Ich sehe was 2022-3: Referenz-Kinderfilme

Kinderfilme, die Geschichte schreiben

Klassiker auf den ersten Blick und Botschafter ihrer Zeit auf den zweiten

Geschmäcker mögen verschieden sein. Aber immer wieder gibt es tolle Kinderfilme, auf die sich viele einigen können und die für eine gewisse Zeit zu festen Bezugspunkten und Orientierungsmarken für alles Folgende werden – nicht nur in Förderanträgen, sondern auch in der Diskussion über Kinderfilme. Was macht diese Filme so besonders? Was machen sie zu ihrer Zeit so richtig? Und inwiefern verändern sie den Blick darauf, was Kinderfilm ist und sein kann? Eine Feldvermessung.

Von Christian Exner

"Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess" (c) Bert Nijman, Bind, Ostlicht Filmproduktion, Farbfilm

Es gibt Filme, über die es keine zwei Meinungen gibt. Kritiker*innen und Publikum stoßen in dasselbe Horn bei dem Urteil: Meisterwerk und Klassiker auf den ersten Blick. Ein solcher Film war „Billy Elliot – I Will Dance‟ (2000) von Stephen Daldry. Im Jahr 2001 war ich in der Jury des Deutschen Jugend-Videopreises. Der Video-Anbieter von „Billy Elliot‟ hatte sich beworben und es war klar, dass sein Film das Rennen macht. Einhelliger und einstimmiger war eine Jury-Entscheidung selten. Etwas kurios nur, dass der Film im Kino im Erwachsenenprogramm lief. Nun also der Jahrespreis für die beste Videoveröffentlichung für Kinder ... Doch die Perspektive des nordenglischen Arbeiterjungen Billy, der sich nichts Schöneres vorstellen kann, als zu tanzen, ist so sehr die von Kindern, dass es ein Fehler gewesen wäre, jungen Menschen diese großartige Geschichte mit ihrer feinsinnigen Inszenierung vorzuenthalten. „Billy Elliot‟ konnte einen auf den Gedanken bringen, dass die Sparten Kinderfilm und Erwachsenenfilm nicht künstlich getrennt sein müssen. Und auch, dass ein guter Film nicht nur von einer perfekten Inszenierung lebt, sondern dass Figuren und Plot Stimmungen und Strömungen seiner Zeit und seiner Gesellschaft zum Schwingen bringen.

Konflikte mit starkem Zeitbezug

Filme wie „Billy Elliot‟ werden in der Entwicklung und Förderung von Kinderfilmprojekten oft als Referenz genannt. Nach dem Motto: „Unser Film soll ein Werk werden wie ’Harry Potter’, ’Ronja Räubertochter’, ’Billy Elliot’ und so weiter.“ Ja, das sind gewiss Anhaltspunkte und respektable Vorbilder. Doch das Besondere an „Billy Elliot‟ liegt zu einem großen Anteil auch an seinem Zeitbezug. Da stellt sich die Frage, wie viel eine Referenz losgelöst vom Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen wert ist.

Nehmen wir „Billy Elliot‟ einmal unter die Lupe und schauen uns diesen Bezug an: Obwohl die Handlung in der Vergangenheit spielte, war der Konflikt des Jungen Billy tatsächlich ganz gegenwärtig zu Beginn der 2000er-Jahre. Das war die Zeit der einsetzenden Gender-Debatten. Billy hat ein Interesse am Tanzen, mit dem er die Erwartungen an das Rollenmuster von Jungen sprengt. Er wächst auf in einem Milieu, das sich im Arbeitskampf aufreibt. Als Bergarbeiter bieten sein militanter, älterer Bruder und sein resignierter Vater der Thatcher-Politik in einem unerbittlichen Zechen-Streik die Stirn. Sie sind chancenlos. Der Neoliberalismus wird ökonomisch und politisch siegen. Als der Film erscheint, hat diese Politik ihren Zenit noch nicht überschritten. Doch zumindest wird es den Vertreter*innen dieser Politik nicht gelingen, eine Restauration der öffentlichen Moral durchsetzen.

Billy, der Junge, der sich keinen Deut um Rollenerwartungen schert und konsequent seinen eigenen Vorlieben folgt: Er steht für die persönliche Freiheit in einer modernen Identitätsentwicklung. Nur weil das Leben eines Arbeiterjungen hart ist, muss er nicht automatisch den klassischen Männersport Boxen betreiben. Nach dem Erlebnis dieser mitreißenden Kindheitsgeschichte: Wie halbherzig und betulich stehen auf einmal im Vergleich all die gewöhnlichen Kinderfilme da? Oder liegt es einfach nur am Unterschied zwischen Arthouse und Genre, dass einem die herkömmlichen Tierabenteuer-, Krimi-, Märchen- und Fantasy-Filme plötzlich fad und halbherzig erscheinen?

"Billy Elliot" (c) StudioCanal, Studiocanal GmbH, UIP

Referenz als Remix

Es streben offenbar viele Filmemacher*innen nach ihrem persönlichen „Billy Elliot‟-Meisterwerk oder einem Kult-Ereignis wie „Harry Potter“. Wenn es um Trickfilme geht, dann sind Animationen aus den Studios Ghibli, Pixar und Laika das Maß der Dinge. Doch die üblichen Vorbilder werden oftmals recht zusammenhanglos als persönliche Favoriten genannt. Referenz bedeutet in diesem Fall nicht im engeren Sinn, dass die Filme über ein Stilmuster, ein Thema oder einen Plot verfügen, der dem eigenen Vorhaben ähnelt. Es geht nur um eine Art „Name Dropping“ von Figuren, die ikonisch geworden sind. Ronja Räubertochter, Pippi Langstrumpf und Billy Elliot sind wahrlich Spitzenreiter. Im Animationsfilm überstrahlen „Prinzessin Mononoke‟ (Hayao Miyazaki, 1997), „Chihiros Reise ins Zauberland‟ (Hayao Miyazaki, 2002) oder „Coraline‟ (Henry Selick, 2009) alles. „Harry Potter und der Stein der Weisen‟ (Chris Columbus, 2000) unterdessen hat die Dimensionen der Fantasy nicht nur in Kinder- und Jugendliteraturwerken gesprengt. Der Filmzyklus trumpft mit dem Production Value auf, der nötig ist, um die Zauberwelten der Rowling-Romane adäquat zu transportieren. Doch zwischen diesen Filmen liegen Welten. Wer sie konzeptlos als Referenzen aneinanderreiht, zeigt wenig Gespür für Differenzierung. Ein Remix der populärsten Motive und Figuren wird wohl kaum die Qualität eines frischen Originals erreichen. In der puren Huldigung dieser Filme übersieht man schnell, dass sie sich jeweils in einer Zeit mit spezifischen pädagogischen Ambitionen als besonders herausgeschält haben.

Wer eigene durchsetzungsstarke Werke schaffen will, sollte sich bewusst sein, dass selbst die Zauberwelt Hogwarts – mag sie auch noch so sehr in Fantasy entrückt sein – letztlich eine Folie ist für Bewährungsproben und altersspezifische Entwicklungsschritte junger Menschen. Jedes Kind durchläuft symbolisch gesehen die Karriere eines Zauberlehrlings. Betrachten wir weitere der aufgezählten Werke, dann werden wir noch mehr Bezüge zu den Erlebniswelten von Kindern finden in der jeweiligen Ära ihres Aufwachsens.

Vorboten der Diversität, der Girl-Power, des Umweltbewusstseins

Bei „Billy Elliot‟ war die Sache klar: Die Zeit war reif für Diversität. Billy wirbt mit dem einnehmenden Lächeln seines Darstellers Jamie Bell für Akzeptanz. Auch wenn er der einzige Junge mit Tutu in einer Gruppe von Mädchen ist, seine unkonventionelle Leidenschaft muss er nicht erklären – schon gar nicht rechtfertigen. Billy tanzt und fertig. Sein Freund trägt Mädchenkleider. So what! Komisch ist, wer das komisch findet.

Rückblickend betrachtet war die Zeit auch reif für „Ronja Räubertochter‟ (Tage Danielsson, 1984). Sie trat in die Fußstapfen von Pippi Langstrumpf, passte aber besser in die 1980er-Jahre. Pippi war eine ungestüme Anarchistin, Ronja eine Friedensstifterin und ein Mädchen, das ihren eigenen Weg in einer Männerwelt beschreitet. Sie emanzipiert sich vom Verdikt ihres Vaters, einst über die Mattis-Burg herrschen zu sollen. Die Männer, das sind die lauten, wilden, ungehemmten Räuber, die anderen Menschen Leid zufügen. Deren Erbe will Ronja auf gar keinen Fall antreten. Im Gegenteil: Sie überwindet die Rivalität des Mattis-Clans gegen die Borka-Räuber in der Nachbarfestung, indem sie sich mit dem gleichaltrigen Birk Borka anfreundet.

Die Welt des Kinderfilms war in den 1980ern noch stark von männlichen Protagonisten geprägt. Ronja machte einen Unterschied. Sie war die Vorläuferin der Girl-Power in den 1990ern. Die 1980er-Jahre, das war auch die Zeit der großen Friedensdemos und der Annäherung zwischen den Machtblöcken in West und Ost. Ronja überwand den Graben zwischen den Festungen. Die Bürgerbewegungen überwanden Ende der 1980er die Mauerteilung in Deutschland und Generalsekretär Michail Gorbatschow sah die Chance gekommen, die Spirale der Hochrüstung zu beenden. Die raue räuberische Welt schien dem Ende entgegenzugehen und Frauen artikulierten ihren Anspruch auf Teilhabe und Chancengerechtigkeit im öffentlichen Leben.

Die Astrid Lindgren-Verfilmung aus Schweden lief statt in der Kindersektion im Haupt-Wettbewerb der Berlinale. Sie wurde prämiert und machte von sich reden als Leinwandereignis mit spektakulären Fantasyeffekten. Bei „Chihiros Reise ins Zauberland‟ (2003), von Hayao Miyazaki ebenfalls als Kinderfilm gedacht, lief es ähnlich.

Offensichtlich war „Chihiros Reise ins Zauberland‟ anders, als man sich den typischen Animationsfilm hierzulande vorstellte. Für das große Standing des Trickfilms war Disney über Jahrzehnte prägend und wohl auch schuld daran, dass der Animationsfilm fast zum Synonym für Kinderfilm wurde. Wie irritierend ist es dann, dass „Chihiros Reise ins Zauberland‟ nicht mit den gewohnten griffigen Gut-Böse-Schemata daherkommt. Er präsentiert einen großen Fundus von Leinwandmythen und spirituellen Figuren. Er komponiert sie zusammen in einem Erlebnispark, wo der kunterbunte Spaß an der nächsten Ecke in eine Welt des Schreckens kippen kann. Besonders aufmerksam wurden die ökologischen Implikationen der Geschichte rezipiert, wie bereits beim viel beachteten Vorgängerfilm „Prinzessin Mononoke“ (Hayao Miyazaki, 1997) von der Hand desselben Meisters. Diesem wurde nicht zuletzt durch den Blick mit der ökologischen Brille eine besondere Aufmerksamkeit vom westlichen Publikum zuteil. Neugierig und staunend schaute es auf die ungewohnte Stilistik des Anime, der komplexe Epen darbot ohne sie allzu dramatisch zu überhöhen. In einer eindringlichen Szene trifft das unerschrockene Mädchen in „Chihiros Reise ins Zauberland‟ auf einen Flussgott, der durch den Abfall der Menschen zu einem schlammigen Monster mutiert ist. Chihiro befreit ihn von seiner quälenden Last und hilft ihm dabei, sich zurückzuverwandeln. Wenn sich auch die Ökobewegung der grünen Politik und die animistischen Naturmythen von Hayao Miyazaki aus recht unterschiedlichen ideellen Quellen speisten, so war der kritische Blick auf die Umweltverschmutzung, der Konflikt zwischen Menschen und Naturwesen, das besondere Etwas, das neben der ästhetischen Nuancierung für die Entdeckung der Anime-Erzählkulturen des Studio Ghibli sprach.

"Chihiros Reise ins Zauberland" (c) Universum Film

Achtsamkeit, Empowerment und Selbstoptimierung

Animismus und Anime: bei Miyazaki gehen sie Hand in Hand. Während Miyazaki bei Ghibli an der handwerklichen Tradition von Zeichnung und Malerei festhielt, preschte Pixar mit der Entwicklung der Computeranimation voran. Das kalifornische Studio schuf Innovationen, die schon rein technisch in Referenzwerken mündeten. Inhaltlich wird als Referenz aus dem Pixar-Universum am häufigsten „Alles steht Kopf‟ (2015) genannt und es gibt auch gute Gründe dafür.

Die Idee, Grundbefindlichkeiten als anthropomorphe Figuren zu visualisieren und diese Figuren an einer Schaltkonsole der Seele zu platzieren, ist genial. Die Emotionen Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel interagieren im Dachstübchen des Mädchens Riley als Gefühls-Avatare und steuern es durch den Alltag. Als sie mit ihren Eltern umzieht und sich ihre Eingewöhnungsprobleme in der Schule zur Krise auswachsen, gerät das eingespielte Team unter der Führung von Freude gehörig aus dem Tritt. Stärkende Fähigkeiten und plastische Erinnerungen, die eine Art innerer Architektur bilden, brechen wie Kartenhäuser in sich zusammen.

Die Parabel wird von Achtsamkeit für die Grundbedürfnisse von Teenagern und von Empowerment getragen. Was passiert in der vermeintlich chaotischen Psyche von Pubertierenden? Dieser Film von Pete Docter spielt es so treffend wie amüsant durch und lädt zur beiläufigen Selbstreflexion über das eigene geistige und seelische Inventar ein. Achtsamkeit und Empowerment sind nicht nur sozialtherapeutische Ansätze, sie sind schon fast so etwas wie die hippsten Lifestyle-Themen im Jahrzehnt der Selbstoptimierer*innen. Pete Docter führt sie zurück auf eine psychologische Ebene, die in Werken der Family-Entertainment-Sparte kaum jemand so differenziert erwarten würde.

Sympathische Anti-Image-Held*innen

Nicht zu erwarten war auch, wie der smarte CGI-Animationsfilm „Shrek‟ mit Märchenmotiven umgeht. Der Oger Shrek ist das genaue Gegenteil eines strahlenden Prinzen. Er tritt verschroben, dumpf, hässlich und gefährlich in Erscheinung. Manches davon ist nur eine Zuschreibung. Auf den zweiten Blick hat er ein empfindsames Herz. Dennoch ist es ungewöhnlich, dass sich die schöne Prinzessin, die der Oger im Auftrag des Fürsten befreit, ausgerechnet in ihn, den groben Shrek verliebt. Die Geschichte ist gespickt mit vielen satirischen Anspielungen auf Stilblüten des Starkults und des modernen Showbusiness. Shrek ist der Antipode einer Gesellschaft, die vom Streben nach der perfekten Selbstperformance und nach Medienruhm geprägt ist. Ausgerechnet Shrek, der Sumpfbewohner, hat eine lautere Seele, die wohltuend unempfänglich ist für den Psycho-Trash der Glamourwelt.

Die strahlenden Figuren sind einfältig und die Figuren, die auf den ersten Blick unansehnlich sind, spielen sich in unsere Herzen. Das ist ein Statement. Die Diktion der „Shrek‟-Filme ist mega-ironisch. Wenn man gerade denkt, Prinzessin Fiona sei „The Beauty“ und Shrek sei „The Beast“, dann kommt der Clou: Die schöne Prinzessin mutiert in der Nacht zum Oger. Das ist ihr wahrer Charakter. Nicht alle Ebenen des Humors mögen Kinder verstehen. Doch sie werden trainiert in Doppelbödigkeit und einem lässigen Hinterfragen von Schein und Sein. Eine wichtige Kompetenz in Zeiten, die von Medien-Images und Bildkommunikation geprägt sind. Kaum zu glauben, dass der Zyklus von „Shrek‟ schon in den frühen 2000er-Jahren begann. Seine Relevanz hat eher zu- als abgenommen. Was sich seit Shrek auf jeden Fall im Fantasyfilm für Kinder erhalten hat, ist das Unperfekte der Protagonist*innen, die sich aufführen und reden wie Buddys aus der Nachbarschaft. Sie sind in ihrem Habitus weit weit weg von Geschöpfen wie Alice im Wunderland oder Prinzen und Prinzessinnen à la Grimm.

"Tsatsiki - Tintenfische und erste Küsse" (c) Arsenal Filmverleih

Wandel der Familienbilder

Mit dem Wandel der Rollenbilder, der von Billy und Ronja vollzogen wird, geht auch der Wandel von Familienbildern einher. Die Kleinfamilie Vater, Mutter, Kinder, Geschwister ist im Kinderfilm noch immer sehr präsent. Aber auch alleinerziehende Eltern bestimmen zunehmend das Bild. Kaum einem Film gelingt es, so unangestrengt und mit einem so ausgewogenen Blick auf die Erwachsenen- und Kinderfiguren zu erzählen wie „Tsatsiki – Tintenfische und erste Küsse‟ (1999). Tobias, Hauptfigur im schwedischen Film von Ella Lemhagen, sehnt sich nach einem Vater, der gar nicht weiß, dass es ihn gibt. Tobias´ Mutter hatte eine kurze Urlaubsaffäre mit einem jungen Griechen. Der Junge möchte sich ihm nahe fühlen, lernt deshalb tauchen und nennt sich Tsatsiki. Er mischt sich in das Beziehungsleben seiner Mutter ein, weil er meint, der neue Mitbewohner – ein treuherziger Polizist – würde gut zu ihr passen.

Anderssein ist gut und richtig

Bislang habe ich noch keinen Referenzfilm aus Deutschland genannt. Kein Wunder, war doch der anspruchsvolle Kinderfilm im Verständnis Vieler lange Zeit eher in Skandinavien daheim. Spätestens seit dem norwegischen Film „Liverpool Goalie“ (Arild Andresen, 2010) ist es sinnvoll, tatsächlich von „skandinavischen Stärken“ zu sprechen statt nur vom legendär „guten schwedischen Kinderfilm“. Doch inzwischen hat die europäische Kinderfilmproduktion neue Landmarken: Dänemark (schon etwas länger) und die Niederlande sind in den letzten Jahren schwer im Kommen. Obwohl hierzulande recht kontinuierlich Kinderfilme produziert werden und die Expertise in der Sparte wächst, gibt es nur wenige wirklich herausstechende Werke. Eine Wohltat war auf jeden Fall „Rico, Oskar und die Tieferschatten‟ (Neele Leana Vollmar, 2014), die Verfilmung des ersten Bandes von Andreas Steinhöfels Kinderbuchreihe.

Protagonist Rico bezeichnet sich selber als „tiefbegabt“. Das ist eine ziemlich selbstbewusste Beschreibung dafür, dass Ricos Denk-Apparat nicht gerade hochtourig läuft und ihm die Orientierung bei den einfachsten Dingen des täglichen Lebens schwerfällt. Rico lernt Oskar kennen, der als Hochbegabter ganz andere Probleme hat. Zusammen ergeben sie ein komplementäres Team, das einen Kriminalfall löst. Die Geschichte lebt von den Verschiebungen und Umdeutungen in der Sprache der Romanfigur. Der Film findet dafür nicht nur in gewitzten Dialogen sondern auch in kongenialen Szenen, Symbolen und Bildern sehr gute Entsprechungen. Daneben taucht er ein in Milieus und präsentiert Figuren, die sonst im Kinderfilm außen vor bleiben. Zum Beispiel ein Schwuler als wichtige Figur oder eine zupackende Mutter aus dem Berliner Kiez, die in einem Nachtclub arbeitet. Nach diesem Film wird einem erst so richtig klar, wie spießbürgerlich und hermetisch das Setting der meisten Kinderfilme in Deutschland meistens ist.

Filmstill: Das Blubbern von Glück
"Das Blubbern von Glück" (c) EuroVideo

Trauer, Melancholie und die Frage, wo das Glück hin ist

Schwenk nach Australien: Candice will das Glück zurückholen, das ihrer Familie seit dem Tod ihrer kleinen Schwester verloren gegangen ist im Film „Das Blubbern von Glück“ (John Sheedy, 2018). Ihr großer Optimismus übertönt nicht die Depression, das Bedrücktsein und die Trauer in der Familie, die am Kindstod der kleinen Schwester schwer leidet. Candice ist eine Außenseiterin in ihrer Klasse. Es gelingt ihr aber, die Häme der Anderen zu ignorieren und sich stattdessen um einen anderen Außenseiter zu kümmern. Der Film behandelt ein ganzes Bündel von Problemen auf eine Art, die keine Tragödie herunterspielt und keine Figur fallen lässt. Vor allem nicht die des Klassenkameraden Douglas, der in seinen ganz eigenen Sphären lebt. Das besondere Vergnügen, das dieser Film bereitet, geht von einer Hauptfigur aus, die in ihrem Anderssein eine kreative Haltung zum Leben einnimmt und die zu überraschenden Lösungen kommt. In dem Mut zum Anderssein liegt der Keim zum Glück, das manchmal nur einen Augenblick währt – aber dafür einen großartigen Augenblick, den sich Douglas und Candice am Ende des Films gemeinsam geben.

Zurück nach Europa an den Nordseestrand: Ziemlich konträr zu Candice verhält sich Sam in „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ (Steven Wouterlood, 2020). Sam, der eigentlich keinen Grund hat, traurig zu sein, sinniert beim Strandurlaub in den Niederlanden darüber, dass all seine Lieben irgendwann sterben werden und es doch besser sei, das Alleinsein im Voraus zu üben. Von diesem deprimierenden Ausgangspunkt entspinnt sich eine ergreifende Geschichte, die ähnlich wie „Das Blubbern von Glück“ humorvoll und herzerwärmend von einem wohltuenden Miteinander erzählt. Das gelingt durch ein raffiniertes Verflechten von Beziehungen. Auch dieser Film ist so wie das Werk von John Sheedy stark darin, ein größeres Ensemble von Figuren zum Glänzen zu bringen.

Geschichten aus dem nahen Umfeld

Von Emanzipation, Friedens- und Umweltbewegung, von Doing Gender, Diversität, ironischen Heldenbildern, Achtsamkeit, moderner Entwicklungspsychologie, Selbstinszenierung, alterstypischen Ängsten, neuen Familienkonstellationen, von Akzeptanz des Andersseins, von mehr Vielfalt in den Milieus und Lebensmodellen, von Melancholie und Glückssuche war anhand der Filmbeispiele die Rede. Ob die beiden letztgenannten Filme, die das Glück im Nahfeld der Familie und Freund*innen beschwören, für unsere Zeit stehen werden und ob sie in den Kanon der Referenzwerke eingehen? Vieles spricht dafür. In der Zeit der Pandemie gäbe es genug Gründe für innerlichen Rückzug, für Trauer und für Depression. Aber es gibt auch gute Gründe, diese beiden Filme mit ihren lebensbejahenden Plots nicht zum Trotz, sondern zum Trost zu mögen.

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