Hintergrund | | von Holger Twele
Zwischen Engagement, Unterhaltung und Sozialkritik
Die Schule im Film
Die Schule ist ein prägender Raum für Kinder und Jugendliche. So verwundert es nicht, dass dieser auch in dokumentarischen und fiktionalen Filmen immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Dabei wird eine enorme Bandbreite bedient, die mal bewundernswertes pädagogisches Engagement betont, mal freche Unterhaltung bietet und in seltenen Fällen auch ein gehöriges Maß an Sozialkritik liefert, um über die Schule hinaus auch über die Gesellschaft als Ganzes nachzudenken – so wie der bereits preisgekrönte neue Film „Das Lehrerzimmer“ von Ilker Çatak.
So unterschiedlich die Lebenswege der Menschen sind, an der Schule kommen die meisten nicht vorbei. Sie hat prägenden Charakter für unser aller Zukunft. Vielleicht ist das der Hauptgrund, warum das Kinopublikum jedes Jahr mit neuen Filmen beglückt wird, die teilweise oder sogar überwiegend in der Schule spielen. Fast zeitgleich gingen im Frühjahr 2023 mit dem Dokumentarfilm „Schulen dieser Welt“ (2021) von Émilie Thérond und dem Spielfilm „Das Lehrerzimmer“ (2023) von Ilker Çatak zwei sehenswerte Filme an den Start, die unterschiedlicher kaum sein könnten, aber in der Zusammenschau und im Vergleich mit anderen Filmen dazu anregen, sich Gedanken über den filmischen Topos, die Beziehungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen und das Schulsystem zu machen.
Für die Rechte der Kinder
Émilie Thérond stellt in „Schulen dieser Welt“ drei engagierte Lehrerinnen und ihre Schüler*innen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in Burkina Faso auf dem Land, in Sibirien bei den dort lebenden Nomad*innen und in Bangladesch auf einem Schiff vor. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Kindern selbst unter schwierigsten Bedingungen Bildung zu vermitteln und ihnen das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Dabei kämpfen sie nicht nur als selbst betroffene junge Frauen für Chancengleichheit. Es geht auch um die Vermittlung zwischen Tradition und Moderne, etwa bei Kinderehen in Bangladesch oder um die Eltern zu überzeugen, dass eine gute Schulbildung besser ist, als bereits im Kindesalter als Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen. Doch „wenn du den Kindern gegenüber stehst, vergisst du all deine Probleme“, drückt es Sandrine aus Burkina Faso aus.
Das Recht auf Bildung gehört zu den elementaren Kinderrechten auf der Welt. Dafür setzen sich diese Lehrerinnen mit ihrer ganzen Kraft ein – und sie werden durch die Lernerfolge ihrer Schüler*innen belohnt, für die allein schon der Besuch der Schule eine Herausforderung darstellt. Für die Kinder steht der Wert von Bildung außer Frage, denn sie erfahren, dass sich nur mit ihr soziale Ungleichheit überwinden, das Zusammenleben einüben und gesellschaftliche Entwicklung voranbringen lässt. Nicht zu vergessen, dass sie damit eine Chance sehen, „so zu leben wie sie es wollen“.
Eindrucksvolle Lehrer*innen im Dokumentarfilm
Mit dieser Wertschätzung von Bildung und denjenigen, die diese Bildung vermitteln, steht der französische Film in der Tradition von „Sein und Haben“ von Nicolas Philibert aus dem Jahr 2002 über eine französische Dorfschule in Saint-Étienne-sur-Usson in der Auvergne. Darin wird eine altersgemischte Klasse von vier bis zwölf Jahren mit ihrem Lehrer Georges Lopez ein Schuljahr lang mit der Kamera begleitet. Vergleichbares ist in Deutschland bislang nur wenigen gelungen, insbesondere Maria Speth mit „Herr Bachmann und seine Klasse“ (2021). Dieser charismatische Lehrer unterrichtete bis zu seiner Pensionierung die 6. Klasse einer Gesamtschule in Hessen auf bewundernswerte und nachahmenswerte Weise. Er hatte darin Schüler*innen aus zwölf Nationen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren mit verschiedenen Religionen, Sprachen, Kulturen und Bräuchen. Dabei achtete er besonders darauf, den Kindern entschieden und zugleich auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen zu vermitteln, dass sie etwas wert sind. Der große Erfolg dieses dreieinhalbstündigen Films legt zumindest die Vermutung nahe, dass Herr Bachmann und seine Form des Unterrichts nicht die Regel, sondern eher eine Ausnahme in Deutschland sind.
Kuriose Quereinsteiger und Lehrer*innen ohne Einfluss
Sobald Kinder in Deutschland die 6. Klasse absolviert haben, lässt sich ihr Schulalltag offenbar nicht mehr mit den Mitteln des Dokumentarfilms erfassen. In ausschließlich fiktionalen Filmstoffen – die selbstverständlich auch eine Menge über die soziale Realität aussagen – sind sie danach mit einem Schulsystem konfrontiert, in dem kaum jemand mehr auf seine/ihre Kosten kommt und Lehrer*innen wie Schüler*innen einem Druck ausgesetzt sind, dem sie sich nur schwer gewachsen fühlen.
Mit „Fack ju Göhte“ von Bora Dagtekin und mit Elyas M’Barek in der Hauptrolle des Zeki Müller kam 2013 eine der erfolgreichsten deutschen Komödien auf den Markt, dem zwei weitere Teile folgen sollten. Eines der Vorbilder mag die US-Komödie „School of Rock“ (2003) von Richard Linklater gewesen sein. Jack Black spielt darin einen charismatischen Aushilfslehrer ohne Ausbildung, aber mit der besonderen Begabung, den Schüler*innen auf Augenhöhe zu begegnen, sie ernst zu nehmen, ihnen ihre Chancen und klare Grenzen aufzuzeigen und sie dort abzuholen, wo sie sich in ihrer Entwicklung gerade befinden. Genau diese Eigenschaften zeichnen auch den gerade aus dem Gefängnis entlassenen Bankräuber Zeki Müller aus, der seine Beute auf einer Baustelle versteckt hatte, auf der später die Turnhalle einer Schule errichtet wurde. Um an das Geld zu kommen, bewirbt er sich als Hausmeister und wird als Aushilfslehrer eingestellt. Im direkten Vergleich mit Zeki Müller hinterlassen die klassisch ausgebildeten Pädagog*innen einen bestenfalls blassen Eindruck.
Ganz im Kontrast dazu steht der Coming-of-Age-Film „Sonne und Beton“ von David Wnendt, der nach seiner Uraufführung auf der Berlinale 2023 schnell ein Millionenpublikum erreicht hat. Es handelt sich um die Verfilmung des autobiografisch inspirierten gleichnamigen Bestsellers von Felix Lobrecht, der nach eigenem Bekunden offen lässt, was davon der Realität entsprach oder frei erfunden wurde. Dem Film wurde bescheinigt, er sei im Jugendjargon und in der Zeichnung eines sozialen Brennpunkts sehr authentisch und gebe die Realität in Berlin-Gropiusstadt im Hitzesommer 2003 gut wieder. Hier spielen Jugendliche die Hauptrolle, die sich abgehängt fühlen und zwischen rivalisierenden Gangs aufgerieben werden. Und der Klassenlehrer ist als nicht einmal mehr wirklich bedauernswerter Angsthase gezeichnet, der von der Klasse nicht ansatzweise akzeptiert wird und sich demnach auch kein Gehör verschaffen kann.
Ganz nah an der Realität
Letztlich ist es „Fack ju Göhte!“ und „Sonne und Beton“ auf sehr unterschiedliche Weise gelungen, auf unterhaltsame Weise ein Millionenpublikum zu erreichen und das Terrain abzustecken, in dem deutsche Filme über die Schule besonders erfolgreich sein können, wenn sie nicht lieber auf Schulausflüge ausweichen wollen. Umso erstaunlicher mutet es an, dass da noch Platz für einen Film war, der es wirklich ganz anders macht und mit einem Drama punktet, der schulische und soziale Realitäten in direkten Bezug setzt und die Schule als Spiegel der Gesellschaft des Jahres 2022 darstellt. Es handelt sich um den Spielfilm „Das Lehrerzimmer“ von İlker Çatak. Zugegeben, allein der Titel animiert nicht unbedingt dazu, ins Kino zu rennen, und der Heilige Gral ist in einem Lehrerzimmer definitiv nicht zu finden. Spätestens mit der Schlussszene sollte klar sein, dass der Film nicht nur die Perspektive des Lehrpersonals einnimmt, sondern in gleichem Umfang die der heutigen Schüler*innen.
Zentrale Hauptfigur ist dennoch die junge und unerfahrene Lehrerin Carla Nowak, die mit Tatkraft, großem Engagement und viel Idealismus ihre neue Stelle in einem Gymnasium antritt. Dieses steht für eine „Null-Toleranz-Politik“: klare Regeln, auch in moralischer Hinsicht, klare Strukturen und ein scheinbar offenherziges Schulklima, in denen Verstöße jeglicher Art nicht geduldet werden. Nicht anders würde eine ideale Gesellschaft aussehen, in der alle einander respektieren und nicht etwa Verdächtigungen oder Vermutungen die Grundlage für jegliches Handeln bieten, sondern allein die (wissenschaftlich beweisbare) Faktenlage, die sogenannte Wahrheit. Als dann eine Diebstahlserie passiert, die mit Nowaks Klasse in Zusammenhang gebracht wird, geraten die mühsam zusammengezimmerten Weltbilder aller Protagonist*innen ins Wanken.
Nowak möchte ihre Schüler*innen schützen, ergreift Position und glaubt, mit Hilfe einer illegal installierten Überwachungskamera einen Beweis für die vermutliche Täterin gefunden zu haben. Mit dieser Verdächtigung beginnt der Streit im Kollegium zu eskalieren, es folgen Denunziantentum, die Suche nach einem Sündenbock und Ausgrenzung in der Schule, an der sich die aufgeklärte und politisch engagierte Redaktion der Schüler*innenzeitung mit im Grunde genommen besten Absichten tatkräftig beteiligt. Auf diese Weise droht auch Carla Nowak, stets um Aufklärung und Deeskalation bemüht, aufgerieben zu werden, ohne der „Wahrheit“ auch nur ein Stück näher zu kommen. Den Aussagen der Produktion zufolge hat das viel mit unserer von Fake News dominierten Gesellschaft und mit dem derzeitigen Schulsystem zu tun, das immer wieder diskutiert wird, sich aber „seit 50 Jahren“ nicht wirklich geändert habe. Über diese Behauptung lässt sich trefflich diskutieren und das sollte auch der Fall sein. Kaum zu widerlegen ist allerdings die Tatsache, dass der von Anfang bis Ende spannende und bewegende Film Jung und Alt gleichermaßen in Bann zieht – von der FBW Jugendfilmjury erhielt er 5 Sterne – und selten ein Film so dicht an der Realität des deutschen Schulsystems dran war.