Magische Momente | | von Stefan Stiletto
Auf einer Wellenlänge
Eine fast wortlose Szene aus Eline Gehrings Serie „Hungry“.
Alles ist scheiße. Alles soll noch schlimmer werden. Und dann, auf einmal und ganz überraschend, passiert etwas und alles wird anders.
Ronnie will einfach nur raus. Ihre Mutter hat sie vor kurzem in eine Klinik für Kinder- und Jugendliche gebracht, weil sie sich beinahe zu Tode gehungert hat. Und da drin ist furchtbar. Es gibt „Essbegleitungen“, Therapiesitzungen, Ronnie muss sich das Zimmer mit einer Jugendlichen teilen, die sich nur krass geschminkt ansehnlich findet, die anderen Patient*innen sind auch nicht besser, auch wenn sie Ronnie freundlich aufgenommen haben. Dann kommt in Episode 2 der von Eline Gehring inszenierten und von Zoe Magdalena geschriebenen sechsteiligen Mini-Serie „Hungry“ die Lösung für Ronnie: Einen Rausschmiss provozieren. Indem sie ihren Mitpatienten Milan hart triggert. Denn der bekommt Panikattacken, wenn er berührt wird.
In einer „bewegungstherapeutischen Maßnahme“ also meldet Ronnie sich für eine Partnerübung mit Milan. Die beiden sollen sich gegenüber aufstellen und jeweils ihre Bewegungen spiegeln. „Forgiveness“ von Paramore beginnt im Radio zu laufen und Ronnie beginnt mit ihren ersten Handbewegungen. Die Spannung steigt. Denn schließlich hat sie ja offen angekündigt, was sie tun will. Die Haltung gegenüber Ronnie ist skeptisch. Es ist einfach klar, dass sie sich da vollkommen egoistisch verhält und ihr eigenes Interesse absolut über das Wohlbefinden von Milan stellt. Also alle Sympathie beim nichtsahnenden Milan. Milan spiegelt die Bewegungen von Ronnie, mit der er bislang noch nicht viel zu tun hatte – und plötzlich ist da ein Leuchten in seinen Augen. Und auch ein Leuchten in Ronnies Augen. Die Übung hat ihren ganz eigenen Groove. Und während die Kamera zwischendurch beobachtet, wie sich die anderen Paare im Raum verhalten und die Übung ins Lächerliche ziehen, ist da zwischen Ronnie und Milan etwas unausgesprochen Besonderes. Ja, es läuft. Da geht was, was Ronnie nicht für möglich gehalten hatte. Trotzdem ein Blick zu Melly, von der sie die Idee mit dem Triggern hatte. Nochmal weitergrooven. Und dann doch die Grenzüberschreitung. Ronnie berührt Milan an der Backe. Und Milan bricht unter den zunehmend entsetzten Augen von Ronnie in Panik aus.
Verdichtet in einer Szene steckt hier so viel, was diese gesamte Serie auszeichnet. Der Wechsel von Ernst und Leichtigkeit, die Unehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber, das Miteinander und das Gegeneinander, das viel erzählende Schweigen. Ronnie kommt eigentlich in diesem Moment an in der Klinik und findet eine Connection, und doch macht sie sofort wieder alles kaputt. War ihre Zeit in der Klinik und ihre Haltung bis zu diesem Moment geprägt von Rebellion und Ablehnung, so blitzte hier kurz etwas anderes auf. Eine Haltungsänderung, die für Ronnie überlebenswichtig sein könnte. Denn Weglaufen ist keine Lösung. Ronnie bekommt zu Recht eine Menge Ärger nach diesem übergriffigen Verhalten. Aber auch eine zweite Chance. Und die nutzt sie in dieser Serie, die ganz nah dran ist an den Figuren und nicht über sie urteilt.