Magische Momente | | von Holger Twele

Familienbande

Ein Szene aus „Little Miss Sunshine“ (Jonathan Dayton, Valerie Faris, 2006)

Familie kann schön sein. Und auch sehr schwierig. Etwa dann, wenn der Rückhalt fehlt oder alle Familienmitglieder nur mit sich selbst beschäftigt sind. In ihrem schrägen, bisweilen auch aberwitzigen Road Movie erzählen Jonathan Dayton und Valerie Faris davon, wie ein siebenjähriges Mädchen unbeirrt seinen eigenen Weg geht – und dabei die ganze Verwandtschaft mitnimmt.

Filmstill aus Little Miss Sunshine
"Little Miss Sunshine" (c) Twentieth Century Fox

Bei einem Schönheitswettbewerb für junge Mädchen darf durch einen glücklichen Zufall auch die siebenjährige Olive teilnehmen, die etwas kräftiger ist und eine Brille trägt und damit gar nicht so aussieht, wie Schönheitsköniginnen bei solchen Shows eben meistens aussehen. Nicht ganz freiwillig macht sich daher die ganze Familie in „Little Miss Sunshine“ (2006) von Jonathan Dayton und Valerie Faris in einem gelben störanfälligen VW-Bus auf ins ferne Kalifornien. Olives Vater ist ein Sprücheklopfer, der glaubt, das Patentrezept für anhaltenden Erfolg in Amerika gefunden zu haben, selbst aber immer wieder versagt. Der Großvater, der die Performance mit seiner Enkelin eingeübt hat, wurde wegen eines Drogendelikts aus dem Seniorenheim geschmissen. Und Olives 15-jähriger Halbbruder hat sich ein Schweigegelübde auferlegt, um für seinen Traumberuf als Kampfpilot zu trainieren. Allein Olives Mutter versucht verzweifelt, die völlig aus der Bahn geworfene Familie zusammenzuhalten und eine perfekte Hausfrau zu geben. Obendrein kümmert sie sich gerade um ihren Bruder, einen Literaturwissenschaftler, der gerade einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Nach tragikomischen Ereignissen auf der zweitägigen Reise sind alle am Ziel und der Wettbewerb kann beginnen.

Vergeblich versuchen die Älteren, Olive von einem Auftritt abzuhalten, als sie sehen, dass die durchweg schlanken und sportlichen Mädchen geradezu ekelerregend wie Erwachsene aufgedonnert sind. Olive als letzte Kandidatin will jedoch ihre Show abziehen. In kindlicher Unschuld imitiert sie eine Stripshow wie im Nightclub. Nicht nur die Organisatorin des höchst dubiosen und sich selbst als in keiner Weise kindgerecht entlarvenden Wettbewerbs ist entsetzt und fordert Olives Vater auf, seine Tochter von der Bühne zu holen. Die ersten Menschen im Publikum verlassen entrüstet den Saal, einige sind begeistert. Der Vater beginnt stattdessen, Olive mit Händeklatschen zu unterstützen und schlägt sich mit dem Moderator, als er Olive gegenüber handgreiflich werden will. Selbst der Security gelingt es nicht, Olives Auftritt zu stoppen, zumal plötzlich die ganze Familie auf die Bühne kommt und zusammen mit Olive tanzt, bis das frivole Lied unter anderem mit der Textpassage „She is a Super-Freak“ zu Ende ist. Zur „Strafe“ später auf der Polizeiwache darf Olive nie wieder an einem solchen Schönheitswettbewerb teilnehmen, was die ganze Familie rundum glücklich macht.

Filmstill aus Little Miss Sunshine
"Little Miss Sunshine" (c) Twentieth Century Fox

Als Kulminationspunkt des gesamten Films hat diese Szene bis heute nichts von ihrer tief berührenden und zugleich unterhaltsamen Faszinationskraft verloren. Denn eine am Boden zerstörte, höchst eigenartige Familie mit vielen Fehlern findet auf dramatische und zugleich vergnügliche Weise über die Solidarität mit dem jüngsten Familienmitglied wieder zusammen. Und das vor dem sozialen Hintergrund einer verlogenen und gespaltenen US-amerikanischen Gesellschaft, die nur Wert auf den äußeren Schein legt und alles, was ihr „fremd“ oder „anders“ erscheint, ignoriert und auszugrenzen versucht. Damit ist „Little Miss Sunshine“ auch fast 20 Jahre nach seiner Entstehung sehr aktuell geblieben und hat eine Wiederentdeckung verdient.

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