Ich sehe was 2023-6: Inklusion im Kinder- und Jugendfilm
Glanz der Vielfalt
Inklusion in der Schauspielausbildung für Film und Theater
Interview von Marguerite Seidel mit Marion Roemer
Kultur selbstbewusst und professionell mitbestimmen und mitgestalten: „Glanzstoff – Akademie für inklusive Künste e. V.“ bringt seit 2014 am Schauspiel Wuppertal Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Gemeinsam stehen sie auf oder hinter der Bühne und können sich im Schauspielstudio zu professionellen Berufsschauspieler*innen für Theater, Film und Fernsehen qualifizieren. Ein Gespräch über Vielfalt und Inklusion vor und hinter den Kulissen mit Marion Roemer, Gründungsmitglied und Vorsitzende des ehrenamtlich organisierten Vereins.
In Kooperation mit dem Schauspiel Wuppertal bietet „Glanzstoff“ Menschen mit Behinderung eine professionelle Schauspieler*innen- Ausbildung sowie weitere inklusive Theaterprojekte an. Was war der Anlass Ihrer Initiative?
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Meiner Familie ist es sehr wichtig, dass unser Sohn mit Down-Syndrom Teil dieser Gesellschaft ist und nicht morgens in eine spezialisierte Einrichtung gebracht und abends wieder abgeholt wird. Von klein auf sollte er zusammen mit den Kindern in unserem Umfeld aufwachsen. Aber bereits einen inklusiven Kindergarten zu finden oder eine inklusive Beschulung zu organisieren war alles andere als selbstverständlich. Auf der Suche nach Aktivitäten ist Merlin als junger Erwachsener einer inklusiven Theatergruppe am Schauspiel Wuppertal beigetreten. Durch seine Begeisterung fürs Theater sowie die all der anderen Gruppenmitglieder habe ich festgestellt, wie wichtig künstlerische Teilhabe ist. In Reaktion auf die Streichung des Projekts nach einem Intendantenwechsel haben wir unseren Verein „Glanzstoff – Akademie der inklusiven Künste“ gegründet.
Wofür stehen der Verein und sein Name?
Jeder Theater- oder Filmproduktion liegt ein Stoff zugrunde. Einerseits bringen Menschen Stoffe auf der Bühne oder im Film zum Glänzen. Anderseits glänzen auch die Menschen bei der Darstellung dieser Stoffe – ob ohne oder mit Behinderung. Alle haben spezielle Möglichkeiten, sich auszudrücken. Der Zugang zu darstellenden Künsten und ihre Sichtbarkeit sollte für alle gleich sein – egal ob für körperlich oder kognitiv eingeschränkte, psychisch beeinträchtigte oder sinnesbeeinträchtigte Personen.
Weshalb sind die Angebote von „Glanzstoff“ trotz der seit 2009 gültigen bundesweiten Verpflichtung des Bildungsbereichs zu Inklusion infolge der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen notwendig?
Dazu ein Beispiel: Eine unserer Absolventinnen, Yulia Yáñez Schmidt, wurde an anderen Schauspielschulen nicht angenommen. Sie könne bestimmte Ausbildungsinhalte – wie etwa Fechten – aufgrund ihrer Beinprothese nicht erfolgreich bestehen. Heute ist sie festes Ensemblemitglied des Jungen Schauspiels Düsseldorf. Theater, Film und Werbung haben die Potenziale von Menschen mit Behinderung längst entdeckt. Davon zeugen unter anderem die ersten spezialisierten Casting-Agenturen. Dennoch gibt es noch zu viele Hürden. Das fängt mit barrierefreien Toiletten oder Bühnenzugängen an und reicht bis zur Frage der Gleichbehandlung bei der Bezahlung. Eine Filmrolle ist kein karikativer Akt, nur weil Schauspieler*innen mit Behinderung involviert sind. Ohne diese und andere Voraussetzungen kann ein Mensch mit Behinderung jedoch nicht zum Studium beziehungsweise zur Arbeit erscheinen und unter fairen Bedingungen mitwirken. Im Bereich der Schauspielausbildung sind wir die ersten, die diesen Zugang systematisch und umfassend ermöglichen.
Laut statistischer Erhebungen lebt rund jede zehnte Person in Deutschland mit einer Behinderung. In Theater-, Film- und Fernsehproduktionen sind Menschen mit Behinderung jedoch Ausnahmeerscheinungen. Welche Chancen für die Wahrnehmung unserer Welt, insbesondere durch ein junges Publikum, bietet Inklusion?
Neben Erfahrungen in der realen Welt nehmen mediale Erfahrungen besonders unter jungen Menschen einen großen Raum ein und können ebenso prägend sein. Genau hier liegt die Chance. In Filmen, Videos oder im Theater dominieren jedoch oft plakative, klischeehafte Bilder und Vorstellungen. Zum Beispiel gibt es viele Figuren im Rollstuhl oder mit Down-Syndrom, weil die Behinderung schnell erkennbar ist. Mit Down-Syndrom treten jedoch nur diejenigen in Erscheinung, die sofort eingeordnet werden können. Zudem werden sie überwiegend als anhänglich und lustig dargestellt. Doch das Down-Syndrom ist keine Persönlichkeitszuschreibung. Wenn ich einen qualitätsvollen Kinder- und Jugendfilm entwickle, muss ich mehrdimensionale Figuren schaffen und gehaltvolle Geschichten erzählen. Dies schließt im besten Fall Menschen mit oder Behinderung nicht bewusst ein oder aus. Ich muss verinnerlichen, dass ich für jede Figur vielfältige Möglichkeiten in der Darstellung sowie auch in der Besetzung habe.
Einerseits gelten Darstellungen von Menschen mit Behinderungen durch Schauspieler*innen ohne Behinderung als künstlerisch besonders herausragend und preiswürdig. Andererseits werden ihre Darstellungen teils mit „Blackfacing“ verglichen: Analog zum heutigen Tabu des Schwarzschminkens von weißen Schauspieler*innen sollten Filmfiguren mit Behinderung ausschließlich von Menschen mit Behinderung verkörpert werden. Was halten Sie von solchen Forderungen?
Zunächst herzlichen Glückwunsch an alle Schauspieler*innen, die ihre Rollen überzeugend verkörpern. Es ist toll, wenn differenzierte Darstellungen gelingen – egal durch wen. Wir sind gegen Klischees und jegliche Form von Einschränkung. Nicht alle Rollstuhlfahrer*innen müssen von Rollstuhlfahrer*innen gespielt werden. Bei der Gestaltung von Rollen und Castingprozessen darf es nicht darum gehen, eine Behinderung zu besetzen oder Fördergelder durch einen möglichst diversen Cast abzugreifen. Dennoch bleibt es erstrebenswert, dass Menschen mit Behinderung verstärkt in die Entwicklung von Stoffen und Figuren sowie in der Produktion auch hinter den Kulissen eingebunden sind, damit alle vom Teamwork profitieren können. „Glanzstoff“ ist deshalb momentan dabei, neben dem Schauspiel weitere Berufsfelder im Film- und Theaterbereich für Menschen mit Behinderung zu erschließen.
Wie bewerten Sie Initiativen, wie die geplante Oscar-Reform für mehr Diversität vor und hinter der Kamera oder Tests wie den sogenannten Dis-Rep- beziehungsweise Tyrion-Lannister-Test, der die Repräsentationen von Menschen mit Behinderung in Filmen durch Kontrollfragen kritisch überprüft: Ist die Behinderung für die Filmhandlung wichtiger als die Figur? Wie realistisch wird sie dargestellt? Spielt die Figur eine aktive oder passive Rolle in der Handlung?
Grundsätzlich freue ich mich über alles, was den Blick für mehr Diversität öffnet. Solche Initiativen und Tests können für Orientierung und Sensibilisierung sorgen. Aber wir sprechen über Kunst, nicht über Pädagogik. Diversität darf keine Pflichterfüllung sein. Sie muss eine Selbstverständlichkeit sein.
Welchen Wunsch haben Sie an die Film- und Theaterwelt von morgen?
Auf seine Leidenschaft für das Schauspiel angesprochen hat mein Sohn Merlin unseren Wunsch auf den Punkt gebracht: „Es ist mein Traum, dass jeder machen kann, was er möchte.“ Nachdem ich durch die jahrelange Arbeit bei „Glanzstoff“ gesehen habe, welche Potenziale Inklusion birgt und welch neue Facetten im Film und auf der Bühne dadurch erlebbar werden, bin ich umso überzeugter von dieser Vision. Ich wünsche mir, dass das Publikum von morgen in einer diverseren, gleichberechtigten, wertschätzenden Welt lebt. Diese Zukunft könnten Film und Theater heute bereits entwerfen.
Das Inklusive Schauspielstudio ist eine Kooperation zwischen dem Schauspiel Wuppertal und „Glanzstoff – Akademie der inklusiven Künste e.V.“. Es wird im Rahmen von „Neue Wege“ durch das Kultursekretariat und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW gefördert. Mehr Informationen finden Sie unter www.wirsindglanzstoff.de