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Ich sehe was 2024-8: In der Schule

Unbarmherzige Erziehung

Schulen, Erziehungsheime und Internate im Kinder- und Jugendfilm als Orte der Demütigung, der Unterdrückung und des Grauens

von Christian Exner

Internate und Erziehungsheime, in denen junge Menschen nicht gestärkt, sondern gebrochen werden sollen, in denen es nicht um Bildung, sondern um Gefügigmachung und um Unterwerfung geht. Politisierte „Pädagogik“ von ihrer schlechtesten Seite also – auch davon wird in vielen Kinder- und Jugendfilmen erzählt, die damit zugleich einen Beitrag zur Aufarbeitung historischen Unrechts leisten.

Filmstill aus Napola
"Napola" (c) Constantin Film

Lernen ist sehr beglückend. Das Wachstum der Fähigkeiten und der Persönlichkeit zu erleben, ist die Basis für unser Dasein als gesellschaftliche Wesen. Es bedeutet, sich zu entfalten und seine Wirksamkeit zu erleben. Kultur und Bildung sind unser geistiges Gewand. Sie verbinden uns mit anderen Menschen. Lernen gelingt durch gezielt gesetzte Herausforderungen, die die Grenze zur Überforderung idealerweise nicht überschreiten. Es braucht dazu Partnerschaft, Vertrauen und Respekt. So sollte es sein. Doch es gibt auch ein Anti-Konzept der Pädagogik, genannt die „schwarze Pädagogik“.

Sie will Menschen gefügig machen, sie an Zwangssysteme anpassen oder sie wegen dem, was sie sind oder wie sie sind, pauschal ausgrenzen, diffamieren und unterdrücken. Die „schwarze Pädagogik“ hatte ihre große Zeit – wen wundert es - im Nationalsozialismus. Sehr gut veranschaulicht ist sie im Jugendfilm „Napola – Elite für den Führer“ (Dennis Gansel, 2004). Ein Schüler, der durch Bettnässen Schwäche zeigt, wird vom Schleifer mit dem sprechenden Namen Peiner (aggressiv und sinister dargestellt von Michael Schenk) gepeinigt, bloßgestellt und schwer gedemütigt. Die Jugendlichen sollen sich einer mörderischen Idee unterordnen: dem soldatischen Opfer für das Hitler-Regime. Die „schwarze Pädagogik“ ist eine Perversion und gilt als längst überwunden, auch wenn Spurenelemente dieses Konzepts zombiehaft durch unsere Gegenwart gespenstern.

Junge Menschen brechen

Menschen brechen, um sie gefügig zu machen. Auf diese kurze Formel lässt sich das Konzept der „schwarzen Pädagogik“ bringen, von dem auch das Jugenddrama „Freistatt“ (Marc Brummund, 2015) erzählt. Der Film schuf in Ansätzen ein Bewusstsein dafür, welche Strukturen aus dem Nazi-Regime über Jahrzehnte bis in das bundesrepublikanische Deutschland hinein wirkten. „Und wenn du nicht artig bist, kommst du ins Heim!“ – diese Drohung steht auf dem Filmplakat. Sehr treffend gewählt, denn in diesem einen Satz verdichtet sich ein erzieherischer Alptraum, der in den Kindheitserinnerungen der heutigen Senior*innen nachhalt. Denn „aufsässige“ Kinder und Jugendliche wurden nicht nur in Erziehungsheimen gebrochen. Selbst therapeutische Maßnahmen in sogenannten „Erholungsheimen“ gerieten zur Strafaktion. Kinder mit Fehlernährung oder Asthma wurden ohne ihre Eltern in seelenlose Heime „verschickt“, sie wurden kaserniert, schikaniert, teils misshandelt und sexuell missbraucht. Nicht alle – doch ein erschreckend hoher Anteil. Die pädagogischen Konzepte der Erziehungsheime und der Erholungsheime waren strukturell nicht grundsätzlich unterschiedlich. Erziehungsheime wie die Diakonie Freistatt, waren Straflager mit schwerer Zwangsarbeit. In der Schärfe der Sanktionierung von Jugendlichen waren sich übrigens die westdeutsche und die ostdeutsche Gesellschaft in Teilen nicht unähnlich. Ob Heim im Emsland oder Jugendwerkhof in Torgau – die Horror-Erfahrungen junger Menschen glichen sich. Zuletzt hat die Regisseurin und Autorin Sarah Neumann in ihrem Film „Jenseits der blauen Grenze“ (2024) daran erinnert, wie kurz der Weg von jugendlicher Unangepasstheit und kleinen Rebellionen zu einem Werkhof-Zwangsaufenthalt mit dem vorgeblichen Ziel der „sozialistischen Umerziehung“ war, was in der Realität in brutalen Maßnahmen mündete. Andreas, engster Freund des Schwimmtalents Hanna, interessiert sich in diesem Film mehr für Westmusik und Motorräder als für sozialistische Tugenden. Nachdem er seine Werkhofzeit abgesessen hat, ist er gebrochen und er hat mit seiner Gesellschaft gebrochen. Was ihm bleibt, ist nur die Flucht über die Ostsee in der Hoffnung auf ein freieres Leben.

Filmstill aus Freistatt
"Freistatt" (c) Salzgeber

Der Film „Freistatt“ liefert das BRD-Pendant, zeigt er doch, wie schnell ein nicht normgerechtes Verhalten Jugendlicher durch eine extrem repressive Heimerziehung bestraft wurde. Und dies selbst noch in den 1970er-Jahren, der Hochzeit des antiautoritären Zeitgeistes, der doch eigentlich für ein progressiv-liberales Laissez-faire stand. Das Heim, von dem hier erzählt wird und das es wirklich gab, war weit entfernt von einer sozialpädagogischen Hilfe. Es war ein Knast für Kinder, massive physische und psychische Misshandlung inbegriffen. Wolfgang, der Protagonist des Films „Freistatt“, ist über die Maßen unbeugsam. Seine Provokation besteht darin, dass er auf eine selbstzerstörerische Weise Schläge und Misshandlungen erträgt. Er ist immer bereit noch mehr einzustecken, ja er ermutigt seine Peiniger*innen sogar dazu und erwirbt sich dadurch bei Gleichaltrigen Respekt. Wenn sein Schwiegervater ihn ohrfeigt, dann kommentiert er: „Das konntest du schon besser.“ Die physische Gewalt geht nie von ihm selber aus, bis der Tag kommt, an dem eine Schwelle überschritten und Wolfgang unter Todesangst komplett gebrochen wird. Die Identifikation mit dem Aggressor beginnt zu greifen. Als Wolfgang aus dem Heim entlassen wird, ist er tatsächlich nicht mehr sozial- und gesellschaftsfähig.

Machtmissbrauch

Ein sadistisches Machtsystem stabilisiert sich selbst wie ein Perpetuum Mobile. Es züchtet sich die Missetäter*innen, die es vermeintlich bekämpft. Was Wolfgang am Ende mental das Rückgrat bricht, ist das Im-Stich-Gelassenwerden von seiner Mutter. Am Ende ist er, wie es im Song heißt, „a motherless child“. Noch schlechter dran ist nur sein Freund Anton, der Waise ist und um Wolfgangs Freundschaft wirbt. Anfangs durchaus mit Erfolg bis Wolfgang durch seine Leidensgeschichte in Gefühllosigkeit erstarrt. Das ist Antons Untergang.

„Freistatt“ entstand mit Unterstützung der v. Bodelschwinghschen Anstalten, die einen Beitrag zur Aufarbeitung der Heimerziehung leisten wollten. Kaum zu glauben, dass gerade dieser Umstand die Authentizität einer Handlung, die schwer zu ertragen ist, verbürgt. Der Regisseur des Films, Marc Brummund, beruft sich als Vorbild auf den Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ (Peter Mullan, 2002), der von einer ebenso erschütternden Entrechtung junger Mädchen in Irland erzählt und von der extrem engen Sexualmoral in der irischen Gesellschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren, wo eine ungewollte Schwangerschaft – und sei sie auch durch einen sexuellen Übergriff zustande gekommen – schwer bestraft wird. Mädchen und junge Frauen werden dem Orden der Magdalenen-Schwestern überantwortet. Nach außen hin betreiben sie eine Wäscherei. Doch das Heim ist ein menschenverachtendes Frauengefängnis, in dem gnadenlos erniedrigt, bestraft und ausgebeutet wird. Für die jungen Frauen gibt es keine Instanz der Gerechtigkeit, die sie anrufen können. Die unbarmherzigen Schwestern haben eine perfide Moral auf ihrer Seite. Vertuschungen, mit denen die christlichen Kirchen die Aufarbeitung ihrer Missbrauchs- und Gewalt-Historie behindern und verzögern, stehen im Gegensatz zu den Enthüllungen und Anklagen, die die Filmkultur schon früh in aller Deutlichkeit formulierte.

Filmstill aus Die unbarmherzigen Schwestern
"Die unbarmherzigen Schwestern" (c) Concorde

Abgeschnitten von der eigenen Kultur

Dies gilt auch für den Umgang mit indigenen Bevölkerungsgruppen, deren Kinder durch Internatssysteme wie etwa die Residential Schools in Nordamerika von ihrer Kultur abgeschnitten wurden. Den Anfang machte im Jahr 1989 der kanadische Film „Wo ich zu Hause bin“ (Bruce Pittman, 1989). Ziel der Schulen war es, die indigene Kultur zu zerstören, indem man die Kinder indigener Bevölkerungsgruppen ihrer Identität beraubte. Sie wurden buchstäblich in die Schulen entführt, wurden gezwungen, eine fremde Sprache zu sprechen, durften nicht mehr ihre eigenen Namen und ihre gewohnte Kleidung tragen, jegliche Bindung an ihre Kultur wurde gekappt – selbst ihre gewohnten Lieder durften sie nicht singen. Der Film betitelt das Verbrechen, dem sie zum Opfer fielen, als kulturellen Genozid. Daneben wurden die Kinder nicht selten Opfer eines weiteren Verbrechens. In der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs durch Lehrpersonal und Schulleitungen zeigen sich immer schrecklichere Abgründe je genauer die Geschichtsforschung hinschaut. Zuletzt wurden Massengräber in Schulnähe gefunden.

Durch welche Umstände Kinder starben oder in den Tod getrieben wurden, davon legt auch „Wo ich zu Hause bin“ Zeugnis ab. Dem fiktionalen Film gingen intensive Recherchen voraus. Er verdichtet in seiner Handlung reale Internatserlebnisse. In seinem Abspann heißt es, die letzten kanadischen Residential Schools in Kanada seien 1988 – im Jahr vor der Entstehung des Films also – geschlossen worden. „Wo ich zu Hause bin“ war ein Wegbereiter von Enthüllungen und von Schuldbekenntnissen. Wobei der Film bei seinen Figuren manche der Verantwortlichen in beinahe zu mildes Licht rückt. Da gibt es den Verhandlungsführer Taggert, der im Styling eines Indiana Jones mit dem Flieger unterwegs ist. Er lockt indigene Kinder mit dem Versprechen eines Flugabenteuers in seine Maschine, nur um sie zu kidnappen und in die Internate zwangseinzuweisen. Als er sieht, dass die Kinder unter Lebensgefahr aus diesen Internaten fliehen, beginnt er, seinen Job zu hinterfragen. Außerdem tritt die junge aufgeschlossene Lehrerin Kathleen Gwilliambury auf, die das Vertrauen des Mädchens Komi gewinnt. Ein Vertrauen, das die unerfahrene und ambitionierte Lehrerin nicht verdient hat, wie das Mädchen bitter erfahren muss.

Der Film stattet diese Figuren mit Gewissen und Skrupeln aus und streckt symbolisch eine Hand zum Verzeihen und zur Versöhnung aus. Im Zentrum des perfiden Systems, das vorgibt, die Kinder in eine christliche Welt zu holen, steht der Schulleiter Reverend Buckley, der zynische und ausgefuchste Repräsentant eines Machtapparats. Gespielt wird dieser Reverend von David Hemblen, der einige Ähnlichkeiten mit dem mehr als 10 Jahre später von Kenneth Branagh verkörperten Chief Protector O. Neville in „Long Walk Home“ (Phillip Noyce, 2002) aufweist. „Wo ich zu Hause bin“ endet damit, dass sich die zwei Blackfoot-Geschwister Komi und Pita auf einen riskanten Marsch durch die Prärie Richtung Heimat begeben. Als würde „Long Walk Home“ ihre Geschichte weitererzählen, handelt dieser australische Film davon, wie die Aborigine-Geschwister Molly und Daisy sich zusammen mit ihrer Cousine Gracie auf den langen Weg durch eine lebensfeindliche Wildnis begeben – einem verzweifelten Weg, der aber ihre einzige Rettung bedeutet. Ein anderer Kontinent, aber dasselbe koloniale System von Zwangsumerziehungsheimen, die es in Australien nach der Prämisse des General Child Welfare Law von 1910 bis 1976 gab. Indigene Geschichten zeigen Parallelen auf verschiedenen Kontinenten und in verschiedenen Kinematographien.

Nicht wegsehen, aber trotzdem auch nach anderen Geschichten suchen

Erziehung mit Druck, Zwang, Totalitarismus, Sadismus, moralischer Perversion, Autoritätsgehabe, Entrechtung, Schikane, sexuellem Missbrauch und schwerer Gewalt zieht sich als Gegenbild der pädagogischen Charismatiker*innen aus toten Dichter-Clubs oder von Wunderpädagogen wie Herrn Bachmann durch die Kinokultur. Filme haben ihren Anteil zur Aufarbeitung einer persönlichkeitsbrechenden Pädagogik geleistet mit ihren schmerzhaften Plots.

Müssen wir uns weiter diesen Schmerzen und diesen zutiefst erschütternden Kindheits- und Jugenddramen aussetzen? Wahrscheinlich schon, da doch Kräfte wieder mächtiger werden, die sich moralisch zurückorientieren zu den dunkel überschatteten 1950er-Jahren. Wir können aber auch darauf schauen, wie Pädagogik gelingt, wo sie schöne Erinnerungen hinterlässt und wie sie in bester Weise prägen kann. Das ist nicht nur eine Frage der Überfliegerpädagog*innen. Es ist auch eine Frage der Schulgemeinschaften und der Schulfreundschaften, von denen noch mehr erzählt werden könnte. In den allermeisten Kinder- und Jugendfilmen, die den Schauplatz Schule als Handlungsort wählen, dauert es nur Sekunden, bis die Bullys und Mobber*innen in Erscheinung treten. Das dürfte sich gerne mal ändern.

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