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Interviews | | von Holger Twele

„Kinderfilme haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern“

Stefan Westerwelle über seinen Film „Kannawoniwasein!“

Mit „Matti & Sami und die drei größten Fehler des Universums“ (2018) hat er einen Kinderfilm gedreht, mit „Into the Beat“ (2020) einen Jugendfilm. Auch mit seinem neuesten Werk bleibt der Regisseur Stefan Westerwelle Filmen für das junge Publikum treu: Für die Literaturadaption „Kannawoniwasein!“, die am 17. August 2023 im Kino anläuft, wurde er beim Internationalen Kinder- und Jugendfilmfestival Zlín im Juni sogleich mit dem Golden Slipper ausgezeichnet, dem Preis der Hauptjury für den besten Kinderfilm. Holger Twele hat sich wenige Tage später im Rahmen des Kinder-Medien-Festivals „Goldener Spatz“ am 8. Juni 2023 in Erfurt mit Stefan Westerwelle unterhalten – natürlich über „Kannawoniwasein!“, aber auch über sein Selbstverständnis als Kinderfilmregisseur und Kinderfilme ganz allgemein.

Foto mit Stefan Westerwelle am Set von "Kannawoniwasein!"
"Kannawoniwasein!" (c) Lieblingsfilm, Sad Origami, Jens Hauspurg

Sie haben bereits mehrfach mit der Produktionsfirma Lieblingsfilm zusammengearbeitet. Hat sich auch die Regie für „Kannawoniwasein!“ daraus ergeben?

Mit Lieblingsfilm arbeite ich seit 2017 zusammen, das ist jetzt der dritte Film und selbstverständlich hat sich da längst ein großes Vertrauen entwickelt. Dadurch habe ich viele Freiheiten und kann Vorschläge machen, es auch mal anders zu versuchen. Gerade bei diesem Film bestand großer Konsens darin. Wir wollten keinen knallbunten Kinderfilm machen, sondern die Kinder ein bisschen herausfordern. Das gilt nicht nur für die beiden Hauptfiguren, die etwas mehr in die Tiefe angelegt wurden. So haben wir auch Szenen gedreht, in denen mehrere Minuten lang nur Stille herrscht. Das wirkt cooler, gerade im Vergleich zu solchen knallbunten Kinderfilmen, in denen eine Plastikwelt im Glauben aufgebaut wird, dass Kinder gerade das mögen würden. Diese erleben Gefühle genauso intensiv wie Erwachsene. Warum zeigt man das dann nicht?

Was reizt Sie so sehr an Themen für Kinder- und Jugendfilme?

Da, wo man landet, soll man seine Zelte aufbauen. Es macht mir großen Spaß, mit Kindern zu arbeiten. Das ist ein anderes Arbeitsverhältnis als mit Erwachsenen, es ist direkter und innerlicher. Und dann glaube ich, dass Kinderfilme einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben. Es geht vor allem darum, Mut zu machen und Selbstvertrauen zu entwickeln. Bei „Kannawoniwasein!“ geht es vor allem um das Recht, geliebt zu werden. Diese Information ist wichtig für Kinder.

Ist Deutschland im Bereich Kinderfilm gut aufgestellt oder hinkt es anderen Ländern hinterher?

Es ist keine Neuigkeit, dass sich die Deutschen immer sehr bemühen, aber beispielsweise den skandinavischen oder niederländischen Filmen nachhinken, die etwas unprätentiöser an Themen herangehen und ernsthafter mit den Gefühlen der Kinder umgehen. Aber es verändert sich auch in Deutschland ein bisschen. Es gibt dennoch ein großes Feld, das hier noch zu bestellen ist mit ‘erwachseneren‘, mit cooleren und ernsthafteren Ansätzen. Auch im Bereich der Diversität gibt es Nachholbedarf.

Welche Themen sind Ihrer Auffassung nach heute im Kinderfilm besonders aktuell und relevant?

Im Moment hier in Erfurt ist es beispielsweise „Der Pfad“, der die Kinder sehr beschäftigt. Für mich sind es mehr die universellen Themen: Wo gehöre ich hin? Werde ich geliebt? Bin ich so gut, wie ich mich fühle? Darf ich etwas anderes machen? Etwas vielleicht, was die Eltern nicht wollen? Das sind zeitlose und zugleich sehr aktuelle Themen und die einzigen Fragen, die wirklich relevant sind.

Filmstill aus Kannawoniwasein!
"Kannawoniwasein!" (c) Lieblingsfilm, Sad Origami, Lucian Hunziker

„Kannawoniwasein!“ entstand nach einer literarischen Vorlage. Haben solche Filme immer noch größere Chancen auf dem Kinomarkt als originäre Stoffe?

Das hängt davon ab, wie sich das Buch verkauft hat. Bei Bestsellern wie „Die Schule der magischen Tiere“ ist es ganz bestimmt so, bei Vorlagen aus dem mittleren Segment, zu denen ich auch „Kannawoniwasein!“ zähle, ist es genauso schwer wie bei originären Stoffen. Es ist immer die Frage, wie stark etwas präsent ist und wie groß das Budget ist, das man zur Verfügung gestellt bekommt.

Haben Sie sich weitgehend an die Vorlage gehalten?

Man kann keinen Roman verfilmen, ohne ihn in Bezug auf die filmische Struktur und die Konzentration auf ein klares Thema zu ändern. Im Verlauf des Produktionsprozesses kann ich oft gar nicht mehr genau sagen, was hinzugekommen ist oder schon vorhanden war. Im Roman ist es das große Ziel der beiden Kinder, ans Meer zu kommen. Aber es gibt im Roman den Sexshop nicht und auch die Dialoge auf dem Hochsitz gibt es dort nicht. Ich habe auf diese Weise versucht, noch stärker auf das Thema zu fokussieren. Die beiden dänischen Touristen kommen allerdings bereits im Roman vor.

Wie haben Sie die Kinderdarsteller*innen gefunden?

Wir haben da eng mit einer Casterin zusammengearbeitet, die uns eine ganze Reihe unterschiedlicher Charaktere vorgestellt hat. Unter ihnen war auch Miran Selcuk, der als einzige der Kinder intuitionsbegabt war. Und Lotte Engels hat mich unglaublich beeindruckt durch ihren Arbeitswillen. Sie will unbedingt Schauspielerin werden und tut alles dafür. So einer darf man die Chance nicht verwehren und sie hat im Film auch ihr Können gezeigt. Bei den Dreharbeiten in Tschechien war sie sogar das Hauptthema.

Ist es leichter, mit unerfahrenen Laiendarsteller*innen zu arbeiten, oder sind Filmerfahrungen von Vorteil?

Der Vorteil bei Filmvorerfahrungen ist, dass die Kinder die ganzen Abläufe bereits kennen und nicht unsicher sind beim Set. Ich persönlich bevorzuge es, mit Kindern zu arbeiten, die bei einem anderen Film nicht schon etwas einstudiert haben, was ich nicht will. Lieber sind mir die Experimente. Auch die Offenheit ist eine ganz andere.

Hatten die beiden jungen Hauptdarsteller*innen denn auch Freiraum für eigene Improvisationen?

Sie wussten, dass einige Szenen besonders wichtig sind und sie nicht vom Drehbuch abweichen durften. Aber sie hatten auch den Freiraum für kleine Veränderungen. Das war ein Lernprozess für sie. Erst im letzten Drittel der Dreharbeiten haben sie sich getraut, Sachen auch mal anders zu machen oder ein anderes Wort zu finden.

Filmstill aus Kannawoniwasein!
"Kannawoniwasein! (c) Lieblingsfilm, Sad Origami, Jens Hauspurg

Insbesondere die beiden Polizisten werden etwas einfältig dargestellt. Das ist nicht selten bei Kinderfilmen der Fall. Warum haben Sie das ähnlich gemacht?

Ich weiß, dass es diese Kritik immer wieder gibt. Aber wie sollen die Erwachsenen denn sein, wenn man einen Film aus Kinderperspektive drehen will? Kinder sehen das anders und es ist eine reine Erwachsenenperspektive, die bei dieser Kritik zum Tragen kommt. Wir haben den Film in Augenhöhe der beiden Kinder gedreht. Und wenn sie es schaffen, wirklich ans Meer zu kommen, dann ist der Erwachsene, der ihnen erzählt, das klappt nicht, natürlich verzerrt und wirkt komisch. Aus der Sicht von Erwachsenen ist das, was die Kinder machen, total absurd. Aber aus der Perspektive von Kindern dürfen Erwachsene eine solche Verzerrung haben. Wenn wir die Kinder als Publikum auf die Seite unserer Filmfiguren bekommen wollen, dann müssen die Erwachsenen etwas lauter und greller sein. Was für ein Effekt würde denn entstehen, wenn die Erwachsenen alle liebevoll und verständnisvoll wären? Leider achten Erwachsene viel zu stark darauf, wie sie selbst dargestellt werden, und wenn ihnen das nicht passt, meckern sie.

Und wie stehen Sie zu den nackten Dänen im Film, was Kinder vielleicht nicht so gerne sehen?

Da kann ich nur darauf antworten, dass Kinder sich auch nicht gerne gruseln und trotzdem finden sie es toll, sich im Kino etwas zu gruseln. Genau da setzt unser Film „Kannawoniwasein!“ an und in diesem Punkt bin ich leidenschaftlich. Die ganze Kinderfilmbranche will immer Filme auf Augenhöhe der Kinder machen. Aber was genau heißt das? Sich runterbeugen auf die Höhe der Kinder und sich auf eine andere Ebene begeben? Oder sollen kleine Kinder etwa die Perspektive von Erwachsenen einnehmen? In Zlín und auch hier in Erfurt war zu spüren, dass der Rhythmus des Films zwischen Spannung und Entspannung funktioniert. Die Kinder bekamen rote Wangen und sind voll mitgegangen. Und dann kommen Erwachsene daher und behaupten, der Film verwende Klischees. Diese Erwachsenen sollten vielleicht etwas genauer hinschauen. Dann würden sie merken, dass der Film sehr subtil mit Diversität umgeht, ganz unprätentiös. Wir haben einen türkischstämmigen Jungen, wir haben eine Mutter, die sich für eine Frau als Partnerin entschieden hat, und wir haben eine Rocker-Präsidentin. Und dann stört man sich, dass zwei Dänen etwas klischiert dargestellt wären? Ich finde es übrigens toll, dass Sie solche Fragen stellen, denn dadurch habe ich die Möglichkeit, meinen Standpunkt deutlich zu machen.

Filmstill aus Kannawoniwasein!
"Kannawoniwasein!" (c) Lieblingsfilm, Sad Origami, Jens Hauspurg

Dann kommen wir gleich auf Leslie Malton als Hackmack-Rockerin zu sprechen. Wie wichtig sind solche Brechungen der Figurendarstellung im Kinderfilm?

Sie sind für Kinder meines Erachtens nach unfassbar wichtig. Wir reden nicht nur über den Begriff Diversität sondern auch über den Begriff Repräsentation. Wenn wir Kindern begreifbar machen wollen, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe gleich schlau sind, oder Frauen und Mädchen das Gleiche machen können wie ein Junge oder ein Mann, dann muss man mit diesen Brechungen arbeiten. Daher haben wir uns entschieden, diese Rolle mit einer starken, respektablen Frau zu besetzen. Wir haben beim Casting auch darauf geachtet, dass auch Menschen vertreten sind, die als ‘nicht-weiß‘ wahrgenommen werden. Oft werden solche Aspekte selbstgefällig nur über die Nebenfiguren abgehandelt, das muss aber über die Hauptfiguren geschehen.

Werden Kinder und ihre Fähigkeiten im Kinderfilm – auch im Bereich der medialen Rezeption – immer noch zu sehr unterschätzt?

Aber natürlich! Es wird immer so getan, als wisse man, was Kinder wollen. Die Flachheit, die oft dabei herauskommt, finde ich wirklich erschreckend. Man will Kinder davon weg kriegen, sich nur mit Social Media zu beschäftigen und sich selbst darzustellen, aber man macht genau dieselben Fehler wie in der Vergangenheit.

Sie erwähnten im Presseheft, dies sei „ein Kinderfilm auch für Erwachsene“. Können Sie das bitte noch genauer erklären?

Ich hatte eingangs schon erwähnt, dass Kinderfilme die Aufgabe haben, sie zu unterstützen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Sie sollen darauf vertrauen können, dass die großen Fragen des Lebens für sie beantwortet werden können. Wir als längst Erwachsene sind in den Nachkriegsgenerationen mit solchen Fragen aufgewachsen, die uns aber niemals beantwortet wurden. Daher stellen wir uns immer noch dieselben Fragen, auf deren Antwort die Kinder vergeblich warten. Daher kann auch ein Kinderfilm, der das wenigstens versucht, einem Erwachsenen Mut machen.

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