#ich sehe was 2021-1: In unseren Händen

Die Weltgestalter*innen

Engagierte Kinder und Jugendliche im Dokumentarfilm

Fernsehproduktionen haben es vorgemacht und über Kinder und Jugendliche aus aller Welt berichtet, die aus eigener Kraft etwas verändern wollen. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe beeindruckender und inspirierender Dokumentarfilme, die Kinder und Jugendliche porträtieren, die sich selbstbewusst politisch engagieren und die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft nicht allein Erwachsenen überlassen. Und manchmal, wie etwa bei „Youth Unstoppable‟ zeichnen sie sogar selbst als Regisseur*innen für diese Filme verantwortlich.

Von Holger Twele

"I am Greta" (c) Filmwelt

Die Corona-Pandemie und die Öffentlichkeit der Kinder und Jugendlichen

Dokumentarfilme, die Kindern und Jugendlichen zunächst eine eigene Stimme gaben, bis diese selbst das Ruder vor und hinter der Kamera übernahmen und sich im ursprünglichen Wortsinn politisch engagierten, haben vermutlich zu einem grundlegenden Wandel der heutigen jungen Generation mit beigetragen. Seit November 2020 allerdings taucht in den Medien der Begriff „Generation Corona“ auf. „I Am Greta“ erblickte nur für kurze Zeit das Licht der Leinwand (ist aber seither immerhin ständig in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender abrufbar), der Kinostart von „Youth Unstoppable“ wurde pandemiebedingt um etwa ein Jahr in den Herbst 2021 verschoben. In den Talkrunden während der Pandemie tauchen Jugendliche selbst so gut wie gar nicht auf. Es bleibt daher zu hoffen, dass sich die oben beschriebene Entwicklung allenfalls verzögert hat, aber nicht mehr stoppen lässt.

Starke Figuren im Kinder- und Jugendfilmbereich gibt es nicht erst seit kurzer Zeit. Und es sind keineswegs nur die Jungen, die hier einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sich gegenüber den Erwachsenen und ihren mitunter erstarrten Regeln zu behaupten wissen und ihre eigene Welt erschaffen. Der Bogen spannt sich exemplarisch von „Ronja Räubertochter“ (Tage Danielsson, 1984) bis zu „Rocca verändert die Welt“ (Katja Benrath, 2019). Alle diese Filme handeln von einer möglichen Realität, sie sind daher eher märchenhaft oder gar utopisch. Über unsere Wirklichkeit sagen sie nur indirekt etwas aus. Hierfür sind Dokumentarfilme weitaus besser geeignet. Und in diesem Bereich findet offenbar gerade ein Paradigmenwechsel statt.

Fernsehformate als Wegbereiter

Rückblickend auf das vergangene Jahrzehnt legte der Kinodokumentarfilm „7 oder Warum ich auf der Welt bin“ von Antje Starost und Hans Helmut Grotjahn von 2010 einen wichtigen Grundstein, indem er den Fokus ganz auf den Lebensalltag von Kindern richtete. Sieben Kinder aus aller Welt erzählen ihre Geschichten, geben eigene Antworten auf die Frage und vor allem: Sie möchten in dieser Welt unbedingt etwas verändern. Einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurden solche Gedanken und Wünsche durch zwei langfristig angelegte TV-Projekte: Die KiKA-Serie „Schau in in meine Welt“ stellt seit 2012 in 25-minütigen Filmen den Lebensalltag von Kindern aus Deutschland und der ganzen Welt vor, mit einem ungewöhnlichen Hobby oder mit besonderen Lebensumständen. Die wöchentlich ausgestrahlten Kurzfilme sind von Profis gedreht und inszenatorisch stark verdichtet, wobei die jungen Protagonist*innen aber ihre eigene Sprache behalten. Beim jungen Zielpublikum möchte man mit diesen abwechslungsreich gestalteten Geschichten Verständnis sowie Neugier wecken. Auch das globale Projekt „199 kleine Helden“ nach der Idee des Schauspielers Walter Sittler und der Regisseurin Sigrid Klausmann möchte Kindern weltweit eine Stimme geben. In jedem Land wird ein Kind porträtiert, das exemplarisch für die Lebensumstände im Land steht. Der verbindende Rahmen ist der Schulweg als Sinnbild für den Weg ins Leben und in eine gute Zukunft. Aus diesem Projekt ist 2017 der Kinodokumentarfilm „Nicht ohne uns!“ von Sigrid Klausmann entstanden, mit 16 Kindern aus 15 Ländern und fünf Kontinenten. Ob sie privilegiert in westlichen Wohlstandsgesellschaften aufwachsen oder in ärmlichen Verhältnissen, in Kriegs- und Krisengebieten: Überall haben die Kinder ähnliche Ängste, Träume und Hoffnungen – und machen sich Sorgen um die Natur und die Zerstörung ihres Lebensraumes.

"Nicht ohne uns!" (c) Farbfilm

Die Gegenwart und die Zukunft selbst aktiv mitgestalten

Bevor diese Thematik noch weiter in den Vordergrund rücken und ihren Niederschlag etwa in der Fridays for Future-Bewegung finden wird, hat sich bei vielen Kindern und jungen Heranwachsenden längst ein schleichender Wandel angebahnt. Sie wollen sich mit ihren Anliegen nicht mehr nur anderen Kindern mitteilen und sich Gehör bei den Erwachsenen verschaffen, die ihnen mit wohlwollender Empathie begegnen. Stattdessen nehmen sie ihre Zukunft zunehmend selbst in die Hand, engagieren sich in vielfältiger Weise, suchen nach eigenen Lösungen und wollen diese in ihrem Lebensumfeld auch austesten. Exemplarisch für dieses gestärkte Selbstbewusstsein stehen zwei Dokumentarfilme.

„Die Götter von Molenbeek“ (Reetta Huhtanen, 2019) handelt von der Freundschaft zwischen dem sechsjährigen Aatos aus Finnland, seiner Klassenkameradin Flo und dem muslimischen Amine, die alle im Brüsseler Stadtteil Molenbeek leben. Dieser gilt seit den Pariser Anschlägen als Zentrum des Dschihadismus. Die finnische Regisseurin Reetta Huhtanen drehte diesen Film über ihren Neffen und dessen Freund*innen, als 2016 die Terroranschläge in Brüssel stattfanden. Die Kamera beobachtet die drei Kinder genau, ohne dass jemals der Eindruck entsteht, hier hätten Erwachsene eine Inszenierung vorgenommen und die Fragen bewusst in eine bestimmte Richtung gelenkt. Nicht zuletzt aus seinem Interesse für die antike Götterwelt möchte Aatos mehr über die Religion seines muslimischen Freundes erfahren, wobei dieser gegenseitige Lernprozess dazu führt, dass sich beide zusammen mit Flo ihre Gedanken über weltanschauliche und ideologische Fragen machen, die ihr gesamtes Lebensumfeld prägen.

"Morgen gehört uns" (c) Neue Visionen

Der Dokumentarfilm „Morgen gehört uns“ (2019) von Gilles de Maistre, der vor allem durch „Mia und der weiße Löwe“ (2018) bekannt wurde, geht noch einen Schritt weiter. In acht Porträts zeigt der Film, wie Kinder auf der ganzen Welt als Teil einer neuen Generation etwas gegen den Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit und Gewalt in all ihren Formen tun. Sie wollen nicht länger zusehen, wie ihre Zukunft von Erwachsenen verspielt wird, sondern dem aktiv etwas entgegensetzen. Der eine gründet eine Umweltbank für peruanische Kinder, ein anderer verkauft selbstgemalte Bilder, um Obdachlosen zu helfen. Ein Mädchen kämpft in Guinea gegen die Kinderehe und eine Nachwuchsreporterin berichtet über den Alltag indischer Straßenkinder.

Der Klimawandel und die Generation Greta

Als Nachwuchsreporterin im Alter von 15 Jahren fing auch die kanadische Filmemacherin Slater Jewell-Kemker an. Sie begann, sich für die weltweite Jugendbewegung gegen den Klimawandel zu engagieren, wobei der eigene Umgang mit Kamera und Mikrofon ihr von Kindesbeinen an vertraut war. Elf Jahre dokumentierte sie als Filmemacherin die weltweit wachsende Jugendbewegung von innen heraus auf den Klimakonferenzen in Brasilien, Dänemark, Polen und Paris in Kurzfilmen und schließlich 2018 mit dem Kinofilm „Youth Unstoppable“. Dabei bringt sie sich selbst unmittelbar ein, mit ihren zahlreichen Enttäuschungen und Selbstzweifeln, den eigenen Lernerfahrungen und sogar den Auseinandersetzungen im Umkreis der Familie. Das macht den Film besonders authentisch und spricht ein junges Publikum unmittelbar an.

Die Umweltaktivistin Greta Thunberg, die mit ihrem Engagement für den Klimaschutz ebenfalls mit 15 Jahren begann, kommt in diesem Film nur am Rande vor. Denn sie gehört bereits einer Generation an, die das fortsetzt, was andere vor ihr schon vor knapp 30 Jahren begannen – und es sind zum großen Teil Mädchen wie sie und Frauen, die hier besonders hervorstechen. Die Jugendforscher Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht bewerten den Einfluss von Greta Thunberg auf die heutige Jugend sogar so stark, dass sie von einer „Generation Greta“ sprechen. Der schwedische Dokumentarfilmer und Fotograf Nathan Grossman geht in seinem Dokumentarfilm „I Am Greta“ (2020) der Frage nach, warum Greta einen derart großen Einfluss gewinnen konnte und was sie dazu befähigte. Wie der Filmtitel verdeutlicht, ist dies kein Film über sie geworden, sondern ein sehr persönlicher und von Vertrauen getragener Film weitgehend aus ihrer Perspektive.

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