Ich sehe was 2024-8: In der Schule
Die Verführer*innen
Schüler*innen im Bann problematischer Lehrpersonen
von Christopher Diekhaus
Schule hat auch immer etwas mit Machtverhältnissen zu tun. Und diese Macht lässt sich ausnutzen. Mal bewusst, mal unbewusst überschreiten Lehrer*innen in vielen Jugendfilmen Grenzen. Sie manipulieren, begeistern für problematische Werte, versprechen Entfaltung und Bildung mit zweifelhaften Methoden – und sind damit das krasse Gegenbild alle jener charismatischen inspirierenden Lehrer*innen, von denen sonst so gerne erzählt wird.
Sie bringen uns zur Weißglut. Womöglich lästern wir über sie. Wir finden ihren Unterricht stinklangweilig oder hochinteressant. Nicht selten lassen wir uns auch von ihnen inspirieren. In jedem Fall sind Lehrer*innen prägende Figuren, zu denen wir, manchmal über Jahre, eine Beziehung aufbauen. Menschen, die erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung nehmen können.
Jugendfilme und -serien spüren dem Verhältnis gerne nach. Oft in konfrontativer, allerdings komödiantischer Form. Genauso gut gibt es jedoch ernste Werke. Beiträge, die problematische Aspekte im Austausch genauer unter die Lupe nehmen. Etwa, wenn die Lehrkraft eine destruktive Wirkung auf ihre Schüler*innen hat. Wenn Grenzen überschritten werden. Wenn Dinge plötzlich schrecklich aus dem Ruder laufen. Manipulation und Verführung, ob bewusst oder unbewusst, sollen an dieser Stelle im Mittelpunkt stehen. Kurzum: Beziehungen gefährlicher Natur.
Begeisterung für die falsche Sache
Ein guter Ansatzpunkt ist das im März 2024 in Deutschland gestartete Drama „Club Zero“ (Jessica Hausner, 2023), das uns in ein elitäres Internat entführt und ein Kontrastprogramm zum Klassiker „Der Club der toten Dichter“ (Peter Weir, 1989) bildet. Hier wie dort taucht eine neue Lehrperson an einer Schule auf und versucht, die Schüler*innen mit ungewöhnlichen Methoden „abzuholen“. Wo Weirs Mr. Keating den Jugendlichen die Schönheit der Kunst und die Kraft des freien Denkens nahebringt, setzt bei Hausner die von Mia Wasikowska gespielte Pädagogin in ihrem Kurs für gesunde Ernährung hingegen auf Dogmatismus.
Obwohl die Ms. Novak genannte Lehrerin bedächtig spricht und zurückgenommen auftritt und die Regisseurin in sorgsam komponierten Bildern erzählt, baut sich in den Unterrichtsszenen schnell ein beklemmender Gruppendruck auf. Wer Dinge hinterfragt, sich nicht an Grundsätze hält, wird vor allen anderen sanft, aber entschieden an den Pranger gestellt. Mehr noch: Schnell bekommt das Ganze einen Sektenanstrich. Essen wird zu einer Glaubensfrage. Die zumeist aus begütertem Hause kommenden Teenager*innen haben das Gefühl, einem Geheimbund anzugehören – was natürlich irgendwie reizvoll klingt. Wer möchte nicht über ein spezielles Wissen verfügen und sich damit von der Umwelt, vor allem von den Eltern, abheben? Ms. Novak ist die oberste Kontrollinstanz, tadelt, lobt und bringt ihre Schüler*innen gar dazu, fast komplett auf Nahrung zu verzichten. Verstörend und herrlich absurd zugleich sind Szenen in der Mensa, wenn die Kursteilnehmer*innen nur so tun, als würden sie etwas mit Gabel und Messer zu sich nehmen. Ernst und Satire gehen in „Club Zero“ Hand in Hand. Visuell herrscht eher Strenge vor, während die Musik etwas Ironisch-Verspieltes hat.
Als Vergleichsfolie bietet sich das auf einem Sozialexperiment basierende Drama „Die Welle“ (Dennis Gansel, 2008) an, das Verführbarkeit mit all ihren Konsequenzen aufzeigt. Im Rahmen einer Projektwoche möchte ein Lehrer, verkörpert von Jürgen Vogel, beweisen, wie leicht sich autokratische Strukturen bilden können. Über klare Regeln, einheitliche Kleidung, gemeinsame Feindbilder und einen spezifischen Gruß stärkt er die Bindung innerhalb seiner Lerngruppe, die sich schon bald als eine Bewegung begreift. Ähnlich wie in „Club Zero“ erhalten wir Einblicke in familiäre Alltagsmomente, beobachten die Schüler*innen, wie sie, oft bei Tisch, ihren Eltern von ihren neuen Erfahrungen berichten und sich mehr und mehr für die Materie begeistern.
Prophet*innen und Populist*innen
Ein zentraler Unterschied zwischen beiden Filmen ist die Zeichnung der Lehrperson: Ms. Novak ist eine Art verblendete Prophetin, glaubt, ihr Weg sei der einzig richtige. Vogels Rainer Wenger indes hat eigentlich gute Intentionen, will die Gefahr von Manipulation und Gleichschaltung illustrieren, verliert dann aber die Kontrolle über die von ihm losgetretene Bewegung. Einige Schüler*innen, besonders ein sich bis dahin machtlos fühlender Außenseiter, identifizieren sich so sehr mit der Sache, dass es am Ende zur Katastrophe kommt.
„Die Welle“ ist dramaturgisch etwas schematisch aufgebaut und spitzt einige Überlegungen sehr stark zu. Anschaulich führt uns der Jugendfilm jedoch vor Augen, dass aus Worten alsbald Taten werden können. Ebenfalls interessant: Mit welchen filmischen Mitteln Gansel sein Thema zu packen versucht. In einer Montagesequenz beispielsweise gehen die Dialoge von einer Einstellung zur nächsten nahtlos ineinander über. Die Schüler*innen sprechen wie aus einem Mund, womit der wachsende Gruppengedanke prägnant hervorgehoben wird.
2008, im Jahr des Kinostarts, bewertete der Politikwissenschaftler Roland Roth in einem Gespräch über den Film die Frage, wie eine charismatische Führungspersönlichkeit Menschen für eine gefährliche Idee begeistern könnte, als wenig aktuell. Inzwischen stellt sich die Lage allerdings komplett anders dar. Autoritäre Populist*innen mit Strahlkraft finden – siehe Donald Trump – immer mehr Zulauf und vergiften mit ihren Parolen fortlaufend den Diskurs. Vor dem Hintergrund eines Rechtsrucks in vielen westlichen Demokratien hat „Die Welle“ heute zweifelsohne enorme Relevanz.
Teuflische Versprechungen
Einen deutlich engeren Rahmen spannt die US-amerikanische Produktion „Blue Car – Poesie des Sommers“ (Karen Moncrieff, 2002). Hauptfigur ist eine 18-jährige Schülerin aus schwierigen Verhältnissen, die die Trennung ihrer Eltern nie verarbeitet hat. Die Literatur wird für Megan, so ihr Name, zu einem Ventil für ihre Ängste, ihre Unsicherheiten, ihre Sehnsüchte. Und ihr Englischlehrer avanciert zu einem Mentor, der ihre kreativen Fähigkeiten lobt. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt zeigt sich aber, dass er ein „Nein“ nur schwer akzeptieren kann. Er fordert sie auf, ihr Innerstes in der Kunst zu offenbaren, ihre Nervenbahnen freizulegen, wie es an einer Stelle heißt.
Intimste Details und Gefühle kommen in der Lehrer-Schülerin-Beziehung auf einmal zur Sprache. Und irgendwann wird klar, dass der bestärkende Begleiter sexuelle Absichten verfolgt, die Teenagerin vor allem deshalb umgarnt hat. Das in den Hauptrollen von Agnes Bruckner und David Strathairn stark gespielte Drama ist zumeist aus nahen Einstellungen gefilmt und kulminiert in einer Bettszene, die Megans Unwohlsein auf gespenstische Weise greifbar macht. Das Perfide dabei: Der Mentor tut so, als wäre ihm das Empfinden der Schülerin wichtig. Doch obwohl ihre Körpersprache pures Unbehagen ausdrückt, drängt er sich ihr auf.
Eine weniger subtile, aber ähnlich intensive Studie über Machtmissbrauch beschreibt Damien Chazelle, noch vor den Erschütterungen durch die #MeToo-Bewegung, in „Whiplash“ (2014). An einem fiktiven New Yorker Musikkonservatorium trifft der ehrgeizige Schlagzeuger Andrew auf den perfektionistisch-cholerischen Dozenten Terence Fletcher, den J. K. Simmons als fast mephistophelische Gestalt verkörpert. Mit stechendem Blick und gebieterischer Gestik fällt er über seine Studierenden her, beleidigt sie aufs Übelste, wenn sie seinen Ansprüchen nicht genügen, und geht sie mitunter sogar körperlich an. Hin und wieder zeigt der Despot allerdings auch seine einfühlsame Seite. Etwa dann, als er den Tod eines Ex-Schülers betrauert. Der jugendliche Protagonist ist zunächst eingeschüchtert, lässt sich jedoch von den rabiaten Lehrmethoden auch zu immer größeren Leistungen anspornen und entwickelt eine beunruhigende Arroganz.
Was als Drama eines ambitionierten jungen Musikers beginnt, schlägt in ein thrillerhaft inszeniertes Duell mit stark körperlichen Komponenten um. Andrew spielt sich die Hände blutig. Der Schweiß rinnt ihm beim manischen Üben aus dem Gesicht. Und als Zuschauer*in wird man rettungslos mitgerissen. Über allem steht die Frage, was es braucht, um ein Genie zu sein. Fletcher will, so sagt er, alles aus den Studierenden herauskitzeln. Doch welchen Preis soll man zahlen? Lohnt es für den großen Traum, sich die Würde rauben zu lassen? Einfache Antworten liefert „Whiplash“ nicht. Nachhallend ist der sich in einen Rausch hineinsteigernde Film aber allemal.
Mit großer Macht kommt große Verantwortung
Schon die hier besprochenen Beispiele machen deutlich, wie wichtig es ist, Dinge zu hinterfragen. Schüler*innen müssen wachsam sein, dürfen Autoritäten nicht per se auf ein Podest stellen und sollten den Mut haben, aktiv zu werden, wenn Grenzen überschritten werden. Pädagog*innen wiederum, auch das unterstreichen die behandelten Filme, tragen eine große Verantwortung, können mit ihrem Verhalten immensen Schaden anrichten. Immerhin treffen sie tagein, tagaus auf Menschen, die in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind, die sich nach Halt und Orientierung sehnen. Umso entscheidender ist es, wie man die jungen Leute anspricht, mit welchen Ideen man sie infiziert.