Ich sehe was 2024-7: Freundschaft im Kinderfilm

Die Melodie der Herzen

Freundschaften in Kinderfilmen

von Holger Twele

Kaum ein Thema bestimmt so viele Kinderfilme wie das der Freundschaft. Wie über Freundschaften erzählt wird, ist dabei eng mit dem soziokulturellen Kontext des Aufwachsens verknüpft und hat sich im Laufe der Zeit verändert. Ein Blick auf Freundschaften im Kinderfilm im Zusammenspiel mit Diversität, Selbstfindung und Rollenbildern.

Filmstill aus Thilda und die beste Band der Welt
"Thilda und die beste Band der Welt" (c) farbfilm, Björn Bratberg

Albert Einstein hat zum Thema Freundschaft einmal gesagt und damit den innewohnenden poetischen Charakter auf den Punkt gebracht: „Ein Freund ist ein Mensch, der die Melodie deines Herzens kennt und sie dir vorspielt, wenn du sie vergessen hast.“ Für das Zusammenleben und die Sozialisation des Menschen scheinen Freundschaften unabdingbar und das gilt insbesondere für Kindheit und Jugend. Kein Wunder also, dass Freundschaften im Kinderfilm einen hohen Stellenwert einnehmen.

Bei der Verschlagwortung von Inhalten des Kinderfilms wird Freundschaft neben Abenteuer, Familie und der Gattung Literaturverfilmung am häufigsten genannt. Was Freundschaft genau bedeutet, bleibt aber letztlich Definitionssache und ist eng verbunden mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Der vorliegende Artikel beschränkt sich auf die Freundschaft zwischen Kindern im Realfilm und zeigt anhand von einigen eng miteinander verknüpften Aspekten exemplarisch auf, wie sich die Darstellung dieser Freundschaften im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert hat.

Die Bedeutung sozialer Milieus nimmt zu

Filmische Freundschaften waren früher eher in einer weitgehend heilen Kinder- und Märchenwelt angesiedelt und bildeten ein eigenes Universum wie etwa die „Pippi Langstrumpf“-Verfilmungen (Olle Hellbom, 1968-1970), bei denen die kindliche Hauptfigur ein herrlich unabhängiges Leben führt und sich mit den beiden Nachbarskindern anfreundet. Das soziale Milieu, in das Freundschaften immer eingebettet sind, spielt noch eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings gab es schon immer bemerkenswerte Ausnahmen, etwa die Erich Kästner-Verfilmung „Emil und die Detektive“ (1931) von Gerhard Lamprecht oder „Metin“ (1970) von Thomas Draeger über die Freundschaft zwischen sechsjährigen türkischen und deutschen Kindern im Berliner Stadtteil Kreuzberg.

In aktuellen Kinderfilmen lässt sich das soziale Milieu kaum mehr ausblenden. Zumindest in Deutschland stammen die Kinder in den Filmen vorwiegend aus bürgerlichen Verhältnissen, wobei sich auch hier Änderungen anbahnen, beispielsweise wenn Arbeitslosigkeit und Armut mit ins Spiel kommen, was insbesondere bei alleinerziehenden Müttern ins Gewicht fällt. Eine ungewöhnliche Bedeutung gewinnt der soziale Hintergrund bei „Ente gut!“ (2016) von Norbert Lechner. Hier entwickelt sich eine Freundschaft zwischen einem elfjährigen deutschen Mädchen aus sozial schwachen Verhältnissen und einem Geschwisterpaar mit vietnamesischen Wurzeln, das durch einen gegenüber den Behörden verheimlichten Todesfall in seiner Familie vorübergehend ganz allein auf sich gestellt sind.

International gesehen ist die Bandbreite an „neuen“ Themen und differenzierteren Familienkonstellationen weitaus größer. Etwa wenn Außenseiter im Mittelpunkt stehen, denen es aus unterschiedlichsten Gründen schwer fällt, Freund*innen zu finden, und bei Migrationsthemen wie in „Rafiki – Beste Freunde“ (2009) von Christian Lo. Dieser Film handelt von der unerschütterlichen Freundschaft zweier neunjähriger Mädchen aus Norwegen zu ihrer Klassenkameradin Naisha, die in einer Asylunterkunft lebt und plötzlich mit ihrer Mutter abgeschoben werden soll. Hier nimmt die soziale und gesellschaftliche Realität unmittelbaren Einfluss auf die gesamte Dramaturgie, denn die beiden jungen Norwegerinnen machen sich allein auf den Weg ins ferne Oslo, um für ihre Freundin zu kämpfen und die Politiker*innen in der Regierung von ihrem Anliegen zu überzeugen.

Die Rolle älterer Figuren

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Kinder in vielen Fällen inzwischen ganz allein auf sich gestellt sind und die Konflikte in ihren Freundschaften untereinander gelöst werden müssen. Zugleich sind die Kinder viel selbstständiger als früher geworden. Erwachsene in den Geschichten spielen eher eine Nebenrolle oder sind nur noch Auslöser für eine Entwicklung, in der diese Welt der Erwachsenen schon lange nicht mehr Vorbild, sondern nur noch Zerrbild der kindlichen Realität und Reibungsfläche für die eigene Abgrenzung ist. Eindrucksvoll zeigt das Stefan Westerwelle mit seiner humorvollen Romanverfilmung „Kannawoniwasein!“ (2023), in dem der zehnjährige Finn und die etwas ältere Jola auf fast schon absurde Weise alleine versuchen, einem Dieb im Rockermilieu auf die Spur zu kommen und für ihr persönliches Stück Freiheit mit einem Traktor ans Meer zu fahren.

Freundschaften zwischen Jung und Alt im Kinderfilm waren dagegen schon immer selten. Sie bezogen sich meistens auf einen echten oder imaginierten familiären Kontext über zwei Generationen hinweg, etwa in „Kannst du pfeifen, Johanna?“ (Rumle Hammerich, 1995). Das ändert sich mit „Blanka“ (Kohki Hasei, 2015) über die Freundschaft zwischen einem philippinischen Straßenmädchen und einem alten blinden Musiker, der ebenfalls auf der Straße lebt. Es setzt sich fort mit „Max und die Wilde 7“ (2020) von Winfried Oelsner, denn da findet ein neunjähriger Junge seine besten Freund*innen in den Bewohner*innen eines Senior*innenheims.

"Max und die Wilde 7" (c) Leonine

Bewährte Erzählmuster sind häufig erfolgreich, aber nicht immer überraschend oder gar innovativ. Etwas Neues gewagt in puncto Freundschaftsgeschichten hat daher der norwegische Regisseur Christian Lo, als er „Kinderfilm“ und „Jugendfilm“ in seinem Roadmovie „Thilda und die beste Band der Welt“ (2018) verband. In dieser Geschichte über eine bunt zusammengewürfelte Band, die vom großen Erfolg träumt und den Erwachsenen mehr als nur sprachlich Paroli bietet, verbünden sich Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren nach ersten Anlaufschwierigkeiten und werden zu echten Freund*innen.

Die Welten werden vielschichtiger

Eine eigene Betrachtung wert sind die Veränderungen in den Freundschaftsgeschichten, seitdem Diversität nicht bloß ein Schlagwort ist, das wie bei einem Kochrezept erfüllt und abgehakt werden muss, sondern das Bemühen darum sichtbar ernst genommen wird. Gut lässt sich das an den beiden Verfilmungen von „Die Vorstadtkrokodile“ aus den Jahren 1977 und 2009 festmachen. Als Max von der Grün sein gleichnamiges Kinderbuch schrieb, lag ihm aufgrund eigener Erfahrungen mit seinem behinderten Sohn sehr am Herzen, dass in einer auf Abenteuer und Aufklärung eines Verbrechens fixierten Kinderbande selbstverständlich auch jemand mit körperlichen Einschränkungen mit von der Partie ist. Die Verfilmung von Wolfgang Becker aus dem Jahr 1977 konzentriert sich ganz auf diesen Aspekt. In der Neuverfilmung von 2009 durch Christian Ditter hat ein Bandenmitglied ebenfalls eine Behinderung – andernfalls könnte man von einer Neuverfilmung auch kaum sprechen. Aber der Migrationshintergrund der einzelnen Figuren und das daraus entstehende Konfliktpotenzial nimmt nun eine mindestens gleichwertige Rolle ein.

Geschichten über Freundschaften gibt es nicht nur in Gruppenkonstellationen. Der niederländische Film „Mein Freund, der Pirat“ (2020) von Pim van Hoeve über die Freundschaft eines Jungen zu einem gleichaltrigen Piraten, der mit seiner Familie einen kleinbürgerlichen Ort aufmischt, ist weit mehr als eine an der Oberfläche kratzende Fantasygeschichte. Denn ersetzt man den Begriff Piraten mit Migranten, erhalten die vorgeführten Klischees und Vorurteile gegenüber anderen Kulturen und Migrant*innen schnell eine ganz andere Qualität, die auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken anregt. In „Zu weit weg“ (2019) wiederum wagt es Sarah Winkenstette gar, den Verlust von Heimat zweier Freunde miteinander zu vergleichen. Der eine verliert sie durch den Braunkohletagebau in Deutschland, der andere durch den Bürgerkrieg in Syrien.

Traditionelle Rollenbilder verlieren an Einfluss

Starke Jungen gab es im Kinderfilm schon immer und selbstverständlich wollte man mit diesen Jungen unbedingt befreundet sein, fast egal ob Mädchen oder Junge. Starke Mädchen gab es eigentlich auch schon immer, nur waren sie filmisch in der Minderzahl, mussten sich oft mit Nebenrollen begnügen oder wenigstens übernatürliche Kräfte besitzen wie Pippi Langstrumpf, die mühelos ein Pferd in die Luft heben konnte. Das hat sich zum Glück gewaltig verändert – selbst in Ländern, in denen traditionelle Rollenbilder immer noch populär sind. Besonders augenfällig war das in „Das Mädchen Wadja“ (2012) von Haifaa Al Mansour, in dem die Titelheldin gegen restriktive Traditionen, soziale Ungerechtigkeit und offene Benachteiligungen rebelliert – und in einem gleichaltrigen Jungen einen verständnisvollen und wahren Freund findet, der sie ohne Vorbehalte unterstützt.

Andererseits sind gerade bei jungen Detektiv*innen, in denen ein Problem oder gar ein Kriminalfall zu lösen ist, die Mädchen immer noch etwas im Nachteil. Freundschaften entstehen hier durch ein gemeinsames Ziel und gemeinsame Interessen, trotz oder gerade wegen unterschiedlicher Fähigkeiten. Hier haben die „wilden Kerle“ rein zahlenmäßig noch immer einen Vorsprung vor den „wilden Hühnern“, wobei bei „Die Pfefferkörner und der Fluch des Schwarzen Königs“ (2017) immerhin ein Umdenken zu erkennen ist.

Filmstill aus Tomboy
"Tomboy" (c) Alamode und BJF

Die anhaltenden Genderdebatten haben in der filmischen Darstellung von Kinderfreundschaften den Horizont noch deutlich erweitert und um die Suche nach sexueller Identität bereichert. In „Tomboy“ (2011) von Céline Sciamma möchte ein etwa zehnjähriges Mädchen, das als Außenseiterin gilt, neu in den Ort hinzugezogen ist und keine Freunde hat, viel lieber ein Junge sein. Sie verhält sich als Fußballerin auch so und behält ihr Geheimnis für sich. Im Fußballteam findet sie dank ihrer Fähigkeiten zwar schnell Freunde unter den Jungen. Aber sie wird auch von einer gleichaltrigen Verehrerin bewundert, in der festen Überzeugung, dass sie ein Junge sei.

Analog zur gesellschaftlichen Entwicklung, die in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ausfällt und manchmal auch restaurative oder gar reaktionäre Tendenzen nicht ausschließt, verändern sich auch die Geschichten über Freundschaft(en) im Kinderfilm. Eindeutig ist, dass der überragende Wert von Freundschaft an sich weiterhin ungebrochen ist. Verändert haben sich hingegen die erzählten Geschichten und das sozial Milieu, die inzwischen weitaus größere Diversität der Figurenkonstellationen, die ebenfalls größere Vielfalt der mit Freundschaft verbundenen Themen und Aspekte sowie die Rollenbilder, deren Prägung bereits in der Kindheit beginnt und von medialen Einflüssen immer mitbestimmt wird.

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