Ich sehe was 2022-3: Referenz-Kinderfilme

Nur Mut!

Dramaturgie für Kinderfilme

Was macht einen guten Kinderfilm aus, der sich über Jahre hinweg behaupten kann? Ein Blick auf vermeintliche Rezepte und Erfolgsgaranten, auf die Suche nach ehrlicher Tiefe und auf das Gespür für die Bedürfnisse und Erfahrungen des angestrebten jungen Publikums. Und vor allem: ein Plädoyer für mehr Mut und Vertrauen beim Entwickeln neuer Stoffe für Kinderfilme, die Formeln hinter sich lassen.

Von Beate Völcker

"Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess" (c) Bert Nijman, Bind, Ostlicht Filmproduktion, Farbfilm

Man nehme: Coole Kids (Check: Klamotten? Sprüche? Gadgets?), Story mit Potenzial für Abenteuer, Spaß und Spannung (Check: Krimi? Anderes Genre?), Tiefe reinkneten (Check: Mobbing? Verstorbenes Elternteil? Neues Zuhause?), einfache Erwachsenenfiguren (Check: Typen/Stereotypen? Dauergestresste Eltern? Tollpatschige Antagonist*innen?), witzige Elemente (Check: Inserts? Animationen? Gedankenflashes?). Klingt das nach Einheitsbrei, Fast Food und tausendfach gesehen? Stimmt. Bewegende, berührende, besondere Kinderfilme entstehen so nicht. Und schon gar keine Filme, die zu Fixpunkten werden können, weil sie das erzählerische Feld variieren und dabei weiten oder ihnen etwas Neues gelingt oder sie einfach so unerhört gut sind.

Geschichten erdenken, erträumen, erspüren

Gibt es also kein Rezept für die Entwicklung besonderer Kinderfilme? Nein, das gibt es nicht, weder für Kinderfilme noch für Filme überhaupt. Und trotz aller Sehnsucht danach wissen wir es doch – oder warum werden nicht ausnahmslos nur tolle Drehbücher geschrieben? Stattdessen will jede Geschichte von ihrer Autorin oder ihrem Autor tief erdacht, erträumt und erspürt werden und ihre eigene Form finden. Aber es gibt – natürlich – dramaturgisches Handwerk, das dabei hilft. Der dramaturgische Handwerkskasten beinhaltet Kategorien des (filmischen) Erzählens wie Figur, Plot, Struktur, Thema, narrative Modelle und wie diese umgesetzt werden können.

Modelle – das klingt schon wieder nach Rezept. Aber: Sie dürfen nicht als Anleitungen missverstanden werden. Sie beschreiben vielmehr auf einer abstrakten Ebene Gesetzmäßigkeiten unterschiedlicher narrativer Formen. Die im Film am häufigsten verwendete klassische dramatische Form geht in ihren Grundzügen auf Regeln zurück, die schon Aristoteles vor 2000 Jahren in seiner „Poetik“ ausgeführt hat. Im Zentrum steht eine Hauptfigur, die in einen Konflikt gerät und ihn lösen will, indem sie aktiv handelnd ein bestimmtes Ziel verfolgt. Das darf nicht einfach zu erreichen sein! Im Gegenteil. Je unüberwindlicher die antagonistischen Kräfte scheinen, je größer die Herausforderungen und damit verbundenen Anstrengungen für die Figur sind, desto mehr Spannung und Anteilnahme entstehen, ob sie ihr Ziel erreichen wird. Daneben gibt es andere Formen, wie Episodenfilme oder Ensemblefilme, die mehrere Hauptfiguren gleichberechtigt erzählen. Epische Formen werden verwendet, um Figuren zu erzählen, die sich vor ein Problem gestellt sehen, aber nicht aktiv handelnd ein konkretes Ziel verfolgen, die verhaltener agieren, beobachtend sind oder auf verschiedenen Wegen ihre Situation verändern wollen. Kinderfilme können alle diese Formen annehmen, auch wenn reine Ensemblefilme eher selten sind. Aber grundsätzlich unterscheidet sich die Dramaturgie eines Kinderfilms nicht von der eines Films für Erwachsene.

"Der kleine Eisbär" (c) Warner

Kindliche Erfahrungen kennen und ernst nehmen

Kinderfilme zeichnen sich durch zwei Merkmale aus: Sie erzählen Geschichten von Kindern und für Kinder. Kinder sind die Hauptfiguren und die Zielgruppe. Die Sonderfälle, wenn ein Erwachsener die Hauptfigur in einem Kinderfilm ist, wie etwa Herr Taschenbier in „Das Sams‟, sollen hier ausgeklammert bleiben. Nur kurz angemerkt: Sie verlangen die ganz hohe Kunst, eine Erwachsenenfigur so zu gestalten, dass Kinder sich mit ihr identifizieren können, ohne sie vereinfachend zu banalisieren. Aus den beiden Merkmalen lassen sich allerdings einige dramaturgische Überlegungen destillieren, die bei der Entwicklung eines Kinderfilmstoffes hilfreich sein können.

Wachsen und Entwicklung sind zentrale Begriffe, wenn man über Kinder und kindliche Hauptfiguren nachdenkt. Kinder wollen „groß“ werden, die Welt um sich herum entdecken und begreifen, den eigenen Platz darin finden und sich selbst verstehen. Das ist eine starke Triebfeder, getragen von Offenheit und großer Neugierde. Kinder dürfen dabei keinesfalls als unfertige Wesen betrachtet werden. Sie haben ihre eigenen Voraussetzungen, die auch daraus resultieren, dass ihr Zugang zur Welt weit weniger durch bereits verinnerlichte Vorstellungen gefiltert – oder verstellt! – wird wie bei Erwachsenen. Zu ihnen gehören: Spontanität, Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Konkretheit im Umgang mit Dingen, eine große Erlebnisfähigkeit und nicht zuletzt die Fantasie, die Erfahrungsraum und Werkzeug zugleich ist. All dies ist Resonanzboden für eine kindliche Hauptfigur. Je stärker es einem Film gelingt, spezifisch kindliche Erfahrungen in seiner Hauptfigur mit zu transportieren, umso größer das Potenzial für Identifikation und ein reiches Filmerleben.

Der tiefere Sinn

Die Geschichte, die eine Hauptfigur erlebt, soll für sie – und damit auch für das Publikum – einen tieferen Sinn haben. Das ist mit der flapsigen Formulierung „Tiefe reinkneten“ im Anti-Rezept am Anfang des Textes gemeint. Tiefe entsteht nicht durch einen „ernsthaften“ oder schwierigen Umstand im Leben der Hauptfigur, der aber äußerlich bleibt. Tiefe entsteht durch eine Erfahrung, die derart fundamental und prägend ist, dass sie die Hauptfigur in ihrem Inneren verändert. Ihre Geschichte muss dabei nachvollziehbar und glaubhaft erzählen, dass sie am Ende anders dasteht als am Anfang. Im Kinderfilm ist sie sehr oft ein Stück gewachsen. Das kann sich auf sehr unterschiedliche Weise zeigen und hängt – natürlich – auch vom Alter ab. Lars in „Der kleine Eisbär‟ (Piet De Rycker, Thilo Graf Rothkirch, 2001) kann am Ende schwimmen, eine echte Leistung für den etwa fünfjährigen Jungen, den Lars darstellt. Jedes Kind versteht das und auch alle Erwachsenen, wenn sie sich erinnern können, was für ein Meilenstein das Meistern bestimmter motorischer Fähigkeiten in der Kindheit bedeutet hat. Der zehnjährige Sam in „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess‟ (Steven Wouterlood, 2020), einem der herausragenden Kinderfilme der letzten Jahre, schlägt sich dagegen mit philosophischen Fragen herum. Angesichts des unausweichlichen Tods am Ende jeder Existenz will er sich vorsorglich im Alleinsein trainieren – und begreift im Verlauf seiner Geschichte, dass vor dem Tod das ganze Leben steht und für ein gelingendes Leben die Gemeinschaft mit anderen Menschen zu pflegen viel wichtiger ist, als sich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Dramaturgisch spricht man von der Entwicklung der Hauptfigur, dem Figurenbogen oder auch von einem tiefen, unbewussten Bedürfnis, das durch die Geschichte gestillt wird. Aber wie man es auch nennt: Ohne diese Ebene, den tieferen Sinn, wird es kein Film, der in Erinnerung bleibt.

"Kopfüber" (c) alpha medienkontor

Mit bei der Figurenentwicklung

Hauptfiguren sollen sympathisch sein, liest man oft. Und tatsächlich, auch wenn es im Erwachsenenfilm in den letzten Jahren eine Entwicklung hin zu gebrochenen oder sogar unsympathischen Hauptfiguren gegeben hat: Kinder wollen sich mit den Hauptfiguren identifizieren können. Der zehnjährige Sascha kommt in den ersten Szenen von „Kopfüber‟ (Bernd Sahling, 2011) nicht gerade sympathisch rüber: Er kann noch nicht richtig lesen, klaut und lügt obendrein. Trotzdem sind auch Kinder von Anfang an dran an seiner Geschichte. Weil er eine unerhörte Chuzpe an den Tag legt, aber vor allem, weil er mit einem riesengroßen Problem zu kämpfen hat, das rasch Anteilnahme weckt. Sascha hat ADHS, gilt als Problemkind und kommt nicht klar, nicht in der Familie, nicht in der Schule. Und auch wenn die wenigsten Kinder die Erfahrung seiner Krankheit teilen können, so haben alle Kinder auf unterschiedliche Weise in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, mit Anforderungen der Erwachsenenwelt nicht zurecht zu kommen und dafür eine Lösung finden zu müssen.

Es gehört Mut dazu, eine Kinderfigur wie Sascha zu schreiben. Und es gehört Mut dazu, einen ernsthaften Konflikt für Kinder zu erzählen, und zwar konsequent, realistisch und ohne ihn „kleiner“, „verdaulicher“ machen zu wollen. Ein Reflex, der in der Entwicklung von Drehbüchern für Kinder immer wieder schnell entsteht. Diesen Mut brauchen die Autor*innen, diesen Mut brauchen aber auch alle, die für die Entstehung von Kinderfilmen als Produzent*innen, Sender oder Förderer in der Verantwortung stehen. Es gehört auch der Mut dazu zu vertrauen, den Kreativen, aber auch dem Kinderpublikum. Kinder leben nicht in einer heilen Kinderwelt und sie nehmen es erfahrungsgemäß immer sehr dankbar auf, wenn Filme ihre Welt mit all ihren möglichen Konflikten ernsthaft reflektieren.

Zwischen Entwicklungspsychologie, individuellen Seherfahrungen und intuitivem Wissen

Auch wenn Kinder offen sind und neugierig und viel verstehen und oft mehr, als Erwachsene ihnen manchmal so zutrauen, sind ihre Filmwahrnehmung und ihr Filmverständnis natürlich bestimmt von ihrem psychologischen Entwicklungsstand. Wie lange können sie sich konzentrieren? Ab wann sind sie in der Lage, eine Geschichte nicht nur episodisch wahrzunehmen, sondern einzelne Handlungsmomente sinnhaft zu verknüpfen? Wie gut gelingt bereits der Umgang mit Gefühlen und Spannung? Ab welchem Alter ist die Fähigkeit ausgeprägt, unterschiedliche Perspektiven zueinander in Beziehung zu setzen? Oder sind filmische Erzählstrategien wie Parallelmontagen oder Rückblenden verstehbar?

Nun sind Kinder keine homogene Gruppe und individuelle Unterschiede, nicht zuletzt durch unterschiedliche Seherfahrungen, beträchtlich. Aber vor allem bei Filmen für Vorschulkinder oder die Altersgruppe der Sechs- bis Achtjährigen sind Kenntnisse über ihre Rezeptionsweise wichtig und das sorgfältige Nachdenken über diese Fragen lohnenswert. Aber: Das Erfinden und Gestalten einer Filmgeschichte für Kinder hat auch mit intuitivem Wissen über das Publikum zu tun. So ist beispielsweise bekannt und belegt, dass Eltern ein intuitives Wissen darüber haben, was ihre Kinder verstehen können, und dass sie ihre Erzählungen oder Informationen dementsprechend modellieren. So ähnlich ist es beim Filmemachen auch. Das klingt leicht – ist es aber ganz und gar nicht, was sicherlich ein Grund dafür ist, dass es so wenig tolle Filme gerade für jüngere Kinder gibt. Filme, die eine vielschichtig gezeichnete Kinderfigur voller Neugierde und Entdeckerlust auf eine Reise schicken, die für einen fünfjährigen Jungen oder ein sechsjähriges Mädchen oder siebenjährige Zwillinge einen tieferen Sinn ergibt. Auch diese Filme werden dringend gebraucht. Also: Nur Mut!

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