Magische Momente | | von Stefan Stiletto

Es ist, wie es ist

Eine Szene aus Enrico Casarosas „Luca“.

Irreführende Vorurteile, die Sehnsucht nach dramatischen Geschichten und ein beiläufiger Satz, der zum Augenöffner wird.

Filmstill aus Luca
"Luca" (c) Disney/Pixar

Die Situation ist gefährlich. Luca und sein Freund Alberto sind gemeinsam mit Massimo, dem Vater ihrer Freundin Giulia, in einem Ruderboot auf dem offenen Meer. Das Meer selbst birgt keine Gefahr. Denn schwimmen können Luca und Alberto nur zu gut. Nass werden allerdings dürfen sie auf keinen Fall. Denn dann würde sich ihre wahre Gestalt zeigen: Luca und Alberto sind in Wirklichkeit Seemonster (eigentlich passt das Wort „Monster“ gar nicht, weil die beiden einfach total nett sind) – und die Menschen an Land fürchten die vermeintlichen Ungeheuer und machen Jagd auf sie.

Massimo ist ein Seebär, wie er im Buche steht. Muskulös, kräftig gebaut, Tätowierung auf dem linken Unterarm, dichte Augenbrauen, die ihn gefährlich wirken lassen, ausgestattet mit einem Gürtel voller Messer – und er hat nur einen Arm. Sofort entsteht durch diese Hinweise eine Geschichte im Kopf. Wie mag er seinen rechten Arm verloren haben? War es bei einem heftigen Unwetter auf hoher See? Wurde er Opfer eines Haiangriffs? Dramatische Situationen, die so ein harter Kerl in seinem Leben schon überstanden hat, gibt es schließlich zuhauf! Als Massimo bemerkt, wie neugierig-eingeschüchtert Alberto seine rechte Schulter beobachtet, sagt er mit grimmiger Mine: „Den hat ein Seeungeheuer gefressen“. Alberto ist irritiert. Bis Massimo lachend nachschiebt: „Ma, no! So bin ich auf die Welt gekommen.“

Natürlich: Enrico Casarosa hat diese Szene in dem Pixar-Animationsfilm „Luca“ (2021) so inszeniert, dass genau diese Vorurteile entstehen. Das Publikum wird absichtlich dazu verleitet, sich eine abenteuerliche Geschichte auszudenken, die als Erklärung für den fehlenden Arm dienen könnte. Und dabei wird das Naheliegende übersehen: Dass es nicht immer eine große dramatische oder tragische Geschichte geben muss. Dass Dinge manchmal einfach so sind, wie sie sind. Massimo wurde mit nur einem Arm geboren, so ist das eben. Monströs dagegen sind in Wahrheit nur die Vorurteile. Aber die macht diese Szene bewusst – indem sie mit ihnen spielt und sie gewitzt ins Leere laufen lässt.

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