Ich sehe was 2022-3: Referenz-Kinderfilme
Auf Augenhöhe
Ein persönlicher Klassiker: „Sabine Kleist, 7 Jahre‟
„Sabine Kleist, 7 Jahre‟ ist für Bernd Sahling ein besonders gelungener Kinderfilm und hat auch nach 40 Jahren nichts von seinem Reiz verloren. In diesem Text erinnert sich der Drehbuchautor und Regisseur an frühe Fernseherfahrungen und die Begegnung mit Helmut Dziuba, dem Regisseur von „Sabine Kleist‟, dem er als junger angehender Filmemacher über die Schulter schauen durfte und der es verstand, die Geschichte, seine Figuren und sein Publikum ernst zu nehmen.
Von Bernd Sahling
Warum ich ausgerechnet an jenem Nachmittag allein vor dem Fernseher im Wohnzimmer saß, kann ich nicht mehr sagen. Bei fünf Geschwistern war ich es nicht gewohnt, einen Film ohne Gesellschaft auf der schwarzweißen Mattscheibe zu schauen. So aber hatte ich von Anfang an ein mulmiges Gefühl, als Professor Flimmrich den Samstagsfilm ankündigte: „Das kalte Herz‟ (Paul Verhoeven, 1950). Der Holländer-Michel mit der Narbe auf der Stirn und dem glasigen Blick lehrte mich bald das Fürchten. Ich schielte zum Netzstecker, um dem Treiben ein Ende zu bereiten. Dann aber hätte ich nie erfahren, ob dieser fiese Mann am Ende die Oberhand behält. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, ging um den Fernseher herum und überzeugte mich, dass der Apparat auch auf der Rückseite verschlossen war und der Holländer-Michel auf keinen Fall ins Wohnzimmer treten konnte. Das gab mir die Kraft, den Film bis zum Ende zu schauen.
Schon kurze Zeit später hatte ich mit Kinderfilmen nichts mehr am Hut. Ich stellte mich an der Kinokasse auf die Zehen, log beim Alter, wurde von meinen Geschwistern in den Vorführsaal geschleust. Ich wollte schauen, was sie sahen: „Der Glöckner von Notre Dame‟ (Jean Delannoy, 1956) oder „Weiße Wölfe‟ (Konrad Petzold, Boško Bošković, 1969). Auch wenn mich diese Filme in den Nächten verfolgten. Was für ein Verrat aber auch, dass der Indianer „weitspähender Falke“ am Ende der Filmgeschichte ums Leben kam. Der Gute musste gewinnen, wie im richtigen Leben.
An der Seite von Helmut Dziuba
Erst viel später sah ich wieder Kinderfilme, als Betreuer im Ferienlager. Ich hatte festgestellt, dass mir die Arbeit mit Kindern Spaß machte und leichtfiel. Das erzählte ich auch dem Generaldirektor des DEFA-Studios für Spielfilme bei meiner Bewerbung für ein Volontariat. Ich wurde genommen und bekam als Mentor den gestandenen Kinderfilmregisseur Helmut Dziuba vorgeschlagen. Als Kind hatte ich „Mohr und die Raben von London‟ gesehen. Hatten wir alle, war irgendwie Pflicht. Der Film gefiel mir dennoch, auch wenn es um einen der drei Klassiker ging, wie so oft in meiner Kindheit. Die anderen Filme von Helmut Dziuba kannte ich nicht. Vor dem ersten Treffen mit meinem zukünftigen Mentor wollte ich wenigstens seinen letzten Film gesehen haben. Der hieß „Sabine Kleist, 7 Jahre‟. Für mich kein einladender Titel damals. Ich konnte mir als Anfang Zwanzigjähriger auch nicht vorstellen, dass mich die Geschichte einer Siebenjährigen interessieren würde.
Leider fand ich kein Kino, in dem der Film noch lief. Helmut Dziuba drehte im Sommer 1983 den Jugendfilm „Erscheinen Pflicht‟. Ich durfte bei den Dreharbeiten hospitieren und den Kinotrailer erarbeiten. Helmut machte als Mentor das, was er immer tat: sein Gegenüber ernst nehmen, als Partner begreifen, genau beobachten, zuhören, wenig Ratschläge erteilen und dennoch ermutigen.
Und dann sah ich irgendwann „Sabine Kleist‟. Ein Mädchen in einem Kinderheim will nicht akzeptieren, dass sich ihre Lieblingserzieherin Edith in den Schwangerschaftsurlaub verabschiedet. Sabine läuft weg aus dem Heim in die Ostberliner Nacht der 1980er-Jahre.
Konsequent aus Kindersicht erzählt
Bis zum Ende der Filmgeschichte treibt sich das Mädchen in der Großstadt herum, wird gesucht, versteckt sich, lernt Leute kennen und stellt sich am Ende der Polizei. Klingt unspektakulär, wenn der Film so zusammengefasst wird. Vermutlich würde diese Geschichte heute sowieso keine Finanzierung bekommen. Wie hatte Helmut das nur gemacht, einen Film komplett aus Sicht einer Siebenjährigen zu erzählen, der im Kino sowohl Kinder als auch Erwachsene in seinen Bann zieht?
Es gibt zwei Szenen im Film, die ich mir wieder und wieder anschauen könnte. Sabine geht dorthin, wo Babys geboren werden, ins Krankenhaus. Sie hofft ihre Wahlmutter Edith zu finden. In einem Raum wird gerade vor einer Gruppe von Angehörigen hinter einer Glasscheibe ein Baby hochgehalten. Sabine kann zwischen den Erwachsenen nichts sehen. Eine nette ältere Dame nimmt das Mädchen hoch und redet auf Sabine ein: „Die sieht dir richtig ähnlich, dein Schwesterchen … So wie dich dein Vati und deine Mutti liebhaben, so musst du jetzt dein kleines Schwesterchen liebhaben.“ Sabine heult fast, zappelt und ruft: „Lass mich runter“. Mir war zum Weinen zumute auf meinem Kinoklappstuhl. Wie bitter, diese Verwechslung. Aber es kam noch dicker in der folgenden Szene, die exemplarisch ist für Helmuts Filme: Sabine auf einer Bank vor dem Krankenhaus. Eine Dame im Bademantel (Gudrun Ritter) setzt sich neben das Kind, zündet sich eine Zigarette an. Sabine beobachtet, rutscht näher an die Frau heran: „Hat denn dein Baby keinen Hunger?“ Pause. Die Raucherin schaut ungläubig zu Sabine, die dann leise fragt: „Oder hast du keins?“ Die Frau dreht sich weg, ein Schluchzen. Sabine, die austeilen kann: „Dürfen Erwachsene überhaupt weinen?“ Die Frau im Bademantel dreht sich Sabine wieder zu. Ein langer, trauriger Blick. Sabine, nun kleinlaut: „Kannst ja mich haben.“ Heulend saß ich im Kino. Die kurze Begegnung zweier zutiefst verzweifelter Menschen, fast ohne Worte, auf Augenhöhe.
Respektvoll für Kinder erzählen
Wie Helmut es hinbekam, ein Kind so überzeugend durch Dreharbeiten zu führen, konnte ich später als sein Regieassistent beobachten. Natürlich begann das beim Drehbuchschreiben. Dialoge wurden immer weiter reduziert, die Geschichte über Vorgänge und Handlungen erzählt. Die Szenen waren mit viel Mühe so geschrieben, dass ein Kind genau fühlen konnte, was da gerade passiert, in der „Geschichte des Tages“, die Helmut den Laien am Morgen eines Drehtages vorlas.
Viele, die für den Kinderfilm arbeiten, glätten Konflikte oder wollen besonders lustig sein, einem jungen Publikum gefallen. In Kinderfilmen der letzten Jahre sind die Erwachsenenfiguren gern tollpatschig, skurril und den Kindern unterlegen. All das lehnte Helmut Dziuba ab. Wir wissen nicht, was der Frau im Bademantel vor der Babystation passiert ist. Wir müssen es selbst herausfinden. Es ist eine offene, fordernde Erzählweise für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Respekt war Helmut wichtig, vor der Geschichte, vor den Protagonist*innen und nicht zuletzt vor dem Publikum.
Filme altern unterschiedlich. Oft haben Produktionen, die sich dem Zeitgeist unterwerfen, ein kurzes Leben. „Sabine Kleist, 7 Jahre‟ lief vor Jahren in einer Retrospektive auf der Berlinale. Neben mir in der Vorführung saß die Autorin Anja Tuckermann und sagte nach dem Abspann und einem langanhaltenden Applaus: „Dieser Film ist wie ein guter Wein. Er wird mit dem Alter noch besser.“