneingestanden immer noch sauer auf ihren Mann, der eine homosexuelle Beziehung mit dem Regisseur eines Theaterstücks einging. Das findet der Junge aber erst viel später heraus. Als er zum Casting für eine Filmrolle in die Stadt eingeladen wird, muss er bei seiner Oma übernachten, zu der er lange keinen Kontakt haben durfte. Das Drama um Lügen und Geheimnisse in der Familie nimmt am Abend nach dem ersten Casting richtig Fahrt auf.

Felipes Großmutter redet ununterbrochen auf ihren Enkel ein, reiht eine Belanglosigkeit an die nächste. Lange bleibt unklar, ob sie vielleicht unter Demenz leidet oder mit ihren vielen Worten einfach nur ablenken und vergessen möchte. Felipe lässt sich das nicht lange bieten. Die Oma soll endlich den Mund halten. Nach mehrfacher Ermahnung ihr gegenüber tut er das, was er in den Workshops zuvor gelernt hat. Er bittet sie, nur wenige einzelne Wörter zu benennen, die ihr in den Sinn kommen und mit ihr selbst zu tun haben. Seine Anweisungen sind klar, freundlich und präzise. Eher widerwillig lässt sie sich auf das Experiment ein, wobei ihr nach langen Pausen Worte wie „zurück, „immer“, „Tür“ und „wiederkehren“ in den Sinn kommen. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren sind abwechselnd Felipe und seine Großmutter zu sehen, die immer in direktem Augenkontakt bleiben. Das versteinerte Gesicht der Großmutter beginnt zu zucken, löst sich langsam auf, bis Tränen ihre Wangen herunterrinnen. Was genau in ihrem Kopf vorgeht, lässt der Film offen. Und dennoch hat diese Szene eine emotionale Wucht, die tausend Worte nicht annähernd leisten könnten.

Genau darum geht es in dem Film, den die Berlinale mit dem deutschen Titel „Auch wenn ich nicht viel sage“ versehen hat. Wie lassen sich echte Gefühle in einem Film vermitteln, die bis in die Seele der Protagonist*innen blicken lassen? Bedarf es dafür wirklich immer vieler Worte? Oder sind vielleicht ganz andere Dinge von Bedeutung, die wir verlernt haben überhaupt noch wahrzunehmen? Insbesondere in sogenannten Coming-of-Age-Filmen der letzten Zeit reden die Jugendlichen pausenlos. Sie quatschen unablässig, können keine Sekunde den Mund halten oder gar vorsichtig erst einmal in sich hineinhorchen. Permanente Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung sind das Gebot der Stunde. Und das soll angeblich besonders authentisch sein. Dem anderen zuhören zu können und sich selbst ohne viele Worte verständlich zu machen, ist eher selten geworden. Der Film von Pablo Solarz, der sowohl Theater und Film studiert hat, weist darauf hin, dass weniger Worte oft mehr sein können und Beziehungen zwischen Menschen insbesondere in der medialen Vermittlung manchmal nur dann echt und intensiv wirken, wenn nicht allzu viel geredet wird. Genau das macht die Stärke dieser Szene aus, die später beim Casting von Felipe mit einer professionellen Schauspielerin noch variiert und ausgebaut wird.

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