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Interviews | | von Holger Twele

„Was andere vielleicht für real halten, war inszeniert und umgekehrt.“

Interview mit Veera Lapinkoski über "The Magic Life of V"

In „The Magic Life of V“ porträtiert der finnische Regisseur Tonislav Hristov eine junge Frau, die sich nach einer traumatisch erlebten Kindheit viele Jahre lang in Live-Rollenspiele flüchtet, um zu überleben. Ein Gespräch mit der Protagonistin Veera Lapinkoski anlässlich der Aufführung des Hybridfilms, im dem Realität und Fiktion, Traum und Wirklichkeit, Schein und Sein, Rollenspiel und Identität zu einem homogenen Ganzen verschmelzen, im Rahmen der 14plus-Reihe auf der Berlinale 2019.

The Magic Life of V / (c) Berlinale

Was hat dich dazu bewogen, als Protagonistin an diesem Film mitzuwirken?

Ich bin dem Regisseur bei der Premiere seines Films „Love & Engineering“ begegnet und war von seinem Film sehr getan. Als er mir vorschlug, einen Film über mich und meine Geschichte zu drehen, war ich fest davon überzeugt, dass ich ihm vertrauen kann und wir gemeinsam daran arbeiten werden. Ich hatte also Mitsprache darüber, was wir zeigen würden, und wollte auch unbedingt, dass mein Bruder mitspielt, dem ich mit diesem Film ebenfalls helfen wollte. Es gab also eine ganze Reihe von Gründen für mich, den Film zu machen.

Hast du den Regisseur gefunden oder er dich?

Ich bin ihm durch einen gemeinsamen Freund begegnet, der im Dokumentarfilm „Love & Engineering“ mitwirkt und mich zur Premiere des Films mitgenommen hat. Dort habe ich mich mit Toni(slaw) unterhalten und es stellte sich heraus, dass er sich für Videospiele interessiert. Wir haben dann über all dieses Zeug geredet, vor allem auch über Live-Rollenspiele, die ihn besonders interessierten, deren Funktionsweise ihm aber noch nicht ganz klar war. Auf diese Weise hat er von meiner Geschichte erfahren und wollte unbedingt einen Film über mich machen. Das war für mich sehr überraschend, denn ich hatte bisher nicht gedacht, dass ich und mein Leben etwas Besonderes wären. Es war allein seine Idee.

Interessierst du dich noch für Live-Rollenspiele und was bedeuten sie dir?

Sie bedeuteten mir viel und mein Selbsterfahrungstrip war nicht gerade angenehm, aber das ist jetzt überstanden. Sie waren für mich der einzig mögliche Ausweg, um mich aus der Dunkelheit und Zurückgezogenheit zu befreien. Ich konnte auf diese Weise Menschen treffen und eine Beziehung mit ihnen eingehen in einem Umfeld, in dem ich nicht ich selbst sein musste. Ich konnte sein, wer oder was ich wollte. Das war sehr wichtig für mich und hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin. Leider habe ich für solche Spiele seit etwa anderthalb Jahren keine Zeit mehr, weil ich in Großbritannien auf einer Schauspielschule eine Ausbildung mache. Das ist auch eine Art Rollenspiel, aber in der realen Welt des Theaters. Nach dem Film hatte ich keine Gelegenheit mehr, an Life-Rollenspielen teilzunehmen. Aber ich würde das gerne wieder machen, aus reinem Spaß, nachdem ich zu mir gefunden habe und ich mich nicht mehr ausprobieren muss, mich sicher fühle und zufrieden. Es geht mir jetzt gut und ich bin kaum mehr depressiv, selbst wenn ich mich innerlich manchmal noch unsicher fühle. Ich habe herausgefunden, dass ich wirklich schauspielern kann, gut darin bin und das fortsetzen möchte.

Der Film besteht aus einer Mischung aus dokumentarischen Elementen und inszenierter Realität (scripted reality). Was davon ist Realität und was Fiktion?

Das kann ich auch nicht genau sagen. Was andere vielleicht für real halten, war inszeniert und umgekehrt. Die Live-Rollenspiele waren am ehesten inszeniert, denn wir mussten uns darauf vorbereiten. Wir mussten die Organisator*innen dieser Spiele natürlich um Erlaubnis fragen, was wir filmen durften und was nicht. Aber sie sind auch wieder nicht inszeniert, denn alles, was dort passiert ist, war spontan und geschah aus dem Augenblick heraus. Wir haben aber deutlich gemacht, dass wir zu einem Rollenspiel gehen, auf das wir uns vorbereiten mussten.

Der Film lief zuerst auf dem renommierten Sundance-Festival. Dort wurde kritisiert, der Regisseur habe dich benutzt und für seine Zwecke missbraucht. Wie stehst du dazu?

Ich sehe das überhaupt nicht so. Ich habe diese Kritik im Sundance-Pressespiegel zwar gelesen – aber den Film habe ich erstmals hier in Berlin gesehen und hatte vorher keine Ahnung, wie ich darin wirke. Als ich ihn dann wirklich gesehen habe, mochte ich es nicht, mein eigenes Gesicht zu sehen, aber es hat mir sehr gefallen, dass er ganz anders ist als Reality-TV, sehr empfindsam. Er respektiert alle Menschen und Charaktere, er zeigt meinen behinderten Bruder auf wirklich nette Weise, er ist verspielt, lustig und auch ein wenig traurig. Ich kann die Kritik daher in keiner Weise nachvollziehen, der Film ist wirklich liebenswert, nett und schön geworden und hat überhaupt nichts Dramatisches wie Reality-Shows an sich. Er ist sehr einfach und direkt und das mag ich sehr. Und er hat sehr viel mit meinem wirklichen Leben zu tun.

Es erforderte sicher Mut, sich so offen im Film zu zeigen. Würdest du das noch einmal machen?

Es war eine wirklich gute Erfahrung, die ich gerne wiederholen würde. Ich bin mir aber nicht sicher, ob mein Leben so viel hergibt, um darüber einen zweiten Film zu machen. Aber wenn Toni(slaw) mich plötzlich fragen würde, ob wir einen zweiten Teil machen sollen, würde ich ihm wohl vertrauen und zusagen: Ja natürlich, es war eine schöne Erfahrung, warum nicht? Aber ich glaube nicht, dass das passiert. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese ganzen Probleme, die ich beispielsweise in meiner Kindheit hatte, daher rühren, dass wir uns verstecken und bestimmte Dinge nicht an uns heranlassen wollen. Dann werden wir depressiv oder alkoholsüchtig wie etwa mein Vater, der es nicht schaffte, sich nach außen hin zu öffnen. Er war sehr kreativ, er konnte wie schon sein eigener Vater gut zeichnen und war Musiker. Aber er konnte dieses Leben nicht wirklich leben. Die Familie wuchs ihm über den Kopf, er wurde depressiv und fing an zu trinken. Ich möchte auf keinen Fall so werden wie er. Ich möchte mich öffnen, genau hinsehen, analysieren und andere Menschen einbinden, falls das hilfreich ist.

War es schwierig, deinen Bruder, deine Mutter, den Psychologen und insbesondere den Vater zur Mitarbeit am Film zu bewegen?

Bei meinem Bruder gar nicht, er ist wunderbar und ein richtiger Schauspieler. Er mag es, im Mittelpunkt zu stehen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Denn das wurde ihm sein ganzes Leben lang von der Gesellschaft verwehrt. Wir neigen dazu, Menschen mit Behinderungen aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen. Sobald er eine Gelegenheit bekommt, auf sich aufmerksam zu machen, fühlt er sich wunderbar, er mag das sehr. Daher war es kein Problem, ihn für den Film zu begeistern. Meine Mutter war anfangs etwas zurückhaltend, aber sie unterstützt mich sehr und hat verstanden, dass ich diese Reise antreten musste und der Film mir, meinem Bruder und anderen dabei helfen würde, sich von etwas Belastendem zu lösen. Der Psychologe hatte keine Probleme damit, zumal er durch andere Behandlungsgespräche auch schon Erfahrung darin hat, gefilmt zu werden. Eigentlich hatte ich erwartet, dass mein Vater nicht einverstanden sein würde. Ich war dann sehr überrascht, dass er doch zusagte. Das Treffen mit ihm wurde so gefilmt, wie es auch stattgefunden hat. Ich war überwältigt, plötzlich vor jemandem zu stehen, der 15 Jahre meines Lebens so starken Einfluss auf mich hatte. Es war fast unwirklich, aber ich bin sehr froh, dass wir es gemacht haben.

Bist du deinem Vater nach den Dreharbeiten noch einmal begegnet?

Nein, leider nicht, aber ich war offen dafür. Man sieht das nicht im Film, aber wir hatten damals eine längere Diskussion und sprachen auch darüber, wie wir unsere Beziehung in Zukunft verbessern könnten. Aber dann fing er wieder mit dem Trinken an und verhielt sich so, wie ich es weder für mich noch für meinen Bruder gut finde. Daher haben wir die Beziehung leider wieder abgebrochen. Vermutlich ist er schon etwas zu alt, um sich noch einmal ändern zu können. Ich habe zumindest offenen Herzens versucht, die Dinge zu klären, aber er konnte das offenbar nicht.

Inwiefern hat dieser Film dein persönliches Leben beeinflusst und verändert?

Eigentlich hat sich gar nicht so viel verändert, zumindest nicht unmittelbar durch den Film und die Dreharbeiten. Dennoch hat sich etwas entwickelt. Ich bin beispielsweise Menschen begegnet, die mir bei meinem beruflichen Werdegang behilflich sein können. Ich habe von angesehenen Künstler*innen sehr viel positives Feedback erhalten. Das ist für mich alles sehr aufregend. Und natürlich weiß ich, dass nicht alle Zuschauer*innen etwas mit dem Film anfangen können. Aber ich wollte ihn machen und wusste auch, dass er irgendwo zwischen Spiel- und Dokumentarfilm angesiedelt sein würde. Nicht jeder ist dafür aufgeschlossen, aber er ist gut gemacht und einige werden ihn mögen.

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