Ich sehe was 2023-5: Der besondere Kinderfilm
„Veränderungen sind in unser Konzept von vornherein eingeschrieben“
Interview von Barbara Felsmann mit Margret Albers
2013 wurde die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ ins Leben gerufen. Barbara Felsmann hat sich mit der Projektleiterin Margret Albers über Modifikationen und Anpassungen, den Auswahlprozesse und die inhaltliche Ausrichtung sowie die Veränderung der gesamte Kinderfilmlandschaft rund um den „besonderen Kinderfilm“ unterhalten.
Die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ gibt es jetzt seit zehn Jahren und mit „Mission Ulja Funk“ startet im Januar 2023 der zehnte Film. Hat sich das ursprüngliche Konzept im Laufe der Zeit verändert?
Diese Initiative macht allen Beteiligten unter anderem deshalb so viel Spaß, weil sie einem lernenden Konzept folgt, also Veränderung von vornherein eingeschrieben ist. Wir sind beispielsweise als Zweistufenmodell angetreten, mit der Förderung der ersten Stufe zur Entwicklung eines Drehbuchs und dann gleich weiter in eine Produktionsempfehlung. Wir haben dann jedoch gemerkt, dass eine gute Entwicklung mehr Zeit braucht, und daraufhin ist die Förderstufe Projektentwicklung eingeführt worden. Somit arbeiten wir nun mit einem dreistufigen Modell. Außerdem war die Initiative vom Ursprung her auf Live-Action-Filme ausgerichtet. 2015 haben wir den Fokus erweitert auf Animationsfilme, 2019 außerdem auf Dokumentarfilme. Man kann also sagen, dass sich „Der besondere Kinderfilm“ in den letzten Jahren den Bedürfnissen der Branche angepasst hat.
Ihr unterscheidet zwischen 27 Partnerinstitutionen und 17 Finanziers, die dann letztendlich die Projekte auswählen.
Der Auswahlprozess ist nicht unbedingt gleichgeschaltet mit dem Finanzierungsprozess.
Dann erzähl mal, wie der Auswahlprozess läuft!
Ich denke, wir haben da eine gute Lösung gefunden. Es schicken nicht nur die Finanziers, also die Fernsehsender und die Förderungen, jemanden in die Jury, sondern auch der Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V., die beiden Verleihverbände und die Kinoverbände dürfen je eine Person benennen. Und die Filmförderungen schicken keine Fördermitarbeiter*innen; sie berufen Spezialist*innen. Insofern handelt es sich um eine Fachjury, die die Stoffe auswählt.
Der Anteil an Kreativen und Vertreter*innen der Filmkritik ist aber trotzdem relativ gering, oder?
Das würde ich nicht sagen. Filmkritik ist nicht mit dabei, weil keiner der Filmkritik- oder Journalistenverbände in der Initiative ist. In der letzten Jury haben elf Mitglieder gearbeitet, davon vier Redakteur*innen, nämlich von KiKA, MDR, ZDF und der ARD Koordination Kinder und Familie. Außerdem hatten wir eine Stimme Verleih und eine Stimme Kino dabei. Der Förderverein hat in diesem Jahr Dascha Petuchow, Ansprechpartnerin bei der FBW für die Jugend Filmjury und Nachwuchsproduzentin eingeladen, der FilmFernsehFonds Bayern hat die Autorin und Dokumentarfilmerin Katharina Köster gesandt, von der Film- und Medienstiftung NRW war die Regisseurin Sarah Winkenstette, von der FFA der Dramaturg Roman Klink und vom BKM Manfred Schmidt in die Jury berufen worden. Von daher ist das Gremium schon breit aufgestellt.
Gab es auch mal die Idee, mit Hochschulen zusammenzuarbeiten? Die Debüts von Student*innen werden ja gern auf Festivals gezeigt.
Am Anfang, als es nur diese zwei Stufen gab und alles sehr schnell gehen sollte, mussten es erfahrene Autor*innen sein. Das hat sich über die Jahre aber verändert. Unter den zehn Filmen, die im Rahmen der Initiative realisiert worden sind, sind vier Debütfilme. Angefangen bei „Auf Augenhöhe“ über „Madison“ und „Mission Ulja Funk“ bis hin zu „Nachtwald“, dem Spielfilmdebüt von André Hörmann. Anfangs lag die Referenz, die man einbringen musste, relativ hoch: Man musste bereits einen Spielfilm geschrieben haben, der realisiert worden ist. Das wurde gelockert, heutzutage reicht ein produzierter Kurzfilm. Also da sind wir offen für junge Talente.
Gab es auch Entdeckungen im Bereich Drehbuch oder Regie?
Natürlich. Die Autorin und Regisseurin von „Mission Ulja Funk“, Barbara Kronenberg, ist so ein Beispiel oder Kim Strobl mit ihrem Debüt „Madison“. Aber auch Filmemacher*innen, die in anderen Sparten unterwegs waren, haben hier eine Chance erhalten, wie zum Beispiel André Hörmann, der sich bisher einen Namen im Dokumentarfilmbereich gemacht hat und nun seinen ersten Spielfilm für Kinder gedreht hat, oder die Regisseurin Soleen Yusef, die mit „Sieger sein“ zum ersten Mal einen Film für Kinder realisiert.
Nun eine ganz andere Frage: Werden durch die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ vorhandene Fördermittel zu sehr fokussiert und dadurch eventuell anderen Projekten entzogen? Und haben abgelehnte Stoffe dann noch eine Chance, woanders Fördermittel zu erhalten. Schließlich gehören ja die wichtigsten Fördereinrichtungen zu den Mitgliedern.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich diese Diskussion nicht verstehen kann. Als wir vor zehn Jahren angefangen haben, gab es sehr wenige originäre deutsche Kinderfilme im Kino. Das war auch ein Grund, warum die Initiative überhaupt ins Leben gerufen wurde. 2012 hatte „Wintertochter“ von Johannes Schmid den Deutschen Filmpreis gewonnen, 2013 feierte Bernd Sahlings Film „Kopfüber“ seine Premiere in der Berlinale-Sektion Generation. Was diese Filme gemeinsam haben, ist, dass beide ungefähr zehn Jahre gebraucht haben, um dann unterfinanziert realisiert zu werden. Wenn sie nicht extrem findige Produzenten gehabt hätten sowie Filmleute mit der Tendenz zur Selbstausbeutung, wären diese Filme nicht entstanden.
Ein anderer Punkt ist, was über die Jahre mit den abgelehnten Filmen passiert ist. Schönes Beispiel für einen abgelehnten Film aus dem ersten Jahrgang ist das Projekt „Alpenbrennen“. Dieser Film ist dann unter dem Titel „Amelie rennt“ (Regie: Tobias Wiemann) realisiert und 2018 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet worden. „Zu weit weg“ von Sarah Winkenstette war zwar in einer Förderstufe, ist in der Initiative nicht weitergekommen, wurde dann aber auch realisiert.
Hinzu kommt, dass alle 27 Beteiligten der Initiative für dieses Segment stärker sensibilisiert wurden und dies nun weitertragen. Die klimatischen Voraussetzungen, um Kinderfilme in Deutschland zu produzieren, haben sich also verbessert. Natürlich stärker für die, die in der Initiative, in dem Beschleuniger sind. Aber es gibt insgesamt eine höhere Sensibilität und es sind im Endeffekt mehr Filme realisiert worden.
Du hast es schon angedeutet, aber trotzdem noch einmal: Wie hat sich die Kinderfilmlandschaft seit Gründung der Initiative verändert?
Das kann man gut anhand der Filmhitlisten von der FFA über die 100 erfolgreichsten deutschen und koproduzierten Filme nachvollziehen. So sind zum Beispiel „Kopfüber“ und „Wintertochter“ nicht mal unter diesen Top 100 gewesen. Dagegen haben es alle neun „besonderen Kinderfilme“, die bis jetzt ausgewertet wurden, in die Top 100 geschafft.
Und dann muss man beachten, dass wir nach wie vor eine „Zweiklassengesellschaft“ in unserer Kinderfilmlandschaft haben. Das sind einerseits die Buchadaptionen, die sehr erfolgreich laufen und in der Regel unter den Top Ten zu finden sind oder sogar zu Spitzenreitern avancieren. So schaffte es „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ 2018 auf Platz Eins der nationalen Jahreshitliste und 2021 „Die Schule der magischen Tiere“. Das ist der eine Bereich. Der andere sind eben die Originalstoffe, die keine bekannte Vorlage im Rücken haben. Trotzdem ist festzustellen, dass mehr Filme entstehen, die auf Originalstoffen basieren, seit es die Initiative gibt. Und nicht nur als „besonderer Kinderfilm“, sondern auch so – etwa der Animationsfilm „Überflieger – Kleine Vögel, großes Geklapper“, der Spielfilm „Rock My Heart“ oder der lange Dokumentarfilm „Nicht ohne uns!“. Aber auch beim Unterhaltungskino sind wieder Originalstoffe zu finden wie „Meine teuflisch gute Freundin“ oder „Rocca verändert die Welt“. An diesem Trend hat sicher auch die Initiative einen Anteil.
Wenn man sich eure Definition anschaut, fällt schon auf, dass Worte wie „positiv“ stark betont werden. Wie haltet Ihr es mit schwierigen Themen oder auch mit Tabuthemen?
Wenn auf diese Weise nach Filmstoffen gesucht wird, werden häufig die ernsten Themen angeboten. Unter den 518 Bewerbungen seit unserer Gründung war ein Großteil Dramen. Wo teilweise das Unglück dieser Welt über die Kinderprotagonist*innen einbricht. Dieser Hang zum Sozialdrama hat vielleicht auch dazu geführt, dass der Begriff „positiv“ so häufig in unserer Definition auftaucht. Kinder eignen sich die Welt an, sie sind ja in einer ganz besonderen Lebensphase, für sie ist alles neu und sie haben ganz viele Fragen und Probleme, die aber nicht unbedingt die Probleme sind, die uns Erwachsene bewegen. Ein schönes Beispiel ist die lettische Produktion „Mama, ich liebe dich“, die 2013 bei Generation mit dem Großen Preis der Internationalen Jury sowie mit einer Lobenden Erwähnung der Kinderjury ausgezeichnet wurde. Darin geht es um einen Jungen, der mit seiner alleinerziehenden Mutter zusammenlebt. Sie sind total glücklich miteinander, bis sich der Junge in eine Lüge verstrickt und damit das gute Verhältnis zur Mutter gefährdet. Eigentlich ein kleines Thema, aber für Kinder superrelevant. Es muss nicht immer der Tod eines Elternteils thematisiert werden, sondern auch mal ganz klare, einfach erscheinende Fragen, die sich den jungen Menschen stellen.
Und was Tabuthemen anbelangt, haben wir eine Enkel-Großvater-Geschichte in der aktuellen Stoffentwicklung, wo es um Abschiednehmen und Tod geht. Aber auch so ein Film wie „Mission Ulja Funk“ hat mit seinem frischen und frechen Ansatz, mit Religiosität umzugehen, etwas Mutiges – und ist dabei durchweg positiv und unterhaltsam, obwohl er eigentlich sehr gegen den Strich gebürstet ist. Positiv heißt nicht, dass alles immer gut ausgehen muss, sondern es handelt sich eher darum, dass es für Kinder eine Perspektive gibt.
Wo findet „Der besondere Kinderfilm“ im Kino statt? Ist das Label auch beim Publikum angekommen oder ist es eher ein Label, das das Fachpublikum kennt?
Alle diese Filme hatten bisher eine supergute Festivalauswertung, national und international. Die kommerzielle Kinoauswertung ist dagegen extrem schwierig. Sie war schon vor der Pandemie schwierig und ist auch jetzt nicht einfacher geworden. Das ist ein extrem schwieriges Umfeld. Schon allein durch die Programmierung in den Kinos, die ja Auflagen von den großen Verleihern bekommen und nicht komplett frei entscheiden können. Wenn ein Film dann nur eine oder vielleicht zwei Vorführungen pro Woche hat – vorzugsweise am Nachmittag – können kein großer Zuschauer*innenschnitt und auch keine hohen absoluten Zahlen erwirtschaftet werden. Also in der kommerziellen Auswertung haben es diese Filme nach wie vor schwer. Die Produktionen sind aber wichtiger Bestandteil der Schulkinowochen, da erreichen sie ein großes Publikum und sie erreichen zudem ein großes Publikum im Fernsehen und in den Mediatheken.
Wenn ihr in die Zukunft schaut, gibt es da ein paar Dinge, die ihr verändern wollt, wo ihr neue Wege gehen wollt?
Wir möchten gern unseren relativ großen Zusammenschluss verstärkt als Experimentierfläche nutzen, zum Beispiel was das zielgruppenspezifische Entwickeln betrifft. Wie kann ich die Zielgruppe stärker schon in der Entwicklung mitdenken oder vielleicht sogar Kinder in den Prozess miteinbeziehen, damit nicht nur Gremien und Erwachsene entscheiden. Denn man muss Konsequenzen daraus ziehen, dass sich das mediale Umfeld stark verändert hat. Diese klassische Vorgehensweise – ich entwickle einen Stoff, ich produziere den Film und mache mir dann Gedanken darüber, wer den anschauen soll – ist nicht mehr zeitgemäß. Gerade auch, wenn es darum geht, in diesem sich sehr stark auf wenige große Titel konzentrierenden Kinomarkt nicht völlig abzusaufen. Wir müssen Wege und Mittel finden, um diese guten Filme, und da meine ich nicht nur die „besonderen Kinderfilme“, sondern auch all die anderen, die erfolgreich auf Festivals laufen, noch besser an die Zielgruppe zu bekommen.
Außerdem ist es eine große Aufgabe, das Kino als Ort für Filmerlebnisse wieder auf die Agenda des jungen Publikums zu setzen. Und da fände ich es toll, wenn unser Zusammenschluss, also all die Partner des „besonderen Kinderfilms“, sich zusammentun und einen Beitrag dazu leisten.