Ich sehe was 2024-7: Freundschaft im Kinderfilm

Ende und Anfang

Freundschaft im Übergang von Kindheit zu Jugend

von Frank Münschke

Wenn aus Kindern Jugendliche werden, verändern sich nicht nur ihre Interessen und Standpunkte, sondern auch Freundschaften werden in dieser Phase des Übergangs auf die Probe gestellt. Diese können dabei eine neue Dynamik bekommen oder auch zerbrechen. Exemplarisch lässt sich dies anhand von „Stand by Me“ und „Close“ aufzeigen.

Szenenfoto Königin von Niendorf
"Königin von Niendorf" (c) UCM.ONE

In Joya Thomes „Königin von Niendorf“ (2018) wird die zehnjährige Lea zu Beginn des Films gefragt, warum sie kaum noch Zeit mit ihren Freundinnen verbringe. Lea antwortet: „Irgendwie sind alle komisch geworden.“ Mit „komisch“ meint Lea: Ihre Freundinnen interessieren sich jetzt für Themen, die typisch für die Lebensphase Jugend sind. Im weiteren Verlauf des Films spielt der Übergang zwischen Kindheit und Jugend und der damit einhergehende Wandel von Freundschaften keine oder nur eine untergeordnete Rolle, denn Lea trifft bereits zu Beginn der filmischen Erzählung eine Entscheidung: Sie möchte Kind bleiben, zumindest noch für diesen einen Sommer.

Wie sich Freundschaften verändern, wenn Figuren neue (adoleszente) Lebensräume betreten und damit einhergehend Fragen der Identitätsfindung ins Zentrum rücken, wird hingegen in „Stand by Me“ (1986) von Rob Reiner und Lukas Dhonts „Close“ (2022) behandelt. Zwei Filme, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich mit dem Thema umgehen. Was sie allerdings neben dem Freundschaftsmotiv und der Verhandlung der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend noch verbindet: Tod und Sterben spielen als Themen und dramaturgische Katalysatoren eine wichtige Rolle.

Von Tieren und Phallussymbolen

„Stand by Me“ erzählt einerseits eine Abenteuergeschichte, die sich – ganz klassisch – am Erzählmuster der Heldenreise orientiert. Andererseits ist es aber auch ein Film über eine Initiationsgeschichte und über Trauerbewältigung. Zentral gesetzt im Film ist bei jeder Sichtweise das Motiv der Freundschaft und vor allem die Beziehung zwischen Gordie und Chris. Der Tod des erwachsenen Chris ist auch der Auslöser, warum Gordie die Geschichte seiner Kindheit und der Freundschaft rückblickend erzählt. In dieser Binnenerzählung begeben sich die vier etwa zwölfjährigen Freunde Chris, Gordie, Teddy und Vern auf die Suche nach der Leiche eines Klassenkameraden, die mehrere Kilometer entfernt von ihrem Heimatstädtchen entfernt liegen soll. Sie müssen auf dem Weg durch die Wälder Montanas mehrere Gefahren überstehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Vern und Teddy haben dabei in vielen Momenten eher Sidekick-Charakter. Es geht vor allem um das Verhältnis und die Freundschaft zwischen Gordie und Chris. Gordie wird als sensible und durch den Tod seines Bruders auch traumatisierte Figur eingeführt. Chris wirkt deutlich reifer als Gordie und spricht seinem Freund mehrere Male Mut zu – er fungiert im ersten Teil des Films als Mentor für den noch kindlichen Gordie.

Filmstill aus Stand by me
"Stand by me" (c) Warner-Columbia

Gordie entwickelt sich im Laufe des Films und die äußere Reise geht mit einer inneren Reifung einher. In einer Sequenz wird das nachdrücklich gezeigt: Die vier Hauptfiguren müssen einen Tümpel, der symbolisch für die Schwelle zwischen Kindheit und Jugend steht, überwinden. Auf dem Weg durch den Tümpel saugen sich Blutegel an den Körpern der Figuren fest, ein Blutegel landet an Gordies Geschlechtsteil. Er wird dadurch – und der bisherigen Erzählung bereitet diesen Moment vor – sinnbildlich zum Mann. Im Anschluss übernimmt er die Leitung der Gruppe, was auch durch filmische Darstellungsmittel, etwa durch die Verwendung einer Kamerauntersicht, unterstrichen wird. Gordies Kindheit, die durch die Begegnung mit einem Reh symbolisiert wird, lässt er hinter sich. Während die anderen Jungs zögern, möchte Gordie nun die Leiche finden, die zudem stellvertretend für seinen toten Bruder steht.

Am Ende der Erzählung hat sich das Freundschaftsverhältnis verändert: Nun kann der gereifte Gordie seinen Freund beschützen, als dieser von einer Halbstarken-Gang bedroht wird. Dafür verwendet er – natürlich – eine Pistole, ein klassisches Phallussymbol. Die Freundschaft zwischen Gordie und Chris hat sich im Laufe des Films verfestigt, gleichzeitig haben sich aber die Machtkonstellationen verschoben. Ebenso steht im Rückblick die Leiche auch für den Tod des erwachsenen Chris – das Todesmotiv fungiert in „Stand by Me“ als verbindendes Element der Freundschaft.

Das Ende der kindlichen Unschuld

In „Close“ wird der Übergang von der Kindheit zur Jugend als Phase der existenziellen (und fast unüberwindbaren) Krise inszeniert. Der Film stellt die beiden 13-jährigen Figuren Léo und Rémi ins Zentrum. Zu Beginn werden sie in einer Höhle bei einem kindlichen Abenteuerspiel gezeigt. Ihre Freundschaft wird – einhergehend mit warmen Farben, vielen Nahaufnahmen und harmonischer Musik – als sehr vertraut und zärtlich eingeführt.

Einen Umbruch stellt der Wechsel an eine neue Schule dar: Die Klassenkameraden repräsentieren klassische Formen von Männlichkeit, an denen sich Léo immer stärker orientiert. Er beginnt Eishockey zu spielen, eine Sportart, die sich durch Körperlichkeit und Stärke definiert. Léo verlässt nach und nach den geschützten Raum der (kindlichen) Höhle und wendet sich von seinem Freund ab: Er schläft nicht mehr mit Rémi im selben Bett, sondern bleibt auf der Matratze, die neben dem Bett liegt, liegen. Ebenso wird die Auflösung der engen Freundschaft durch die gemeinsamen Fahrradfahrten verdeutlicht: Zu Beginn des Films unterhalten sie sich angeregt und fröhlich, dann werden die Gespräche immer kürzer und gezwungener, später wartet Rémi vergeblich auf Léo. Auch die Höhle, ein Raum als Symbol für die kindliche Unschuld der beiden, ist nun ein Ort der Leere geworden. Es sind eindrucksvolle Bilder, die der Film hier verwendet, um den Umbruch zwischen Kindheit und Jugend und das Ende einer tiefen Freundschaft darzustellen. Dabei folgt der Film dem Prinzip „show, don‘t tell“ und es dominieren Blicke und Bewegungen der beiden Figuren, die von den Zuschauer*innen gelesen werden müssen.

Standfoto aus Close
"Close" (c) Menuet/Diaphana Films/Topkapi Films/Versus Production

Auf dem Schulhof steht Léo bei den beliebten Kindern, Rémi bei den Außenseitern. Aber Léo ist nicht bösartig, er grenzt sich zwar ab, schaut aber gleichzeitig immer wieder unsicher in Rémis Richtung. Die zerbrechende Freundschaft mündet in einer Tragödie: Rémi nimmt sich das Leben. „Close“ nimmt vor allem Léos Perspektive ein, bereits in der ersten Hälfte des Films und dann vor allem nach dem Selbstmord. Weder Léo noch die Zuschauer*innen erfahren, warum und wie sich Rémi umgebracht hat. Léo sucht nach Antworten, gibt sich die Schuld an Rémis Tod. Die Unsicherheiten und das Krisenhafte der Jugend werden durch das Todesmotiv überlagert und gleichzeitig verstärkt. Léo muss nun nicht nur seinen Platz in der Welt suchen, sich fragen, wer er sein möchte, sondern sich auch mit Fragen der Schuld und Verantwortung auseinandersetzen. Die Farben des Films sind schon längst deutlich gedeckter, die Musik bedrückender. Am Ende des Films ist Léo zwar eine reifere Figur, er wirkt aber weiterhin traumatisiert und desillusioniert. Das Erlöschen einer innigen Freundschaft mündet in „Close“ in einem Selbstmord, der wiederum eine scheinbar unüberwindbare Krise hervorruft.

Der Übergang als Krise

Beide Filme vereint, dass sie – in Form von Coming-of-Age-Storys – den Übergang zwischen Kindheit und Jugend als krisenhaft darstellen und dabei das Motiv der Freundschaft eine zentrale Rolle einnimmt, einhergehend mit dem Todesmotiv. In „Stand by Me“ kommt es zu einer positiven Auflösung und Entwicklung, Gordie kann sein Trauma – zumindest temporär – überwinden. In „Close“ hat die Krise hingegen existenziellen Charakter. Die Jungen-Freundschaft verändert sich in beiden Filmen, sie wird intensiviert oder geht in die Brüche. Es werden jeweils neue Wege gegangen, in „Stand by Me“ gemeinsam, in „Close“ alleine. Dabei kann der Tod auch als Metapher angesehen werden: Mit ihm endet die Kindheit und die Zeit der Unschuld – sowohl für Gordie als auch für Léo.

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