Ich sehe was 2022-4: Krieg im Kinder- und Kindheitsfilm
Erzählen über Krieg im Kinderfilm
von Rüdiger Hillmer
Wie kann man über gegenwärtige oder vergangene Kriege in Filmen für Kinder erzählen? Wie kann man dabei authentisch bleiben, aber schwierige Zusammenhänge sichtbar machen, ohne zu überfordern? Ein Ausblick auf dramaturgische Entscheidungen und Marktinteressen sowie auf Bedürfnisse von Kindern – und bewusst keine Musteranleitung, sondern eine Vielzahl an Anregungen und Gedanken.
Warum konfrontieren wir Kinder mit Filmen, in deren Zentrum (historische) Kriege oder der Holocaust stehen? Müssen wir das wirklich? Ab welchem Alter? Und was unterscheidet dann den Themenbereich Krieg von anderen herausfordernden Stoffen, in denen es um Tod und existenzielle Erfahrungen geht? Wie können wir Stoffe, die für Kinder beim Anschauen belastend sein können, so erzählen, dass sie diese Zielgruppe nicht überfordern oder gar traumatisieren?
Solche Filme entstehen immer wieder. Der Film „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟ (Caroline Link, 2019), der auf dem autobiografischen Buchklassiker von Judith Kerr beruht, erreichte dabei sogar fast ein Millionenpublikum im Kino und wurde 2020 mit dem Deutschen Filmpreis für den besten Kinderfilm ausgezeichnet. Zuletzt war „Der Pfad‟ (Tobias Wiemann, 2022) im Kino zu sehen, der für die Kinderzielgruppe das Thema Flucht im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs aufarbeitet. Der auf einem Originalstoff beruhende Film erhielt 2022 den Deutschen Filmpreis für den besten Kinderfilm und ist für den Drehbuchpreis Kindertiger nominiert. Obwohl „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟ kein expliziter Kinderfilm ist, lassen sich an beiden Filmen beispielhaft Ansätze zeigen, wie pragmatisch versucht werden kann, in der Entwicklung solcher Stoffe auf die Bedürfnisse des jungen Zielpublikums einzugehen.
Zwei Ebenen der Verantwortung
Worin besteht nun die besondere Herausforderung, Geschichten für ein junges Zielpublikum zu entwickeln, die vor dem Hintergrund historischer, von Krieg und Gewalt bestimmter Ereignisse angesiedelt sind? Im Kern wird es immer wieder darum gehen, die Balance zwischen zwei Ebenen der Verantwortung zu finden.
Einerseits steht die zu entwickelnde Geschichte in einem spezifischen historischen Kontext. Sie ist daher nicht völlig frei in dem, was erzählt wird. Denn aus diesem Kontext ergibt sich der Anspruch auf eine historische Genauigkeit gerade bei jenen Aspekten, die mit Gewalterfahrungen zu tun haben, und damit auf eine hohe Authentizität des Erzählten. Ich möchte hier nicht den Begriff der „historischen Wahrheit“ problematisieren, der noch einmal ein eigenes Thema wäre. Kurz gesagt gilt jedoch, die Erzählung an belegbaren Fakten zu orientieren.
Anderseits sind traumatisierende Erfahrungen bei den zuschauenden Kindern zu vermeiden. Was muss notwendig erzählt werden, um den Kindern die Grausamkeit der historischen Ereignisse verständlich zu machen beziehungsweie sie damit auch emotional zu konfrontieren? Wo aber ist es legitim, Details wegzulassen oder zu vereinfachen, um Kinder zu schützen? Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld in der Entwicklung dieser Stoffe, das vor allem im Detail oft schwierig aufzulösen ist.
Genres und Gattungen – und deren Konsequenzen
Dabei gilt es zunächst einmal zu unterscheiden, ob es sich um ein im Wesentlichen dokumentarisches oder ein fiktionales Format handelt, beziehungsweise welche Mischform angestrebt wird. Hier stellt sich die dramaturgische Frage, wie nah das Projekt an den historisch belegbaren Fakten bleiben soll. Je dokumentarischer das Projekt angelegt ist, desto größer ist auch der Anspruch auf Faktizität und Authentizität. Die Mischung dokumentarischer und fiktionaler Elemente bietet wiederum die Möglichkeit, die angesprochene Balance durch deren Wechsel herstellen zu können: Auf eine emotional belastende (fiktionale) Spielszene mag eine (dokumentarische) Sequenz folgen, in der eher sachlich der Hintergrund erläutert wird. Beispielhaft sei dafür auf die Dokudrama-Reihe „Der Krieg und ich‟ (2019) verwiesen, die in acht Episoden den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust für Grundschulkinder aufbereitet.
Dagegen wird ein fiktionales Projekt für sich immer auch stärker die Freiheit der Kunst in Anspruch nehmen können. Daraus entsteht für eine solche Erzählung ein anderes Spannungsfeld zwischen der Nähe zur „historischen Wahrheit“ und der Vermeidung überfordernder Angsterfahrungen von Kindern, zum Beispiel auf der Ebene des Gezeigten.
Wenn man darüber hinaus verschiedene fiktionale Genres betrachtet, stellt sich die Frage nach der Wirkung herausfordernder Szenen, negativ charakterisierter Figuren oder Gewaltdarstellungen noch einmal anders. Das realistische Drama, der Historienfilm, der Märchenfilm, das Fantasy-Universum, die Animation – all diese Bildwelten unterscheiden sich nicht zuletzt durch ihr Verhältnis zur Realität, also dadurch, wie überhöht, märchenhaft oder fantastisch sie angelegt sind. Die Regeln dessen, was hier abseits von unserer Alltagsrealität möglich ist, werden jeweils anders definiert. Kinder sind schon sehr früh solchen ganz unterschiedlichen erzählerischen Welten ausgesetzt und lernen nach und nach, sie zu unterscheiden. Sie entwickeln Medienkompetenz. Die Entscheidung für ein realistisches Drama hat also andere Konsequenzen für die Erzählweise, als wenn ich einen Animationsstil wähle, so wie es etwa die französische Animationsserie „Die langen großen Ferien‟ (2015) macht.
Aber ändert beispielsweise die Abstraktion der Animation auch nennenswert die Wirkung beispielsweise einer angsteinflößenden Szene, weil ein Kind sich darin sicherer fühlt als in einer Welt, die in ihrem Aussehen der Alltagserfahrung sehr nahe ist? Schaffen historische Kostüme und handyfreie Geschichten genügend Distanz, wenn ich zugleich emotionale Nähe zu den Figuren herstellen will? Für die Stoffentwicklung stellt sich hier vielleicht in erster Linie die Frage, welches Genre für das, was erzählt werden soll, angemessen erscheint.
Die beiden oben genannten Filme „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟ und „Der Pfad‟ unterscheiden sich sicher auch darin, wie mainstreamig das jeweilige Projekt erzählt werden sollte. Ein größeres Budget wird sich immer auch darin abbilden müssen, wie zugänglich der Film für ganz unterschiedliche Zielgruppen ist (Familienfilm). Hier werden wesentliche Weichen bereits während der Stoffentwicklung dadurch gestellt, dass Überforderungen weitgehend vermieden werden dürften. Eine Filmempfehlung wie jene der „Tagesthemen‟ zu „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟ bringt diese Haltung optimal auf den Punkt und könnte vom Verleih stammen: „Leicht und optimistisch, ohne zu verharmlosen. Für Kinder und Erwachsene.“ Ist hier also die Quadratur des Kreises gelungen?
Zielgruppe Grundschulkinder
Warum aber sollten derartige Stoffe für Kinder im Grundschulalter überhaupt erzählt werden? Die Antwort gibt die Alltagsrealität: Kinder in diesem Alter sind mit Themen wie Krieg in Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Holocaust konfrontiert. Dies manifestiert sich vor allem durch Schlagworte und Begriffe. So wissen 50 bis 80 Prozent der Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren, dass Adolf Hitler eine Art böser Mann gewesen ist. Sie haben den Begriff Jude schon gehört, wissen in der Regel aber nicht, was damit zu verbinden ist (siehe: Televizion 31/2018/2, S. 48). Insgesamt fehlt Kindern in diesem Alter allerdings noch die Möglichkeit, diese einzelnen Kenntnisse sinnvoll einzuordnen. Im deutschen Schulsystem wird der Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht erst ab der 9. oder 10. Jahrgangsstufe behandelt. Bis dahin bleibt es also mehr oder weniger dem Zufall überlassen, was in Deutschland lebende Kinder über diese wichtige Phase lernen. Zugleich hat sich gezeigt, dass Vorurteile, die sich im Grundschulalter gebildet haben, besonders hartnäckig halten.
Hier stellt der anspruchsvolle Kinderfilm eine Möglichkeit dar, durch eine kindgerechte Erzählung jenen Hintergrund zu liefern, durch den sie ihre vereinzelten Wissensinseln zu einem Grundverständnis über diese historische Epoche verbinden können.
Dramaturgische Entscheidungen
Aber wie baue ich die dafür notwendigen Brücken, über die Grundschulkinder sicher in diese Auseinandersetzung mit einer Geschichte gehen können, die mit extremen menschlichen Leiderfahrungen und unzähligen Toten verbunden ist?
Eine Möglichkeit, damit umzugehen, soll hier nicht unerwähnt bleiben: die Parabel, in der gleichnishaft eine Geschichte erzählt wird, die für etwas anderes steht. Sie stellt gerade für die jüngere Zielgruppe durchaus einen Weg dar, die übergreifenden Themen, die mit kriegerischen Konflikten unmittelbar verbunden sind, zu erzählen, ohne den genauen historischen Kontext in den Vordergrund zu stellen. Beispielhaft dafür steht die Wirkungsgeschichte des französischen Romans „Der Krieg der Knöpfe‟ von Louis Pergaud (1912), der mehrfach verfilmt wurde (darunter der französische Klassiker aus dem Jahr 1962 von Yves Robert). Erzählt wird die Auseinandersetzung zweier Jungenbanden aus zwei verfeindeten Dörfern. Obwohl der Roman vor dem Ersten Weltkrieg erschien, wird seine Geschichte seither vor allem als Parabel gegen den Krieg und für die Verständigung der Völker verstanden.
Wenn man sich gegen diesen Weg entscheidet, stehen Entscheidungsprozesse an, die über rein dramaturgische Fragen hinausgehen. Dabei sind die an der Stoffentwicklung beteiligten Personen oft keine Fachleute in Bezug auf Entwicklungspsychologie, Pädagogik oder Sozialforschung. Deshalb erscheint es bei Projekten, die sich solchen herausfordernden Stoffen widmen, geboten, sich der Erkenntnisse dieser Forschungsbereiche zu bedienen. Vorbildlich dokumentiert ist dies für die Dokudrama-Reihe „Der Krieg und ich‟. Dabei war das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI, München) auf verschiedenen Stufen eingebunden (siehe: Televizion 31/2018/2, Vorurteile, Rassismus, Extremismus).
Auch aus diesen Forschungsergebnissen ist ganz allgemein abzuleiten, dass es wichtig ist, sich bei der Vermittlung von (historischem) Wissen auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist. Im Fiktionalen bedeutet dies: Was ist an historischem Hintergrund wichtig, um die fiktionale Geschichte zu verstehen? Und was davon ist wichtig, um aus den Wissensinseln zumindest einen Inselverbund zu schaffen, der historische Einordnung ermöglicht? Die Schwierigkeit dabei liegt weniger im theoretischen Ansatz als in der Praxis. Die Komplexität der Historie ist Szene für Szene so herunterzubrechen, dass sie für Kinder auf Augenhöhe verständlich erzählt wird, diese emotional nicht überfordert, die Erzählung zugleich aber dem historischen Kontext gerecht wird.
Überschaubarkeit und Anknüpfung an Alltagserfahrungen
Dem geht zunächst einmal ein Entscheidungsprozess inhaltlicher Natur voraus. Der oben bereits angedeutete Vorteil der fiktionalen Erzählung ist hier, dass sie nicht auf die womöglich überfordernden Archivbilder zurückgreifen muss, sondern eigene Bildwelten schaffen kann. „Der Pfad‟ wählt dafür die Reduktion auf eine kleine, überschaubare Welt. Nicht große Armeen kämpfen auf unüberschaubaren Arealen gegeneinander. Vielmehr sehen wir immer nur wenige Soldaten oder Partisan*innen. Es sind Dörfer und Siedlungen, die zerstört werden und die umgeben sind von einer zwar oft kargen, aber doch scheinbar intakten Natur.
Daneben stehen der Dramaturgie bewährte Hilfsmittel zur Verfügung, die auch sonst in der Stoffentwicklung eine zentrale Rolle spielen. Zunächst gilt es, die jungen Zuschauer*innen dort abzuholen, wo sie sich befinden, indem man Konstellationen wählt, die auch heute noch Teil ihrer Alltagserfahrung sind: Familie, Freunde, Schule usw. Durch einen Konflikt kann man dies mit emotionalen Themen verbinden, die für Kinder bedeutsam sind: Zusammenhalt, Vertrauen, Zugehörigkeit, Geborgenheit oder ähnliches. Es sind solche universellen emotionalen Themen, durch die eine Bindung der Kinder zu den Figuren hergestellt wird, die dadurch zu Identifikationsfiguren mit zahlreichen Berührungspunkten werden.
Spannung und Entspannung
Für den weiteren Handlungsverlauf dürfte das wichtigste Element der Wechsel von Spannung und Entspannung sein. Das lässt sich sowohl auf den Spannungsbogen über die gesamte Länge der Filmerzählung beziehen. Es gilt aber auch für kleinere Einheiten wie etwa einer zusammenhängenden Sequenz von spannenden Szenen, die zum Beispiel durch ein komisches Ereignis gebrochen wird. Exemplarisch lässt sich das in „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟ an dem kleinteilig organisierten emotionalen Wechsel der Situationen sehen, in der die Familie gezeigt wird: Getragen von einem generell sehr liebevollen und wertschätzenden Umgang gibt es immer wieder Streit und Konflikt, es wird von Bedrohungen berichtet, aber recht schnell kommt es zur Versöhnung und einer Prise Humor (vor allem im Dialog). Für komische Entlastung (comic relief) werden gern auch speziell charakterisierte Figuren verwendet. Der süße Hund des Jungen in „Der Pfad‟ ist dafür ein vielleicht allzu naheliegendes Muster.
Auch die Stimme eines Erzählers oder einer Erzählerin kann ein Mittel sein, überfordernde Szenen aufzufangen. Durch diese Art des Einsatzes von Voice-over kann die mögliche starke emotionale Reaktion dadurch gebrochen werden, dass die Situation sachlich eingeordnet wird, oder dadurch, dass sie einen positiven Ausblick ermöglicht.
Kinder müssen durchaus nicht in dem Sinne geschont werden, dass keine Figur zu Schaden kommt. Am Ende wird aber tendenziell eine Geschichte erzählt werden, die davon handelt, wie eine existenzielle Bedrohung überwunden werden kann und wie die Figuren daran gewachsen sind.
Das alles ist nicht ungewöhnlich und gehört zum Standardrepertoire der Dramaturgie. Allerdings sind Sorgfalt und Verantwortung, mit der diese Mittel auf den unterschiedlichen Ebenen angewendet werden, noch einmal wichtiger, je fordernder und tendenziell überfordernd der reale historische Hintergrund ist, der miterzählt werden soll. Und je wichtiger es für den Stoff ist, Informationen über die Historie zu vermitteln, desto weniger dürfte man sich auch darauf verlassen können, dass das betreffende historische Setting allein bereits eine ausreichende emotionale Distanz für die zuschauenden Kinder schafft. Dies gilt umso mehr, als auch die Umstände der Auswertung ganz unterschiedlich sein können.
Den Rezeptionskontext berücksichtigen
Im Kino macht es einen Unterschied, ob es im Anschluss an die Vorführung eine Gesprächsmöglichkeit gibt. Ein Spielfilm, der womöglich von Kindern allein zu Hause ohne Begleitpersonen geschaut wird, ist anders zu erzählen als eine dokumentarische Reihe, die bei ihrer linearen Ausstrahlung in ein Begleitprogramm eingebettet ist. Das gilt umso stärker, wenn eine Verlängerung durch Angebote im Internet zugänglich ist, wo die Kinder sich zu den Fragen informieren können, die sich – wie bei „Der Krieg und ich‟ – ihnen persönlich stellen. Auch eine Auswertung im schulischen oder außerschulischen Kontext kann Auswirkungen darauf haben, wie viel man im Film selbst den jungen Zuschauer*innen zumuten will. Im optimalen Fall regt der Film, egal in welchem Kontext er geschaut wurde, die Kinder dazu an, mit dem Gesehenen nicht allein bleiben zu wollen und nachzufragen.
Aus alledem ergibt sich, dass es keine allgemeingültige Regel gibt, wie man herausfordernde Themen für Kinder „richtig“ erzählt. Vielmehr kommt es bei jedem Projekt ganz spezifisch darauf an zu überlegen, für wen genau man welche Geschichte wie erzählen und dann auswerten will.