#ich sehe was 2021-1: In unseren Händen
Der jungen Generation eine Stimme geben
Ein Interview mit Slater Jewell-Kemker über ihren Film „Youth Unstoppable“
In ihrem ersten langen Dokumentarfilm „Youth Unstoppable“ porträtiert die kanadische Umweltaktivistin Slater Jewell-Kemker die weltweite Jugendklimaschutzbewegung. Seit sie im Alter von 15 Jahren erstmals als Jugenddelegierte an einer UN-Klimakonferenz teilnahm, hielt sie ihre Eindrücke mit der Kamera fest. Über zwölf Jahre hinweg entstand so eine einzigartige Chronik der Entwicklung einer politischen Massenbewegung aus ihrem Zentrum heraus.
Das Interview führte Reinhard Kleber.
Was ist mit dem Film seit der Fertigstellung 2020 passiert?
Slater Jewell-Kemker: Er wurde auf über 100 Festivals in mehr als 80 Ländern gezeigt. Er lief zwar nicht auf den großen Festivals, aber dafür gab es eine inspirierende und bewegende Mundpropaganda. Auf diese Weise entstand ein Publikum, das hauptsächlich aus jungen Leuten und normalen Bürgern bestand und nicht nur aus Festivalbesuchern. Er hat wirklich einen Einfluss auf die Menschen ausgeübt und eine Verbindung zu ihnen geschaffen. Und das hat mich völlig schockiert.
Wieso schockiert?
Wenn man einen Film herstellt, hofft man, dass er auf einem bestimmten Festival läuft und Eindruck macht. Die Art und Weise, wie der Film vor allem bei jungen Leuten ankam, hat 15 Jahre Kampf, Blut, Schweiß und Tränen und die Suche nach dem, was ich wirklich tun wollte, lohnenswert gemacht.
Ist Ihr Film irgendwo bereits in die Kinos gekommen?
Deutschland macht den Anfang. Er läuft zunächst nur in Deutschland im Kino, aber später werden wir ihn in mehreren Ländern etwas breiter herausbringen. Das ist auf dem Weg zur UN-Klimakonferenz COP 26 in Glasgow sehr aufregend.
Wann und wie entstand die Idee, aus dem Material einen langen Dokumentarfilm zu machen?
Ich hatte nie vor, einen abendfüllenden Dokumentarfilm zu drehen. Ich habe mit dem Film angefangen, als ich 15 war. Ich war immer verliebt ins Filmemachen. Nach meinen Erfahrungen als Jugenddelegierte in Japan und der Zusammenarbeit mit anderen jungen Klimaaktivisten wurde mir 2008 klar, dass ihre Stimmen in den Mainstream-Medien nicht zu hören sind. Die Stimmen der nächsten Generation werden nicht ernst genommen. Deshalb wollte ich versuchen, ihre Geschichten einzufangen und sie anderen Menschen zu zeigen. Filmemachen ist Geschichtenerzählen und damit auch eine Art und Weise, wie wir mit Menschen in Kontakt treten. Für mich war klar, dass wir bei diesem Thema unbedingt eine jugendlichere, kreativere, optimistischere und auch wütende Stimme brauchten.
Was war das intensivste Erlebnis während der Arbeit an diesem Film?
Da gab es zwei Momente. Als Filmemacher war es der Moment, als ich mit meiner Freundin Alina außerhalb von Katmandu in Nepal in einem kleinen Dorf drehte, das durch starken Monsunregen überschwemmt und verwüstet worden war. Während ich filmte, verstand ich plötzlich die ganze Tragweite der Katastrophe, wurde mir aber auch meiner Privilegien in einer solchen Situation klar. Denn ich filmte ihre Geschichte und fuhr anschließend nach Hause. Ich konnte mich nicht mit der Vorstellung abfinden, dass ich in mein bisheriges Leben zurückkehre und nicht mehr an sie zu denken brauche.
Und der zweite Moment?
Das passierte, als ich in Alberta in Kanada die Familie meiner Mutter besuchen wollte, die in der Ölsandindustrie arbeitet. Mein Onkel hat dort die Aufgabe, zu den Farmern und indigenen Gemeinden zu gehen und sie zu überreden, ihr Land zu verkaufen oder Pachtverträge mit Firmen zu schließen, damit diese ihre Pipelines durch das Land verlegen können. Das bedeutet natürlich, dass es zu Ölverschmutzungen kommt.
Es war schwer für mich, dass der Teil meiner Familie, die dort seit mehr als zehn Jahren lebt, nicht mit mir sprechen wollte. Ich weiß, dass meine Verwandten direkt an einer Energiegewinnung mitwirken, die unmittelbar mit der Klimakrise verbunden ist; aber ich war nicht in der Lage, mit ihnen zu sprechen. Das machte mir deutlich, dass es viele Menschen gibt, die nicht über die Klimakrise reden oder über sie nachdenken wollen; dennoch sind alle bestrebt, dass ihre Kinder gesund aufwachsen und das bestmögliche Leben haben. Das gilt natürlich auch für meinen Onkel und seine Familie.
Im Film gibt es zwei Begegnungen mit dem Taucher und Umweltaktivisten Jean-Michel Cousteau. Beim zweiten Mal nennen Sie ihn „Held meiner Kindheit“. Wie hat er Sie motiviert?
Als Kind war es einfach, ihm zuzuhören. Dass jemand in seiner Position sich für das interessiert, was ich gefragt und gesagt habe, war ein großer Moment. Denn auf diese Weise wusste ich, dass das Schlimmste, was mir passieren könnte, darin bestand, dass jemand Nein sagt. Ich habe aber auch verstanden, dass so viele junge Menschen, Wissenschaftler, Künstler und Aktivisten seit Jahrzehnten in dieser Bewegung sind und dass auf dieser langen Reise eine tiefere Verbindung entsteht, wenn wir versuchen, uns gegenseitig weiterzuhelfen. Es hat mir viel Energie gegeben, dass Cousteau sich bei der zweiten Begegnung an mich erinnert und mich in meinem Engagement bestärkt hat. Die Dinge werden nie wieder so, wie sie einmal waren; wir können uns nur vorwärtsbewegen, und dazu brauchen wir die Gemeinschaft.
Am Ende des Films bemerken Sie, dass eine neue Generation von Klimaschutz-Aktivisten herangewachsen ist. Wem würden Sie heute dem Staffelstab übergeben, den Sie als 15-Jährige symbolisch von Cousteau erhalten haben?
Ich glaube nicht, dass es eine einzige Person sein kann. Wir haben jetzt eine ganze Generation von jugendlichen Klimaaktivisten, die erkennen, dass sie Teil eines größeren Netzwerkes sind. Wir brauchen alle, um voranzukommen. Wir brauchen eine Vielfalt von Stimmen, von indigenen Gemeinschaften über die Queer Community bis hin zu allen Nationen der Erde.
Glauben Sie, dass engagierte junge Filmemacher die Welt verändern können?
Auf jeden Fall. Ich glaube fest daran, dass Filme eines der wichtigsten und mächtigsten Werkzeuge sind, die wir in dieser Zeit des großen Wandels einsetzen können. Wenn die Menschen Angst haben, wenn sie nicht wissen, wohin sie schauen sollen, neigen sie dazu, sich zu isolieren. Die Corona-Pandemie hat das nicht geändert. Während wir uns auf eine Welt zubewegen, die durch steigende Temperaturen für immer verändert wird, müssen wir uns daran erinnern, dass wir uns als Menschen gegenseitig unterstützen sollen.
Hat Sie es je gereut, sich für die Klimabewegung engagiert oder diesen Film gedreht zu haben?
Natürlich bereue ich es nicht, diesen Film gemacht und mich in dieser Bewegung engagiert zu haben. Auch wenn es definitiv sehr schwierige Momente gab, mit Burnout, Erschöpfung und emotionaler Überforderung. Wenn man sich mit einem so überwältigenden Thema befasst, befällt einen manchmal das Gefühl, dass nichts anderes im Leben wichtig ist. Ich habe aber gelernt, dass dies kein Rennen ist, das an einem Tag vorüber ist, sondern dass es uns für den Rest unseres Lebens begleitet. Ich bedaure manchmal, dass ich nicht besser auf mich selbst aufgepasst habe. Dafür habe ich entdeckt, dass ich körperlich, geistig und emotional gesund sein muss, um die bestmögliche Arbeit zu leisten.
Die Corona-Pandemie hat die Demonstrationen der „Fridays for Future“-Bewegung zum Erliegen gebracht. Werden die Demonstranten wieder aktiv werden, wenn COVID-19 abgeflaut ist?
Ja, definitiv! Sie sind während der gesamten Pandemie aktiv geblieben, nur eben auf eine andere Weise. Covid-19 hat alles verändert, wie wir leben und wie wir uns selbst sehen. Aber es zeigt, dass sich die Dinge unglaublich schnell entwickeln können, wenn wir alle konzentriert sind und als globale Gemeinschaft zusammenarbeiten. Sobald wir uns wieder in großen Gruppen auf den Straßen versammeln können, wird es dort mehr Menschen als je zuvor geben. Wenn sich die Menschen so rasch an eine Welt mit Covid-19 anpassen können, sehe ich nicht, warum wir uns nicht an den Klimawandel anpassen können.
Was erhoffen Sie sich von US-Präsident Biden für den globalen Klimaschutz?
Ich hoffe, dass die derzeitige US-Regierung fähig ist, mehr zu tun als jede zuvor. Ich hoffe, dass sie starke Klimaschutzmaßnahmen vorantreiben kann, die nicht mehr an die Wünsche der Industrie gebunden sind, die so weitermachen will wie immer. Die Zeit ist vorbei, in der uns ein Klimaereignis am anderen Ende der Welt nicht betrifft. Wir sehen das ja an den außer Kontrolle geratenen Feuern, den Dürren und Überschwemmungen. Wir brauchen einen starken US-Präsidenten, der den Interessensvertretern des Status quo die Stirn bietet und auf der UN-Klimakonferenz in diesem November in Glasgow auf ein rechtlich bindendes neues Klimaabkommen drängt.
Das Projekt Klimaschutz ist unvollendet, viele Ziele sind nicht erreicht. Wie geht es für Sie weiter? Planen Sie einen weiteren Film?
Mein Leben hat sich durch mein Klima-Engagement für immer verändert. So sehr ich auch versucht habe, mich davon abzuwenden, ist es doch Teil meines Lebens. Mein nächstes Projekt hat wahrscheinlich etwas mit indigenen Gemeinschaften zu tun, die von der Beziehung zwischen Kolonialismus und Energiegewinnung betroffen waren und es noch immer sind. Sie haben ja vom Skandal der Gräber indigener Kinder in kirchlichen Internatsschulen in Kanada gehört. Ich habe das Gefühl, dass ich in dieser Angelegenheit meine Privilegien für etwas nutzen kann, das nicht nur der Unterhaltung oder Zerstreuung dient.
Dieses Interview erschien zum ersten Mal auf Filmdienst.de. Die Wiedergabe des Artikels an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Filmdienst.