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Interviews | | von Horst Peter Koll

„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man Konflikte auch leise erzählen kann“

Ein Werkstattgespräch mit Bernd Sahling über seinen neuen Kinderfilm „Ab morgen bin ich mutig“ (2025)

Eine Geschichte über das Verliebtsein hat Bernd Sahling gedreht, angesiedelt am schmalen Rand zwischen Kinder- und Jugendfilm. Sein Film ist außergewöhnlich, weil er so alltäglich ist. Er berührt, ist leise – und wirkt vor allem sehr echt und sehr ehrlich. Herr Sahling, wie haben Sie das gemacht? Ein Werkstattgespräch mit dem Regisseur, der im deutschen Kinderkino beständig seinen ganz eigenen Weg geht.

Foto von Bernd Sahling
Bernd Sahling bei den Dreharbeiten zu "Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling

Mit „Ab morgen bin ich mutig“ glückte Regisseur Bernd Sahling ein rarer Höhepunkt des deutschen Kinderfilms: fantastisch ohne Fantasy, abenteuerlich trotz Alltag, mitreißend dank charmanter Kids, denen der Film respektvoll auf Augenhöhe begegnet. Statt auf äußere Effekte oder dramatisch aufgesetzte Konflikte setzt er auf die Gedanken und Gefühle, Wünsche und Hoffnungen seiner jungen Protagonist*innen. Dass dies so überzeugend gelingt, ist eine kleine Sensation – und leider nicht selbstverständlich für einen Kinderfilm, der heute meist eher kunterbunt und turbulent daherkommt. Im Mittelpunkt steht der zwölfjährige Karl, hinreißend gespielt vom jungen Jonathan Köhn, der die Handlung fast schon allein trägt. Karl geht in die sechste Klasse und ist in seine Mitschülerin Lea verliebt. Doch wie soll er sich ihr offenbaren? Zumal Lea fast einen Kopf größer ist als er!

Bernd Sahling ist einer der wichtigsten deutschen Regisseure von Kinder- und Jugendfilmen. Er volontierte im DEFA-Studio für Spielfilme, war Regieassistent von Rolf Losansky, Hannelore Unterberg und Helmut Dziuba, studierte Regie an der HFF „Konrad Wolf“. Sein Spielfilm „Die Blindgänger“ (2004) erhielt den Deutschen Filmpreis, „Kopfüber“ (2012) war für den Europäischen Filmpreis nominiert. Hier wie auch in seinen dokumentarischen Kurzfilmen erzählt Sahling lebensnahe, betont unaufgeregte und doch tief einprägsame Geschichten.

Filmstill aus Ab morgen bin ich mutig
"Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling, Zeitgeist Filmproduktion

Lieber Bernd, magst Du eigentlich die Filme von Eric Rohmer?

Es ist lange her, dass ich sie gesehen habe. Aber ja, ich war damals sehr berührt. Es ist aber tatsächlich schon lange her.

Ich frage, weil ich bei „Ab morgen bin ich mutig“ immer mal wieder an Rohmer denken musste, vor allem seinen Jahreszeiten-Zyklus. Da geht es auch um die Liebe und ihre Widersprüchlichkeit, ums Suchen und Ausprobieren, was nie spektakulär, eher beiläufig und gerade deshalb ungemein sympathisch ist, sodass man den jungen Menschen über Stunden und Tage zuschauen möchte. Das ging mir bei deinem Film ähnlich, und auch wenn die Figuren hier weit jünger sind, gibt es diese fast märchenhafte Heiterkeit. Du betreibst auf vergleichbar liebevolle Art und Weise eine Vermessung der Welt.

Also, das würde ich jetzt als zu groß betrachten, so gehe ich da auch nicht heran. Ich arbeite mit Kindern und Jugendlichen viel in Filmwerkstätten, und bei dieser Nebenarbeit für einen Regisseur ist mir vieles begegnet, aus dem Geschichten entstanden sind. So habe ich vor vielen Jahren in Kyritz eine Filmwerkstatt mit Kindern und Jugendlichen von 12 bis 14 Jahren geleitet. Das war eine eher heterogene Gruppe, doch die hatten sich sehr schnell dafür entschieden, einen Dokumentarfilm zum Thema „Erstes Mal verliebt sein“ zu drehen. Das hat mich verblüfft. Auch, wie hart die Konflikte da schon waren, wie offensiv vor der Kamera darüber geredet und welche Energie sie dabei entwickelt haben. Etwa in einen Seniorenstift zu gehen, um alte Damen zu interviewen, daraus sind ganz wunderbare Gespräche geworden. Das hat mich nicht mehr losgelassen, aber es war noch keine Filmidee. Hinzu kam dann doch ein bisschen „Vermessung der Welt“, weil ich mich fragte: Was sind eigentlich diese zeitlosen Konflikte, die wir alle mit der ersten Liebe verbinden? Wobei diese erste Liebe eher selten gelingt.

So habe ich nach einem Konflikt gesucht, der einen ganzen Spielfilm trägt, und mich an meine eigene erste Liebe erinnert: Ich war lange Zeit in ein Mädchen verliebt, das deutlich größer war als ich, und dieses Problem ist wirklich zeitlos. Beim Casting zu „Ab morgen bin ich mutig“ habe ich Mädchen gefragt, ob sie heute noch Schwierigkeiten damit hätten, wenn der Junge kleiner sei. Sie haben gesagt, das sowas überhaupt nicht in die Tüte käme. Zeitlos muss so ein Konflikt allein schon deshalb sein, weil die Entwicklung eines Filmprojektes im Durchschnitt zehn Jahre von der Drehbuchidee bis zum Kinostart braucht. Da kann ich keine Konflikte verhandeln, die nach ein paar Jahren schon wieder uninteressant sind.

Die Hauptfigur Karl und seine Klasse führen ebenfalls eine Art Filmwerkstatt durch: Sie fahren ins Ferienlager und wollen dort einen dokumentarischen Film über das erste Verliebtsein drehen. Dafür wollen sie Passantinnen und Passanten, aber auch sich selbst gegenseitig befragen. Ihre Lehrerin warnt sie: „Das ist eine Projektwoche und kein Schulausflug.“ Wobei viele Kinderfilme heutzutage von vornherein als lustiger Schulausflug konzipiert sind. Was aber macht eine Alltagsgeschichte für ein junges Kinopublikum interessant? Das ist nicht so leicht, wie es die Lehrerin vor Beginn der Projektwoche sagt: „Denkt euch ein paar Fragen aus, und dann einfach sehr, sehr gut zuhören und nachfragen. Der Rest ergibt sich von allein.“ Und doch trägt genau diese Sorglosigkeit auch deinen Film. Allein der Beginn: Karl steht in der Dunkelkammer, konzentriert entwickelt er seine Fotografien. Es geht um analoges Arbeiten, den altmodischen, aus der Zeit gefallenen Vorgang des Bildersichtbarmachens. Damit ziehst du gleich zu Beginn eine zweite Ebene in die Handlung ein.

Ich habe grundsätzlich das Gefühl, dass wir wieder langsamer werden müssen, vor allem auch, dass der Alltag von Kindern wieder entschleunigt werden sollte. Langsamkeit hat etwas mit Aufnahmefähigkeit zu tun. Und mit Empfinden. Ich weiß, heute dreht sich alles um Digitalisierung, und als Filmemacher habe ich auch viel damit zu tun. Mir wurde in der Buchphase gesagt, dass Kinder das mit der analogen Fotografie nicht mehr machen. Was aber nicht stimmt: Gerade bei Schülerinnen und Schülern gibt es eine Renaissance des Analogen, ob das nun Schallplatten sind, die Polaroid-Fotografie oder auch das Fotolabor. Und warum wollen sie das? Weil es ihnen ermöglicht, ein Bild mit angemessener Langsamkeit entstehen zu lassen. Es ist nicht sofort da wie beim Handy, in der Dunkelkammer müssen sie warten können, bis sich ein Bild entwickelt. Dieser Vorgang hat tatsächlich einen Hauch von Magie.

Auch war mir wichtig, dass Karl das Hobby durch seinen Vater, der Fotograf ist und das ganze Equipment hat, vermittelt bekommen hat. Das ermöglicht Karl die dafür notwendige Geduld, prägt auch seine Besonnenheit. Er ist eher ein Junge, den nicht alle Mädchen sofort toll oder attraktiv finden. Das macht den Konflikt noch härter, was mein Ansatz von Anfang an war.

Filmstill aus Ab morgen bin ich mutig
"Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling, Zeitgeist Filmproduktion

Karl ist sanft, still, ein wenig introvertiert und doch überraschend selbstbewusst. Er ist aufrichtig, freundlich, schlagfertig, eingebunden in Freundschaften und hat mit Tom einen tollen älteren Bruder. Das sind viele Dinge, die man bereits im Vorfeld bedenken muss. Wie bist du mit solchen Vorgaben beim Casting umgegangen?

Erstens hatte ich mit Beate Kurecki eine ganz hervorragende Casterin, die überall in Deutschland Casting-Aufrufe organisiert hat. Und dann arbeite ich ungern mit Kindern, die zuvor schon in drei oder vier Filmen gespielt haben. Einmal, weil ich nicht will, dass sie jeden Sommer Kinderarbeit machen. Und auch, weil ich nicht möchte, dass sie das, was der Regisseur des vorherigen Films gut fand, in meinen Film hineintragen. Bei mir lernen die Kinder vorab keine Texte, ich schicke ihnen auch keine Szenen zu. Wir treffen uns, ich erzähle ihnen etwas von dem, was passieren soll, und dann drehen wir das. Was nicht mit Improvisation verwechselt werden sollte. Ich suche die Kinder danach aus, wie sie diesen kurzen Moment verinnerlichen und es mir dann in ihrer Sprache, mit ihren Gesten und Bewegungen zurückspiegeln. Vielleicht ist der Satz, den sie sagen, nicht genau so, wie ich ihn geschrieben habe, aber doch sehr nah dran. Vor den Filmaufnahmen bekommen sie auch kein Drehbuch, ebenso wenig die Eltern, denn sie sollen nicht mit den Kindern üben. Wir lesen den Eltern die Filmgeschichte bei einem Kennenlerntreffen vor. Die Kinder wissen also nicht, was geplant ist, wenn sie am Drehort erscheinen. Sonst würden sie ohnehin die Nacht zuvor schlecht schlafen, weil sie vielleicht Angst haben oder aufgeregt sind.

Ich haben schon damals, als ich Regieassistent bei Helmut Dziuba war, erlebt, dass wir beim Casting schnell gesehen haben, wenn uns der richtige Junge oder das richtige Mädchen begegnen. Im allerglücklichsten Fall gibt es sogar zwei oder drei, und jede oder jeder von ihnen in der Hauptrolle würde eine andere Geschichte ergeben. Dann muss ich entscheiden, welche dieser Geschichten am nächsten an der ist, die ich erzählen will. Danach gehe ich noch einmal ans Drehbuch und schreibe die Details der Geschichte für den Jungen oder das Mädchen um, anstatt zu versuchen, sie für die Geschichte, die ich erzählen will, hinzubiegen. Das ist eine Art dokumentarisches Arbeiten im Spielfilm, weil ich mich weitgehend auf das Kind in einer Hauptrolle einlasse.

Wenn du dich auf das Kind einlässt, beginnt es zu agieren, zu interagieren und zu sprechen: In „Ab morgen bin ich mutig“ machen die Dialoge einen großen Teil aus. Der Film hat auch wunderschöne stille Momente ohne Gesprochenes, aber es gibt eben viele Gespräche, die bei dir in außergewöhnlicher Intimität geführt werden. Wobei man mitunter denkt: Das klingt jetzt für Kids fast schon zu elaboriert. Doch die Kinder tragen solche Momente souverän, und ist es anrührend, wie toll sie mit den Dialogen umgehen, so, als würden sie sich in ihrem Alltag genauso unterhalten. Womit ich wieder bei Eric Rohmer wäre, seiner beiläufigen Kunst des Miteinanderredens...

So etwas ist schwer zu erklären. Wir gehen bei den Dreharbeiten jeden Tag durch einen Tunnel und kämpfen um Authentizität. Genau das sagte kürzlich mein Kameramann Piotr Rosołowski, der viele Dokumentarfilme gedreht hat: „Eigentlich kämpfen wir jeden Tag um Glaubwürdigkeit.“ Genau das machen wir, wenn wir jeden Tag dafür arbeiten, dass das, was die Kinder vor der Kamera erleben, glaubwürdig erscheint. Und zwar in dem Sinne, dass es einen berührt. Wenn sich das Gefühl anschleichen würde, das Kind tut nur so, dann verliert sich der Film. Diese Glaubwürdigkeit ist schwer zu erreichen, denn gerade auch Kinder haben oft schlechte Tage. An denen sind sie nicht so gut, wie sie sein können, da hören sie dir nicht so zu, wie man es von ihnen gewöhnt ist. Sie sind abwesend, müde, vielleicht verliebt, und dann auch noch unglücklich, vielleicht in die Hauptdarstellerin. Solche Tage müssen wir dann verstecken, denn eine einzige unglaubwürdige Szene beschädigt den ganzen Film. Manchmal habe ich Szenen hinausgeworfen, weil ich meine Figuren nicht verraten wollte. Obwohl ich an ihnen hing, sie uns aber nicht gelungen erschienen.

Ich kämpfe immer wieder darum, dass wir zwei oder drei Reservetage haben, denn genau diese Tage kommen immer: Tage, an denen wir das, was wir drehen wollten, nicht drehen konnten. Doch diese zwei oder drei Reservetage sind nicht finanzierbar – wobei wir ja nicht mal die Tage haben, die wir brauchen, um normal zu drehen. Für „Ab morgen bin ich mutig“ hatten wir 33 Drehtage mit jeweils drei Arbeitsstunden der Kinder pro Tag. An sich können wir das gar nicht schaffen in dieser Zeit, da muss viel Glück dazukommen. Und ein Team, das schnell ist und viel zurücksteckt.

Foto von den Dreharbeiten zu "Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling
Bei den Dreharbeiten zu "Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling

Die Kinder in „Ab morgen bin ich mutig“ reden in einer sehr besonderen Art und Weise miteinander: Sie gehen auffallend höflich miteinander um und hören sich respektvoll zu, wenn sie sich befragen. Sie sind aufrichtig, ehrlich, zeigen Verständnis füreinander. Wohl nicht von ungefähr sagen sie nach den Interviews: „Vielen Dank für deine beziehungsweise Ihre Ehrlichkeit.“ Das könnte auch nach hinten losgehen und aufgesetzt wirken, tut es aber nicht! So etwas kann man Kindern doch gar nicht abverlangen, dass sie per se immer höflich miteinander umgehen…

Nein, das kannst Du nicht. Das war im Übrigen im Vorfeld auch mit ein Grund dafür, dass wir bei der Finanzierung des Films keinen Fernsehsender an Bord holen konnten. Oft kam das Argument: Die sind viel zu nett, und ein Junge, der so ist wie Karl, der würde doch gemobbt werden. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Ich bin oft in Schulen und eben auch bei den Filmwerkstätten mit Kindern zugange, und ich erlebe tatsächlich, dass sie mit viel Respekt und Höflichkeit miteinander umgehen. Deshalb bin ich zutiefst davon überzeugt, dass man Konflikte auch leise erzählen kann, wobei Kinder eben nicht fiese Säcke sind, die andere immerzu mobben. Ich glaube nicht an solche Figuren, ich glaube an Vielschichtigkeit, auch in kleineren Rollen, das ist mein Anliegen. Beispielsweise gibt es in Karls Klasse dessen Mitschüler Max. Das ist so einer, der gern der Clown ist, hin und wieder auch mal kräftig austeilt, aber dann, wenn er von den anderen vor der Kamera gefragt wird, ob er schon mal verliebt war, ganz ehrlich antwortet: „Ja, aber die wollte mich nicht.“ – „Und hast du dich dann wieder verliebt?“ – „Ja, aber die wollte mich auch nicht.“ Am Ende sagt das Mädchen, das ihn eigentlich gar nicht leiden kann: „Danke für deine Ehrlichkeit.“ Dies gilt im Übrigen auch für die Erwachsenen im Film: für die Lehrerin, die etwas von sich erzählt, den Sportlehrer, der etwas von sich preisgibt.

Es gibt noch mehr Erzählebenen, die sehr spannend sind. Eine hat mit einer behutsam dosierten Beigabe an Magie zu tun: Als Karl endlich über seinen Schatten springt und die von ihm angehimmelte Lea zu sich ins Fotolabor einlädt, ist sie von der Technik begeistert und ruft erstaunt: „Das ist ja wie Zauberei!“ Und Karl antwortet: „Irgendwie schon. Deshalb mache ich das auch...“ Magisch erscheint auch die Schusterei, in die Karl gerät, weil er im Fenster Turnschuhe mit Plateausohlen sieht. Der leicht mürrische Schuster überlässt sie ihm kostenlos, doch als Karl sie später zurückbringen will, ist der Laden geschlossen, scheint sogar verschwunden. War das auch eine Spontanidee, die beim Dreh entstand?

Nein, diese Szenen waren von Beginn an drin, aber sie waren riskant. Der Schuster hätte schnell zum Märchenonkel werden können, weswegen wir ihn nicht sonderlich freundlich angelegt haben, eher als einen Mann, den man nicht so einfach akzeptiert, weil er ruppig ist und nicht gestört werden will. Für die Schuhe haben wir lange überlegt, wie sie aussehen könnten, viele hielten die Idee sowieso für Quatsch und meinten, das könne nicht funktionieren. Wir haben mit dem Kostümbild lange überlegt, wie wir das machen. Und ob wir sie uns im Rahmen des Budgets überhaupt leisten können. Die Idee kam von mir. Ich hatte damals versucht, meinen etwas kleineren Wuchs mit höheren Schuhen auszugleichen. Am Ende ist so etwas eher albern, aber ich hatte es halt probiert. Es gehört durchaus Selbstbewusstsein dazu, solche Schuhe zu tragen, und das wollte ich auf Karl übertragen, dass er irgendwann den Mut findet, sie tatsächlich anzuziehen. Dann aber kommt Lea erstmal nicht, er zieht die Schuhe wieder aus, und ganz am Ende, sozusagen zum Neuanfang der Geschichte, trägt er sie wieder, und dann funktioniert es irgendwie. Zum Abschlussfest nach Ende der Dreharbeiten bekamen Piotr Rosołowski und ich jeweils einen dieser Schuhe mit den Unterschriften des gesamten Teams geschenkt. Der hat jetzt einen ganz besonderen Platz inmitten meiner anderen Preise.

Filmstill aus Ab morgen bin ich mutig
"Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling, Zeitgeist Filmproduktion

Ein anderes, inszenatorisch wichtiges Element sind die dialogfreien Szenen, in denen nur auf den ersten Blick nichts geschieht, sich aber doch viel ereignet: Es gibt so etwas wie eine Strategie der Blicke und Gegenblicke, wobei sich Karl in einer Fensterscheibe spiegelt und sich betrachtet, oder er mittels eines Spiegels nicht sich selbst, sondern jemand anderen betrachtet, in diesem Fall Lea. Das hat nie etwas Voyeuristisches, eher etwas sehr Zärtliches. Dann gibt es eine Testaufführung, bei der sich die Kinder das Material, das sie zuvor gedreht haben, gemeinsam im Rohschnitt ansehen. Die Kamera schaut in ihre Gesichter, fängt ihre Reaktionen ein, ihre Freude und ihren Spaß. So spiegelt sich immer wieder auch der Film im Film, lädt zur bewussten Wahrnehmung der filmischen Bilder und Abbilder ein.

Auch das stand so im Drehbuch, doch ob es mit dem Spiegel in der Klasse klappen würde, da war ich mir nicht so sicher. Am Ende hat es dann zum Glück funktioniert. Das erste Verliebtsein hat durchaus etwas mit Voyeurismus zu tun: Ich beobachte ein Mädchen, von dem ich fasziniert bin, und zwar immer dann, wenn ich denke, es bekommt meine Blicke nicht mit. Und dann beobachte ich mich selbst, frage mich, wie ich denn so rüberkomme, will die mich oder wenn sie mich nicht will, warum? Und dann bekommt Karl die Chance, Lea beim Tanzen mit anderen Mädchen zu fotografieren und kann zeigen, was er kann. Aber nun ist er inmitten all dieser tanzenden, sich durchaus erotisch bewegenden Mädchen und soll mit der Kamera ein Bild finden – und sich zugleich selbst ein Bild machen. Damit ist Karl überfordert. Für diese Momente haben wir ihm sein eigenes Musikmotiv gegeben, übrigens eingespielt von niemand Geringeren als Jürgen Ehle, dem legendären Gitarristen der Band „Pankow“. Dann wird Karl auch noch von seinem Bruder Tom angestachelt, der meint, viel Zeit bleibe Karl ja nicht mehr, wenn Lea die Schule wechselt: „Andere Schule, andere Jungs!“ Diese ständige Überforderung mit der ersten Liebe, das war so etwas wie ein Leitmotiv für mich.

Ohne zu spoilern: Du betreibst von Beginn an ein ausgefuchstes Spiel mit mehreren Handlungsoptionen. Sie alle haben etwas mit Überforderung zu tun, also nicht nur bei Karl oder Lea, sondern auch bei anderen, darunter bei Leas Freundin Clara. Oft vermittelt sich dies nur über Winzigkeiten, fast versteckten, kleinen Momenten, und auch hier gibt es wieder diese Dramaturgie der Blicke und der Nicht-Blicke, etwa, wenn jemand schnell wegschaut und so tut, als sei er mit etwas ganz anderem beschäftigt.

Ja, wenn man so etwas dank der tollen Kinder findet, dann ist das ein großes Glück für den Regisseur, denn dann hast du in ihnen wirkliche Partnerinnen und Partner. Gerade in Jonathan Köhn, der die Hauptrolle spielt, hatte ich einen Partner, wie ich ihn mir nicht besser hätte vorstellen können. Er hat über 33 Drehtage hochkonzentriert gearbeitet, das war wahnsinnig anstrengend für ihn und er wurde immer müder. Der letzte Drehtag war auch der letzte Ferientag. Deshalb meine ich, dass Kinder das nicht jeden Sommer machen sollten. Es ist anstrengend, nicht nur für uns Erwachsene, gerade auch für die Kinder. Hinterher hat mir Jonathans Vater eine E-Mail geschrieben, in der er sich dafür bedankt, wie sehr ich seinen Sohn erkannt habe und wie Jonathan sich über den Zeitraum der Dreharbeiten entwickelt hat. Letzteres haben mir andere Eltern der Darstellerkinder Tamino (Max) und Niklas (Hannes) auch beim Festival Goldener Spatz erzählt.

Foto von den Dreharbeiten zu "Ab morgen bin ich mutig"
Bei den Dreharbeiten zu "Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling

Zur schwebend leichten und doch komplexen Erzählung gehört nicht zuletzt der Umgang mit der Musik, besonders mit den Songs, die eine sehr wichtige Funktion einnehmen. Sie sind ausführlich zu hören, schaffen stimmungsvolle Momente, spiegeln – auch hier – das Geschehen und haben einen großen Anteil an der Erzählung. Die jugendlichen Musiker schreiben, spielen und singen ihre eigenen Songs, die Jüngeren sind ihre begeisterten Zuhörenden, und schließlich schreibt Karl seinen eigenen Song, in dem er seine Gedanken und Gefühle formuliert. Und schließlich sogar zulässt, dass diese sich einem größeren Publikum, also quasi öffentlich offenbaren. Die Songs sind konstitutiver Teil und verdichten höchst authentisch die Gefühlswelt.

Ich wollte von Anfang an, dass keine externe Komponistin oder externer Komponist diese Titel schreibt und wir eine Schulband finden, die diese Aufgabe übernimmt. Es war, auch hier, ein großes Glück, dass unser Musik Supervisor Jens Quandt die Schülerband „Reeb“ gefunden und mit ihr gearbeitet hat. Ich habe den Jungs erzählt, welche Musik wir in welchen Szenen im Film brauchen und sie haben dann alle drei Lieder geschrieben und eingespielt. Jens hat sie dabei ermutigt und ihnen die nötige Kraft gegeben. Ebenso hat er dafür gesorgt, dass unser Jugenddarsteller Darius, der Karls Bruder Tom spielt, Teil der Band wird. Die Band-Mitglieder haben ihn voller Wärme aufgenommen, sodass man von Anfang an glaubt, er habe schon immer in der Band mitgespielt und gesungen. Das aber war tatsächlich eines der gewagtesten Dinge, die ich in diesem Film gemacht habe. Was hätten wir denn tun sollen, wenn wir die Band doch nicht gefunden hätten? Es war ein heikler Prozess, und auch hier lief uns die Zeit davon. Sie läuft einem eigentlich immer weg und wir hatten erst wenige Tage vor Drehbeginn die drei Titel, die übrigens großartig sind.

Filmstill aus Ab morgen bin ich mutig
"Ab morgen bin ich mutig" (c) Bernd Sahling, Zeitgeist Filmproduktion

Letztlich war der Film in seiner Entstehung immer mal wieder bedroht, stand wegen des geringen Budgets und der geringen Drehzeit häufig auf der Kippe. Es hätte also jederzeit abstürzen können?

Na ja, unterm Strich erzählt sich das ganz einfach. Wir können ein bestimmtes Budget, das zum Drehen gebraucht wird, nur erreichen, wenn ein Fernsehsender in die Finanzierung involviert ist. Einige Fördereinrichtungen geben nur Geld, wenn auch ein Sender mit an Bord ist. Außerdem muss nachgewiesen werden, dass 20 Prozent der Finanzierung nicht von der Filmförderung kommt. Zwischendurch war das Projekt dann gestorben, nachdem unser erster Produzent drei Jahre vergeblich einen Sender gesucht hat und schließlich aufgeben musste. Irgendwann hat meine Agentur dann Markus Kaatsch von der Zeitgeist Filmproduktion in Berlin kennengelernt. Markus mochte das Drehbuch und hat entschieden, den Film zusammen mit seinen Mitgesellschafterinnen und -gesellschaftern zu produzieren. Er hat den Kontakt zum rbb hergestellt, wir haben zwei weitere Fassungen zusammen mit einer Redakteurin geschrieben. Doch dann kamen für die dritte Fassung Anfragen, bei denen wir beide gesagt haben, das ist nicht mehr unsere Filmgeschichte. Es sind jetzt immer noch Einfälle drin, die in den Gesprächen mit dem Sender entstanden sind, etwa dass Lea wegen des Diversitätsanspruchs eine person of color sein soll. Aber schließlich wollte sich auch dieser Sender nicht an dem Projekt finanziell beteiligen, und damit war die Möglichkeit, in Berlin-Brandenburg Filmförderung zu bekommen, Geschichte.

Schließlich wurde die Finanzierung doch noch möglich: Zur Zeitgeist Filmproduktion kam als Co-Produzent die Kölner Field Recording hinzu, und die Filmstiftung NRW steuerte ganz entscheidende Fördermittel bei. Das war ein Riesenschritt nach vorn, denn so viel Geld für einen Kinderfilm geben nur wenige Landesförderungen. Da an diese Förderung die Bedingung geknüpft ist, das Geld in Nordrhein-Westfalen auszugeben, war schnell klar, dass wir mit einem reduzierten Team aus Köln arbeiten, dort die Besetzung finden, dort drehen und Teile der Endfertigung machen. Bei der Vorbereitung war die sehr erfahrene Szenenbildnerin Karin Bierbaum als Location Scout dabei. Sie ist herumgefahren und hat Vorschläge gemacht, so auch für die Offene Schule Köln. Dort konnten wir in den Sommerferien drehen und bekamen alle Unterstützung. Für das Szenenbild selbst hatten wir Svenja Matthes und Daniel Arnold im Team, die beide am Anfang ihrer Laufbahn standen und viele Ideen eingebracht haben. Am Ende hatten wir zwar immer noch kein allzu großes Budget, und als Produzent musst du dann erst einmal den Mut aufbringen, mit lediglich zwei Förderungen loszulegen und einen Film herzustellen, der 33 Drehtage braucht. Wir waren oft unter Druck, mit dem Wissen, dass wir keinen misslungenen Drehtag nachholen können. Wenn es geregnet hat, habe ich die Szene über Nacht auf Regen umgeschrieben. Als Karls Stimme eines morgens weg war, habe ich die Szene mit einem Karl inszeniert, dem gerade die Stimme versagt und sein Bruder ihn fragt: „Was is’n mit deiner Stimme los?“ Es passte zufällig gerade in die Situation und ist sehr berührend geworden. Hätte natürlich auch anders kommen können.

Diese ständige Unsicherheit und das hohe Risiko haben wir die ganze Drehzeit mitgeschleppt. Am Ende wollten wir alle einen besonderen Film abliefern, bei dem man nicht sieht, dass wir mit einem kleineren Budget klarkommen mussten. Interessiert am Ende auch niemanden. Was zählt, ist die Qualität. Und die spricht sich gerade auf den vielen Festivals herum. Der Film berührt Kinder und Erwachsene gleichermaßen, vermutlich auf anderen Ebenen und an verschiedenen Stellen. Aber genau das habe ich mir immer gewünscht. Unserem wunderbaren Team ist ein Familienfilm im besten Sinne des Wortes gelungen. Ich kann mich nachträglich nur bedanken bei der Produktion und den verschiedenen Sparten für ihr Durchhaltevermögen, das Handwerk und die vielen Ideen.

„Ab morgen bin ich mutig“ wird nach zahlreichen Festivalauftritten am 23. Oktober 2025 von Real Fiction in Deutschland in die Kinos gebracht.

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