Ich sehe was 2023-5: Der besondere Kinderfilm
Der lange Atem zahlt sich aus
von Rochus Wolff
Keine zusätzliche Förderung etablierter oder bereits anderweitig veröffentlichter Stoffe, sondern ganz neue Geschichten, am besten aus dem Hier und Jetzt. Wie haben die zehn Filme, die bislang im Rahmen der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ entstanden sind, die Lücke an originären Stoffen mit Leben gefüllt? Rückblick auf ein Jahrzehnt, in dem sich etwas getan hat im deutschen Kinderfilm. Und auf Filme, über die man streiten kann und darf und soll – weil der deutsche Kinderfilm auch das gut gebrauchen kann.
Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass mit der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ zu ihrem Start vor zehn Jahren große Hoffnungen verbunden wurden. Denn der Mangel an wirklich interessanten Filmen mit originären Stoffen im deutschen Kinderkino war eine schmerzhaft spürbare Lücke. Allzu viel wurde (und wird immer noch) auf bestehende Figuren, Stoffe, Ideen zurückgegriffen. Die Initiative hat sich dann sehr spezifische Ziele gesetzt: Kinderfilme zu fördern, die ohne bestehendes Material neu entwickelt werden und die zudem Geschichten direkt aus der Gegenwart von Kindern erzählen. Glaubwürdige, starke und interessante Figuren sollen gezeigt werden, die sich in Filmen unterschiedlicher Genres tummeln.
Im Januar kommt mit „Mission Ulja Funk“ der zehnte Film in ebensoviel Jahren in die Kinos. Zeit also für eine Zwischenbilanz, aber auch Material genug: Und das ist natürlich schon der erste, große Erfolg. Dass der doch eher lockere Verbund der Initiative über diesen Zeitraum konsequent weitergemacht und gefördert hat und eine große Bandbreite von Filmen auf den Weg und in die Kinos gebracht hat.
Viel Augenmerk für die Auswahl der jungen Schauspieler*innen
Spürbar ist dabei vor allem, dass die jüngeren Filme etwas mehr Wagemut und deutlich größere Gelassenheit mitbringen. In den ersten Filmen häuften sich oft noch Themen und Figuren, als müsse alles, was sich „Der besondere Kinderfilm“ vorgenommen hatte, schon nach kurzer Frist eingelöst werden – die Ergebnisse wirkten dann zuweilen eher bemüht.
„Ente gut! Mädchen allein zu Haus“ (Norbert Lechner, 2016), der zweite „besondere Kinderfilm“ etwa, springt in seiner Aufmerksamkeit hin und her, weil zu viele Aspekte zugleich darin vorkommen sollen. Und „Winnetous Sohn“ (André Erkau) ging 2015 das Thema der amerikanischen Ureinwohner*innen auf eine Weise an, die schon damals nicht mehr ganz zeitgemäß erschien. Was aber in beiden Filmen schon durchscheint und sich durch alle zehn Filme zieht: Wie viel Augenmerk bei den Produktionen auf die Auswahl der sehr jungen Schauspieler*innen gelegt wurde und wie überzeugend, realistisch und vielschichtig sie Leben, Gefühle und Interaktionen von Kindern auf die Leinwand brachten. In „Nachtwald“ (André Hörmann, 2021) zum Beispiel, der an seinem fragwürdigen Umgang mit dem Thema Depression krankt und seine Handlung und die generell etwas unglaubwürdige Schnitzeljagd in eine seltsame pseudo-mystische Grundstimmung taucht, fesselt neben den schönen Naturbildern vor allem die Dynamik der Freundschaft zwischen den beiden Protagonisten.
Augenscheinliche Experimentierfreude
Spätestens mit „Auf Augenhöhe“ (Evi Goldbrunner, Joachim Dollhopf) war allerdings auch schon 2016 klar, dass die Initiative grundsätzlich auf dem richtigen Weg war. Auch dieser Film lebt von der Beziehung der beiden Hauptfiguren zueinander, von den Dialogen und authentischen Auseinandersetzungen. Fast hat man das Gefühl, als sei mit diesem Film auch ein Knoten geplatzt: Drei Streifen hatten es in die Kinos geschafft, die Initiative hatte eine gewisse Arbeitstemperatur erreicht und wagte sich nun auch eher in verschiedene Genres vor. Es folgten Fantasy mit „Unheimlich perfekte Freunde“ (Marcus H. Rosenmüller, 2019), Superheldinnen-Kino mit „Invisible Sue“ (Markus Dietrich, 2018), ein Tanzfilm mit „Into the Beat“ (Stefan Westerwelle, 2020), ein Bollywood-Musical mit „Träume sind wie wilde Tiger“ (Lars Montag, 2021), ein Sportfilm mit „Madison“ (Kim Strobl, 2020), ein Roadmovie mit „Mission Ulja Funk“ (Barbara Kronenberg, 2021). Der „besondere Kinderfilm“ machte sich locker und musste sich und der Welt nicht mehr mit jedem einzelnen Film beweisen, dass er was drauf hatte.
Jenseits idealisierter Welten
Zugleich blieb ein zentraler Maßstab stehen: dicht an der Lebensrealität des Publikums zu erzählen. Das hieß immer auch, dass die Filme auf Lebensumstände schauten, die der Mainstream-Kinderfilm, der gerne in idealisierten Kleinstadt-Heilewelten spielt, nicht so kannte. Genauso finden sich in den Filmen auch vielfältige Familienkonstellationen. Manche sind von sehr unterschiedliche Migrationsgeschichten geprägt (wie in „Ente Gut!“ und „Träume sind wie wilde Tiger“), es gibt alleinerziehende und getrennte Eltern. In „Madison“ zum Beispiel treffen wir auf ein geschiedenes Paar, das sich in Sorge um die Tochter problemlos zu gemeinsamem Handeln zusammenrauft, ohne dass dies je ein Drama ist. Und zugleich wird in ihren Gesprächen immer auch spürbar, wo die Konfliktlinien sind, warum sie sich getrennt haben könnten.
Darin versteckt sich eine weitere Stärke der „besonderen Kinderfilme“: Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen sind (größtenteils) komplexe, vielschichtige Charaktere – nicht nur Witzfiguren, die ein wenig peinlich in der Gegend herumstehen. Selbst im komödiantisch-schrägen „Mission Ulja Funk“, in dem sich die Großen fast alle eher peinlich benehmen, sind sie zwar genretypisch überzeichnet, aber nie grob einfach nur lächerlich. An „Mission Ulja Funk“ lässt sich überhaupt schön sehen, wie sich die Initiative gewandelt hat: Margret Albers, Projektleiterin der Initiative, hat in einem Interview bemerkt, dass ein Film wie dieser zu Beginn der Förderung vor zehn Jahren nicht bewilligt worden wäre.
Es hat sich also etwas getan, „Der besondere Kinderfilm“ ist mutiger geworden, nicht jeder Film muss mehr die Welt oder auch nur das deutsche Kinderkino retten. „Mission Ulja Funk“ ist Roadmovie und Komödie ohne Weltverbesserungsanspruch und mit der Bereitschaft, auch ein paar Leuten auf die Zehen zu treten. „Träume sind wie wilde Tiger“ ist ein deutscher Kinderfilm im Gewand eines Bollywood-Musicals – wer hätte so etwas früher überhaupt mit Geld versehen?
Es darf gestritten werden
Nein, es sind nicht alles Meisterwerke. In der Gesamtbilanz der Initiative sind einige Filme enthalten, über deren Meriten man auch herzlich streiten kann. Dem Autor dieser Zeilen, das klang schon durch, haben „Nachtwald“ und „Ente Gut!“ nicht so zugesagt. „Invisible Sue“ ist Science Fiction, das nicht ganz das Hollywood-Niveau erreichen kann, nach dem es strebt. Na und?
Andere Kritiker*innen, vor allem aber das Publikum, haben dazu ganz andere Meinungen. Und das ist vielleicht der wichtigste Erfolg der Initiative: Sie hat Filme hervorgebracht, die so interessant und eigen sind, dass man tatsächlich über sie streiten kann. Die auf der einen Seite Neues und Ungewöhnliches wagen, und dann vielleicht doch konventionell sind. Die der einen zu banal oder zu respektlos sind und für den anderen genau den spielerischen Ton treffen, den eine Komödie braucht. Aber diese Auseinandersetzungen sind es, die der deutsche Kinderfilm gut gebrauchen kann; das sind Diskussionen, die offenbar auch in die Initiative zurückgetragen werden – und vielleicht die nächsten Projekte inspirieren.
Über den „besonderen Kinderfilm“ hinaus
Es darf auch nicht unterschätzt werden, wie sehr die Arbeit auch ausstrahlt. In den letzten Jahren sind bereits drei Filme in die Kinos gekommen, die bei „Der besondere Kinderfilm“ vorgestellt wurden und/oder dann sogar für eine Weile gefördert wurden, dann aber schließlich von und mit anderen Geldgeber*innen umgesetzt wurden. „Amelie rennt“ (Tobias Wiemann, 2017) war das erste Beispiel, „Zu weit weg“ (Sarah Winkenstette, 2019) ist eines der berührendsten und ehrlichsten Freundschaftsdramen der letzten Jahre, zugleich ein Film, der das Persönliche als klar politisch markiert und thematisiert. Und schließlich kommt Anfang März „Lucy ist jetzt Gangster“ (Till Endemann, 2022) in die Kinos, eine so stilsichere wie gelungene Gaunerkomödie für ein ganz junges Publikum.
Entscheidender als die einzelnen Filme sind also wohl die Prozesse, die die Initiative in Gang gesetzt hat, die Erfahrungen, die alle Beteiligten machen, und auch die Netzwerke, die sich schon in der Stoffentwicklung und in den Vorbereitungsphasen bilden. Nicht zuletzt werden hier Talente entdeckt und gefördert, vor und hinter der Kamera.
„Der besondere Kinderfilm“ ist noch lange nicht am Ende; mit „Der letzte Sänger der Wale“ von Reza Memari ist der erste Animationsfilm in der Mache, ein Projekt, das einen langen Atem braucht. Den hat die Initiative bisher bewiesen – hoffentlich wagt sie auch weiterhin Versuche und Abenteuer. Nur mit dem Risiko, dass auch etwas schiefgehen kann, gelingen wirklich tolle Filme. Diese Erkenntnis strahlt dann vielleicht auch auf die Financiers aus, die außerhalb der Initiative wirken – damit am Ende noch viel mehr richtig tolle, ganz und gar besondere Kinderfilme in deutsche Kinos kommen. Denn wahrlich, daran herrscht immer noch Mangel.
Hinweis: Der Autor ist Mitglied im Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V., der von der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ mit der Ausschreibung für die Fördergelder beauftragt wurde, aber nicht zu den Geldgebern der Initiative gehört. Er selbst hat keine persönlichen Berührungspunkte mit der Arbeit der Initiative.