Ich sehe was 2024-7: Freundschaft im Kinderfilm

Ich so, du so. Wir so.

Unerwartete Freundschaftsgeschichten in Kinderfilmen

von Stefan Stiletto

Zwei grundverschiedene Figuren gemeinsam in ein Abenteuer zu schicken, ist dramaturgisch vielleicht nicht sonderlich originell, funktioniert in vielen Kinderfilmen aber erstaunlich gut. Von Zweck- und Bewährungsgemeinschaften, aus denen mehr wird.

Filmstill aus Rico, Oskar und die Tieferschatten
"Rico, Oskar und die Tieferschatten" (c) Twentieth Century Fox

Die Maus ist klein, beweglich und gewitzt, der Bär groß, schwerfällig und ein wenig langsam. Ihr ist kalt, er hat Hunger. Als der Bär Ernest die Maus Célestine in einer Mülltonne findet, will er sie eigentlich nur fressen. Es sieht nicht gut aus für die kleine Maus. Doch dann passiert etwas: Die Maus gibt sich nicht ihrem Schicksal hin, sondern beginnt, mit dem Bären zu reden. Sie überrumpelt ihn mit Argumenten, weshalb er sie besser nicht fressen sollte – und stellt sich am Schluss höflich mit ausgestreckter Hand vor. Eigentlich können die beiden keine Freund*innen sein. Und werden es trotzdem – wie in so vielen Kinderfilmen. Erst ist es nur ein kleiner Deal, der sie zu Verbündeten macht. Am Ende ist „Ernest & Célestine“ (Stéphane Aubier, Vincent Patar, Benjamin Renner, 2013) eine der rührendsten, aufrichtigsten Freundschaftsgeschichten geworden, die im vergangenen Jahrzehnt im Kinderkino zu sehen war.

Sicherlich: Gegensatzpaare miteinander zu konfrontieren, ist dramaturgisch nicht sonderlich innovativ. Dennoch verfehlt die dramaturgische Standardsituation gerade im Kinderfilm ihre Wirkung meist nicht – und lässt sich dann doch recht variantenreich umsetzen.

Gegen die Regeln

Es gibt Konstellationen, die einfach per se nicht funktionieren können. Gerade Animationsfilme mit tierischen Protagonist*innen lassen solche quasi-natürlichen Feindschaften der Figuren noch deutlicher zu Tage treten: Bären und Mäuse sind Fressfeinde. Dass die kleine Maus sich vor dem riesigen Bären in Acht nehmen sollte, ahnt jedes Kind. Hinzu kommt, dass es sogar in der ganzen Filmwelt von „Ernest & Célestine“ eine Art Gesetz ist, dass Bären und Mäuse nicht zusammenpassen – was die Sache nur noch komplizierter macht, weil dadurch eine Art gesellschaftlicher Komponente in die Geschichte mit hineinspielt. Selbst wenn sie es wollten, könnten Ernest und Célestine keine Freund*innen werden, weil ihre Mitmäuse und Mitbären das niemals akzeptieren würden. Mehr Hürden kann man erstmal gar nicht aufbauen.

So sind die ersten Deals zwischen Ernest und Célestine sehr rational. Um nicht gefressen zu werden, zeigt Célestine Ernest den Weg in einen Keller voller Süßigkeiten. Indem die Maus dem kurze Zeit später verhafteten Bären verspricht, ihn zu befreien, trotzt sie ihm einen großen Gefallen ab. Bis dahin lebt der Film vom Witz der beiden Figuren. Doch sobald beide zu Ausgestoßenen in ihren Welten werden, wendet sich das Blatt. Auf einmal haben die beiden nur noch sich. Als sie erkennen, dass sie trotz ihrer äußerlichen Unterschiede mehr verbindet als trennt, verlieren die Vorurteile an Wirkmächtigkeit.

Auch „Im Himmel ist auch Platz für Mäuse“ (Denisa Grimmová, Jan Bubeníček, 2021) nimmt mit einem verfeindeten Tierpaar seinen Anfang: mit einem Fuchs und einer Maus. Tatsächlich ist die Maus schon kurze Zeit später tot, überfahren von einem Auto auf der Flucht vor dem Fuchs. Aber den Fuchs hat es nicht besser erwischt. Auch er wurde überfahren. Im Himmel begegnen sich die beiden wieder. Während Maus Dalli den Fuchs Weißbauch ganz schnell loswerden will und sich abweisend verhält, ist Weißbauch sehr freundlich und bietet ihr sogar an, im Himmel nach ihrem Vater zu suchen. Auch hier müssen erst tief eingeschriebene Vorurteile überwunden werden, bis die Figuren aufeinander zugehen können. Zudem macht Dalli es weder Weißbauch noch dem Publikum mit ihrer vorlauten, besserwisserischen und frechen Art einfach. Wie in „Ernest und Célestine“ beginnt die Annäherung der Figuren auch hier mit Selbsterkenntnis und Empathie: Wer mutig sein will, muss auch Angst kennen, heißt es einmal. Und ein Fuchs muss nicht unbedingt bösartig und stark sein. Die „unmöglichen“ Freundschaften in diesen Filmen sind immer auch damit verbunden, Vorurteile und Klischees zu hinterfragen und sich schließlich von diesen zu befreien.

Filmbild aus "Im Himmel ist auch Platz für Mäuse"
"Im Himmel ist auch Platz für Mäuse" (c) Landfilm

Kleine Gesten

„Das ist nicht mein Freund“, sagt Ben bestimmt zu einer schnippischen Mitschülerin, als Tariq neben ihn gesetzt wird. Ben ist noch neu in der Klasse, weil er mit seiner Familie aufgrund des Braunkohleabbaus sein Dorf verlassen musste. Tariq ist neu, weil er aus Syrien flüchten musste. Nur das Neu-Sein macht aus beiden jedoch keine Freunde. Aber der gemeinsame Regelverstoß bringt erstes Vertrauen: Tariq hilft Ben heimlich im Matheunterricht bei einer Abfrage. Später bilden beide beim Fußballtraining ein Team. Was gut beginnt, wird aber schnell wieder in Frage gestellt, als Tariq beim Fußball auf der Stürmerposition den Vorzug gegenüber Ben bekommt, der auf die Ersatzbank verbannt wird. Aus dieser spannungsgeladenen Situation entwickelt sich in „Zu weit weg“ (Sarah Winkenstette, 2019) allmählich dennoch eine Freundschaftsgeschichte, die sich durch ihre Zurückhaltung auszeichnet und über den Halt erzählt, den eine Freundschaft geben kann. Ben und Tariq werden nicht durch „große“ gemeinsame Erlebnisse zu Freunden, sondern durch Verständnis füreinander. Sie werden zu Freunden, weil sie sich unterstützen und trösten, sich Mut machen und einander zuhören, und weil sie sich oft auch ohne große Worte verstehen. Im jeweils anderen sehen sie sich selbst und ihre eigenen Sorgen und Wünsche.

Viel unterschiedlicher sind da die beiden Titelhelden in „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ (Neele Leana Vollmar, 2014). „Kann es sein, dass du ein bisschen dumm bist?“, fragt der hochbegabte Oskar Rico, nachdem die beiden Jungen sich auf der Straße begegnet sind und erst ein paar Worte miteinander gewechselt haben. Eigentlich ein schlechter Start in eine Freundschaft, aber Rico reagiert gewohnt gelassen – und das Gespräch nimmt eine überraschende Wendung nach der anderen. Mal ist Neugier im Spiel, mal sind es Vorwürfe, mal wird etwas klar gestellt und Respekt eingefordert, am Ende steht eine Entschuldigung und ein Händedruck. Stationen einer Freundschaft, verdichtet in einem kurzen aberwitzigen Dialog zwischen zwei sehr markanten jungen Persönlichkeiten. Der tiefbegabte Rico wird Oscar noch aus den Fängen eines Entführers retten, aber auch in diesem Film entsteht die Freundschaft nicht durch die großen Gesten, sondern die leisen Töne.

On the road

Viel mehr Aufmerksamkeit ziehen da die Freundschaftsgeschichten auf sich, die als skurrile Road Movies angelegt sind. In „Kannawoniwasein!“ (Stefan Westerwelle, 2023) etwa machen sich der zehnjährige Finn und die etwas ältere Jola auf den Weg von Neustrelitz ans Meer. Durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Ohne Erwachsene. In einem Traktor. Die Kinder haben sich nicht absichtlich füreinander entschieden, das Schicksal hat sie zusammengebracht. Finn war auf dem Weg von seinem Vater zurück zu seiner Mutter, hat dann aber gemerkt, dass er dort gar nicht erwartet wird. Jola wiederum hatte keine Lust, mal wieder mit ihrem Onkel zu den Großeltern nach Polen zu fahren. Wenn sich eh kein Erwachsener um sie und ihre Wünsche schert, dann können die Kinder auch selbst entscheiden, was sie machen wollen. Das ist die Freiheit, die beide verbindet, auch wenn sie sonst ziemlich verschieden sind. Denn Finn will einfach mal weglaufen, um wiedergefunden zu werden. Und Jola kann weg, weil sie denkt, dass niemand sie suchen wird. Durch die Unterschiede von Finn und Jola erzählt der Film ziemlich viel über Familien und Bedürfnisse von Kindern – und das wird auch den Kindern im Film im Laufe ihrer Reise klar. „Nach so Reisen verspricht man sicher immer, sich wiederzusehen. Aber dann passiert doch nix“, sagt Jola abgeklärt am Ende, um dann doch noch eine Tür zu öffnen: „Aber wenn du mal wieder kurz verloren gehen willst, sag mir doch bitte Bescheid.“

Filmstill aus Kannawoniwasein
"Kannawoniwasein!" (c) Lieblingsfilm, Sad Origami, Jens Hauspurg

Pädagogischer Wert inklusive

Der Reiz dieser Geschichten über Zweckgemeinschaften im Kinderfilm liegt nicht nur im Kontrast, weil es im besten Falle eben nicht darum geht, lediglich zwei grundverschiedene Typen aufeinanderprallen zu lassen. Was die Filme hingegen leisten, ist eine Erweiterung der Perspektive. Gemeinsamkeiten werden trotz Unterschieden deutlich, Regeln, wer mit wem etwas zu tun haben darf, werden in Frage gestellt, Äußerlichkeiten treten in den Hintergrund. Es verwundert nicht, dass manche dieser Konstellationen im Kinderfilm von unfreiwilligen Verbündeten zu echten Dream Teams geworden sind.

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