Junge Held*innen | | von Ulrike Seyffarth

Bruderherz

Eine Nebenfigur aus „Close“ (Lukas Dhont, 2022)

Meist richtet sich der Blick vor allem auf die Hauptfiguren. Dabei ist es doch spannend, auch einmal die Ränder zu betrachten. Dieses Mal im Fokus: die Figur des großen Bruders, die in dem feinfühligen Drama „Close“ von Lukas Dhont auch ohne große Worte zu einer wichtigen Stütze wird.

Standfoto aus Close
"Close" (c) Pandora Film

„Close“, ganz nah sind sich die dreizehnjährigen Freunde Léo und Rémi, von Kindesbeinen an. Ganz selbstverständlich innig ist ihre Beziehung, die erst durch den kritischen Blick der Mitschüler*innen an der neuen Schule ihre Unschuld verliert. „Ihr seid irgendwie enger als beste Freunde“, unterstellt man ihnen. Das stimmt insofern, als sie wie Brüder sind. Die Unzertrennlichen sind in beiden Familien als vollwertige Mitglieder integriert. Rémis Mutter nennt Léo ihren Herzenssohn, was ihn und Rémi sehr passend zu Herzensbrüdern macht. Damit kann der „echte“ Bruder im Film nicht mithalten: Charlie, Léos etwa siebzehnjähriger Bruder, ist eine Nebenfigur, die das Familienensemble abrundet und meistens im Hintergrund bleibt.

Wie im echten Leben

Die Figur des älteren Bruders – generell älterer Geschwister, hier ist es eben der Bruder – kann unterschiedlichste Funktionen innehaben: Als Vorbild, Held, Beschützer, Anführer, als Verbündeter auf Augenhöhe und vertraute Ansprechperson, wenn Eltern/Erwachsene ungeeignet oder nicht verfügbar sind. Er kann auch Konkurrent sein oder Antagonist, ein Big Brother, der unterdrückt und piesackt, um seine altersbedingte Überlegenheit auszuspielen. Wird seine Geschichte erzählt, verblasst der jüngere Bruder oft zum niedlichen bis witzigen Sidekick, und der Teenagerbruder ist genervt vom „Kleinen“. Also alles wie im richtigen Leben.

Charlie hätte ein typischer Antagonist sein können, der sich über die Freunde Léo und Rémi lustig macht, vielleicht eifersüchtig auf den „anderen Bruder“ ist und neidisch auf deren eingeschworene Gemeinschaft. Regisseur Lukas Dhont hat gut daran getan, ihn nicht als kontrastierenden Gegenspieler anzulegen. Charlie ist freundlich, neckt Léo auch mal. Miteinander zu tun haben sie am ehesten bei der gemeinsamen Arbeit in der Familiengärtnerei. Ansonsten lebt Charlie in seiner eigenen Welt, die sich gerade um die bevorstehenden Prüfungen zum Schulabschluss dreht.

Großes Vertrauen und stiller Trost

Doch dann, etwa in der Mitte des Films, kommt es zur Tragödie, in der Léo alles verliert. Mit diesem Wendepunkt gewinnt Charlie an Bedeutung für Léo, ohne sich dafür groß zu verändern. Ebenso unaufdringlich wie zuvor entpuppt sich Charlie nun nicht bloß als der ältere, sondern der große Bruder, empathisch und liebevoll. Er gibt Léo Raum, ist aber zur Stelle, wenn es darauf ankommt, und kann auch körperliche Nähe zulassen. Ob auf dem Moped, wo Léo ihn fest umarmt, oder auf der Ladefläche des Lasters, wo die Brüder eng nebeneinander sitzen, erschöpft von der Arbeit auf den Blumenfeldern, ihre Köpfe aneinandergelehnt. Worte sind hier gar nicht nötig, um zu vermitteln, welche Stütze Léo in seinem Bruder hat.

Das große Vertrauen zwischen den beiden zeigt sich auch in einer berührenden Schlüsselszene: Als Léo sich nachts, schlaflos vor Trauer, Schmerz und Schuldgefühlen, zu Charlie ins Bett legt, scheucht dieser ihn nicht weg. Auf Léos bange Fragen antwortet Charlie ehrlich: „Ich weiß es nicht“. Er nimmt seinen jüngeren Bruder ernst, speist ihn nicht mit erwachsenen Trostphrasen ab. Charlie gegenüber kann Léo aussprechen, dass er Rémi vermisst. Wenn Charlie daraufhin seinen Arm um ihn legt, erinnern wir uns daran, dass dies einst die Schlafpose von Léo und Rémi war.

Charlie kann Rémi nicht ersetzen; das will und muss er auch nicht. Am Ende des Films ist wieder Sommer: In einer unbeschwerten Szene sehen wir Léo erstmals wieder lachen. Mit ihm lacht Charlie, das große Bruderherz.

Zurück