Ich sehe was 2023-6: Inklusion im Kinder- und Jugendfilm
Die Schwerpunkte haben sich verändert
Menschen mit Behinderungen im Kinder- und Jugendfilm
von Kirsten Taylor
Von „Heidi“ bis zu „1 Meter 20“ war es ein langer Weg. Die Darstellung von Menschen mit Behinderungen im Kinder- und Jugendfilm hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte maßgeblich gewandelt. Ein Streifzug, der unterschiedliche narrative Muster sowie thematische wie formale Änderungen sichtbar macht.
Das Mädchen ist wirklich zu bemitleiden: Den ganzen Tag sitzt die zwölfjährige Klara in einem Rollstuhl und wird darin „von einem Zimmer ins andere gestoßen“. Klara, so heißt es in Johanna Spyris Buch „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ (1880), ist „auf der einen Seite lahm“, aber bekanntermaßen wird sie von ihrer „Krankheit“ geheilt – dank ihrer agilen Freundin Heidi, frischer Milch und gesunder Bergluft. Als ob es so einfach wäre!
Unzählige Male ist der Roman verfilmt worden, unter anderem unter der Regie von Isao Takahata ab 1974 in Japan als Anime-Serie, die auch erfolgreich im deutschen Kinderfernsehen lief, und zuletzt 2015 von Alain Gsponer mit Bruno Ganz als Alm-Öhi. Mag dabei der Blick auf das Leben in den Alpen realitätsnaher geworden sein, so blieb Klara im Grunde immer ein liebenswertes, aber auch einsames und bevormundetes Mädchen im Rollstuhl. Erst als Heidis bester Freund Peter diesen aus Eifersucht in die Tiefe stößt, wagt – und gelingen – Klara ihre ersten Schritte allein. Ihre Figur dient somit vor allem dazu, Heidi als gutherzig und vorurteilsfrei zu charakterisieren und ihre Entwicklung anzustoßen, während Klara selbst auf ihre Behinderung reduziert wird.
Ganz so einseitig werden Menschen mit Behinderung in Kinder- und Jugendfilmen heute in der Regel nicht mehr gezeichnet. Es geht weniger um Mitleid als vielmehr um Empathie und zunehmend darum, behinderte Menschen als Mitglieder einer diversen Gesellschaft sichtbar zu machen, die in ihrem Alltag jedoch immer wieder auch auf verschiedene Grenzen und Barrieren stoßen. Es zeigt sich allerdings, dass dabei oft auf ähnliche Narrative, Konventionen und Charakterisierungen zurückgegriffen wird – und die Rollen der behinderten Protagonist*innen bislang eher selten mit entsprechenden Darsteller*innen besetzt werden.
Mut statt Mitleid
Wie wäre es, wenn man plötzlich nicht mehr gehen, hören, sehen könnte? So ergeht es der zwölfjährigen Zoé, die seit Jahren davon träumt, wie ihr Vater Jockey zu werden. Nach einer schweren Verletzung kann sie nicht mehr laufen und wahrscheinlich auch nie mehr reiten. „Zoé und Sturm“ (Christian Duguay, 2022) begleitet das Mädchen dabei, wie es ein traumatisches Erlebnis verarbeitet. Aber es geht auch um Zoés Familie, die ein Gestüt führt, mit der neuen Situation und Schuldgefühlen zurechtkommen muss und zudem mit finanziellen Nöten zu kämpfen hat. Zoé zieht sich zurück, hadert mit sich und der Welt, stößt Menschen vor den Kopf und findet sehr langsam und selbstbestimmt in ein eigenes Leben zurück. Zoé ist gewiss eine Heldin, aber keine Superheldin, der alles nebenbei gelingt. Der Film ist nah bei seiner Hauptfigur, ohne auf der Mitleidsschiene zu fahren und erzählt eine Geschichte, die Mut machen will: Das Leben ist für Zoé nun anders, aber es geht weiter und sie schafft es sogar, sich ihren Traum zu erfüllen.
Ein Schicksalsschlag, der ein ganzes Leben verändert – das ist ein dramatischer Kinostoff, bei dem es um die Fragen geht, wie jemand die eigene Situation zu akzeptieren lernt, einen neuen Sinn im Leben findet und womöglich – Achtung, Klischee! – sogar geläutert wird, wie etwa in der rotzfrechen und gar nicht politisch korrekten Tragikomödie „Vielen Dank für Nichts“ (2014), die das Regie-Duo Stefan Hillebrand und Oliver Paulus gemeinsam mit den im Film mitwirkenden behinderten Darsteller*innen entwickelt hat. Der 17-jährige Valentin, der von Joel Basman (nicht behindert) gespielt wird, ist nach einem Snowboard-Unfall querschnittsgelähmt und pöbelt seine Wut in die Welt hinaus. In einem Reha-Zentrum verliebt er sich in eine Pflegerin und erlebt, dass „Vollspasten“ mit einem Sprachcomputer auch Zoten reißen, in der Fußgängerzone absichtlich Passanten anfahren und gute Freunde, leider auch Opfer, aber auch Täter sein können. Der Film gipfelt in einem waghalsigen Tankstellenüberfall, für den die teils mehrfach behinderten Rollstuhlfahrer verurteilt werden, weil ihnen „Deliktfähigkeit“ attestiert wird – in ihren Augen ein Triumph. Valentin und seine Freunde Lukas und Titus halten ihrer Umwelt einen Spiegel vor, die zwar über Inklusion redet, aber kaum weiß, wie sie diese umsetzen soll und in der sie immer wieder auch mit offener Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen konfrontiert werden.
Erst einmal einsam und isoliert
Mit diffamierenden Bezeichnungen wird auch der querschnittsgelähmte Kurt in Wolfgang Beckers TV-Verfilmung „Die Vorstadtkrokodile“ (1977) (nach dem gleichnamigen Roman von Max von der Grün, der das Buch seinem behinderten Sohn gewidmet hat) von der titelgebenden Kinderbande abgelehnt. Die Gruppe nimmt ihn schließlich auf, aber zunächst nicht, weil die Kinder mit ihm befreundet sein wollen, sondern weil er Einbrecher beobachtet hat. Er ist es aber auch, der die Detektivgeschichte in Gang bringt, somit aktiv die Handlung der Geschichte vorantreibt und sich schließlich in der Gruppe behaupten kann. In Christians Ditters Neuverfilmung „Vorstadtkrokodile“ (2009) gehört seiner Figur, die nun Kai heißt, im Film sogar eine rasante Verfolgungsjagd im hochgetunten Rollstuhl durch die Dortmunder Innenstadt. Aber auch Kai ist zu Beginn der einsame Junge im Rollstuhl, dessen Mutter droht, ihn auf eine Förderschule zu schicken, falls er im Sommer keine Freund*innen finden sollte. Isoliert, allein, unter Druck – das ist seine Ausgangslage und durchaus eine gängige Erzählung im Kinder- und Jugendfilm
Perspektivwechsel
Filme können durch eine Wiederholung von Stereotypen und Klischees die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung beeinflussen. Sie können aber zugleich auch gesellschaftliche Vielfalt und Diversität widerspiegeln und helfen, eine andere Sicht einzunehmen und die Augen für die Lebensrealitäten behinderter Menschen zu öffnen. Und zwar nicht nur, weil sie berührende Geschichten erzählen, sondern weil Film die Möglichkeit hat, die Zuschauer*innen etwas mit anderen Augen oder Ohren erfahren zu lassen. Mika in „Das Pferd auf dem Balkon“ (Hüseyin Tabak, 2012) hat das Asperger-Syndrom und – Achtung, Inselbegabung! – ein Talent für Mathe, das er gezielt einsetzt, um ein Pferd vor dem Schlachthof zu retten. Er ist Dreh-und Angelpunkt der Geschichte. Dass er die Welt anders erlebt als etwa seine Freundin Dana, verdeutlicht der Film durch verschwommene Bilder, wenn die Stadt den sensiblen Jungen unterwegs visuell und akustisch überfordert, oder durch Animationen, wenn er in Gedanken zum Beispiel ein schief markiertes Fußballfeld geraderückt. Auch die Teenagerin Ruby im preisgekrönten Drama „CODA“ (Siân Heder, 2021) – ein US-Remake der französischen Komödie „Verstehen Sie die Béliers?“ (Éric Lartigau, 2014) – wird in der Schule als „anders“ wahrgenommen: Sie ist ein „Child Of Deaf Adults“ (CODA) und in ihrer Familie die Einzige, die nicht gehörlos ist. Sie dient ihren Eltern und ihrem Bruder als Übersetzerin, als Mittlerin zwischen den Welten und nimmt diese Rolle sehr ernst, was ihr Bruder mitunter als übergriffig empfindet. Als sie ihr Talent fürs Singen entdeckt, gerät sie in einen Konflikt zwischen ihren eigenem Lebenstraum und der Verantwortung ihrer Familie gegenüber. Wenn Ruby in Gebärdensprache mit ihrer Familie kommuniziert (die ausnahmslos von gehörlosen Darsteller*innen gespielt werden), sind diese Szenen im Film untertitelt, manchmal wird darauf aber verzichtet und in der Folge bleibt das Publikum, sofern es nicht die amerikanische Gebärdensprache beherrscht, im Ungewissen, worüber gerade gesprochen wird. Die Barrieren werden so nebenbei umgedreht.
Meine Familie und ich
Im Wesentlichen erzählt „CODA“ eine klassische Coming-of-Age-Geschichte über einen Teenager, der seinen eigenen Weg finden und sich dafür vom Elternhaus ablösen muss. Doch hier wird die Situation zusätzlich verschärft, weil Ruby für ihre Familie auch das Bindeglied zur Welt der Hörenden ist und davon auch deren berufliche Zukunft abhängt.
Filme wie „CODA“ werfen einen anderen Blick auf das Thema Behinderung. Die Kinder und Jugendlichen mit behinderten Angehörigen werden selbst Opfer von Ausgrenzung oder haben Angst, als „anders“ wahrgenommen zu werden. Dabei erzählen vor allem Filme für Kinder oft von einer Annäherung und Überwindung von Vorurteilen und vermitteln Werte wie Akzeptanz von Vielfalt, Toleranz, Respekt und Offenheit anderen Menschen gegenüber.
Der zehnjährige Waise Michi lernt in „Auf Augenhöhe“ (Evi Goldbrunner, Joachim Dollhopf, 2016) seinen vermeintlichen Vater kennen, den er sich immer als einen starken Alleskönner vorgestellt hat, zu dem er aufblicken kann. Doch Tom ist etwa genauso groß wie Michi und deshalb wird Michi im Kinderheim gehänselt. Der Film erzählt von der Annäherung der beiden, nimmt dabei aber wiederholt und wortwörtlich die Perspektive von Tom ein und vermittelt somit auch, wie sein Leben als kleinwüchsiger Mensch aussieht. Michi findet in ihm schließlich ein Vorbild, weil er erfährt, dass innere Größe wichtiger ist als Körpergröße. Auch Jack, die Hauptfigur in „Mein Bruder, der Superheld“ (Stefano Cipani, 2019) wird mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert. Er liebt seinen kleinen Bruder Gio, der das Down-Syndrom und ein ansteckendes Lachen hat und sich für laute Musik und Dinosaurier begeistert. Als Jack mit 14 Jahren auf die weiterführende Schule geht und sich zum ersten Mal verliebt, will er vor allem cool sein. Aber wie soll das gehen, fragt er sich, wenn man einen so unangepassten Bruder wie Gio hat? Er verleugnet ihn, verheddert sich in einem Netz aus Lügen und verletzt die Menschen, die ihm am nächsten sind, steht aber schließlich doch zu seinem Bruder, der über sehr viel Menschenverstand verfügt. Interessant ist hier, dass Gio nicht nur ein Vehikel für Jacks schmerzhaften Reifungsprozess ist, sondern ein eigenständiger und vielschichtiger Charakter.
Behindert, aber nicht nur
War Klara in den vielen „Heidi“-Adaptionen vor allem das Mädchen im Rollstuhl, scheint sich das Bild von Menschen mit Behinderungen in Kinder- und Jugendfilmen langsam zu wandeln, steht nicht ihre Behinderung allein im Vordergrund, sondern vielmehr ihre persönliche Entwicklung sowie ihre alterstypischen Wünsche und Bedürfnisse. In „Die Blindgänger“ (2004) von Bernd Sahling gründen die 13-jährigen sehbehinderten Mädchen Marie und Inga eine eigene Band und nehmen an einem Schüler*innenwettbewerb teil. Zugleich erzählt der Film aber auch von Maries Begegnung mit einem kasachischen Ausreißer, ersten Verliebtheitsgefühlen, Freundschaft und Selbstbehauptung. Leo, Hauptfigur in „Heute gehe ich allein nach Haus“ (Daniel Ribeiro, 2014) ist blind, aber vor allem genervt von seinen Eltern, die ihn mit ihrer Fürsorge einengen. Am liebsten möchte er fort ins Ausland, wo er „ein ganz anderer sein kann“. Doch dann lernt er Gabriel kennen. Mit ihm kann Leo tanzen, Fahrrad fahren, flirten und so erlebt er seine erste Liebe und sein Coming-out mit allen Höhen und Tiefen. Und auch in der Mini-Serie „1 Meter 20“ (María Belén Poncio, Rosario Perazolo Masjoan, Damiah Turkieh, 2021) setzt eine Person mit Behinderung selbstbewusst ihre Interessen durch. Juana sitzt im Rollstuhl und kann nur Hände und Unterarme bewegen. Die 17-Jährige schminkt sich und macht sich schön, besucht Partys, engagiert sich politisch und möchte endlich Sex haben – und sie erlebt ihr erstes Mal im Laufe der Geschichte auch, was in der Serie sehr unumwunden erzählt wird. Die Zuschauer*innen bekommen einen – womöglich überraschenden – Einblick in ihr Leben, wenn die junge Frau gemeinsam mit ihrer Clique abhängt oder auf der Behindertentoilette ihrer Schule heimlich kifft, zugleich wird aber auch deutlich, was es bedeutet, wenn jede Treppe zu einem Hindernis wird und Juana plötzlich außen vor ist, wenn ihre Freund*innen bei einer Demo spontan auf ein Dach klettern. Juana ist behindert. Sie ist auf einen Rollstuhl und die Unterstützung ihrer Mitmenschen angewiesen. Aber Juana ist noch so viel mehr, nämlich eine junge Frau mit Träumen, Wünschen und einem Leben in einer Welt, in der Menschen sehr verschiedenartig sind.