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Hintergrund | | von Reinhard Kleber

Warum sind dänische Kinder- und Jugendfilme so erfolgreich?

Eine Bestandsaufnahme anlässlich der Nordischen Filmtage 2023

Kinder- und Jugendfilme aus Dänemark haben einen guten Ruf und sind regelmäßig mit starken Werken auf Festivals vertreten. Ein Blick zu den Nachbar*innen: Wie werden Filme für das junge Publikum dort systematisch gefördert? Was traut man dem Publikum zu? Und wie nimmt das Publikum überhaupt die Filme auf?

Foto aus "The Quiet Migration"
"The Quiet Migration" Quelle: Nordische Filmtage 2023

Dänemark zählt mit knapp sechs Millionen Einwohner*innen zu den kleineren Ländern in Europa. Gleichwohl verfügt es über eine hoch angesehene Filmbranche, die Jahr für Jahr attraktive Filme herstellt. Einige von ihnen gewinnen immer wieder wichtige internationale Filmpreise wie etwa „Der Rausch“ (2020) von Thomas Vinterberg und „In einer besseren Welt“ (2010) von Susanne Bier, die 2021 beziehungsweise 2011 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film errangen. Und 2021 erhielt „Flee“ (2021) von Jonas Poher Rasmussen den Europäischen Filmpreis als bester Dokumentarfilm und bester Animationsfilm. Die Kinder- und Jugendfilme brauchen sich dahinter nicht zu verstecken. Auch sie gewinnen immer wieder internationale Preise und schaffen den Sprung in die Kinos, Fernsehprogramme, Streamingportale und Home Entertainment-Angebote in anderen Ländern. So sicherte sich „Schauriges Halloween“ (The Seekers – Thrill Night, 2021") von Philip Th. Pedersen beim „Schlingel“-Festival in Chemnitz 2022 den Preis der Kinderjury. Und das Außenseiterdrama „The Quiet Migration“ (2023) der Regisseurin Malene Choi ist gerade in der Kategorie European Discovery – Prix FIPRESCI für die Europäischen Filmpreise nominiert worden. Zu den größten Festivalerfolgen gehört noch immer der Gläserne Bär der Berlinale 2006 für das herausragende Schüler*innen-Drama „Der Traum“ von Niels Arden Oplev, der drei Jahre später mit „Verblendung“, dem ersten Thriller der „Millennium-Trilogie“ von Stieg Larsson, eine internationale Karriere startete.

Wie wichtig Dänemark als Hersteller von Kinderfilmen im europäischen Maßstab ist, verdeutlicht die Studie „Daten zum europäischen Kinderfilm“, die Steffi Ebert zum dritten internationalen Kids Regio-Forum 2019 in Weimar vorlegt hat. Ein zentrales Ergebnis für die Jahre 2004 bis 2017: Die fünf wichtigsten Kinderfilmproduktionsländer sind Deutschland, Frankreich, Niederlande, Dänemark und Großbritannien. Betrachtet man die Anteile der produzierten Kinderfilme an der nationalen Gesamtproduktion liegen Dänemark, Luxemburg und Norwegen an vorderster Stelle.

Gibt es ein Erfolgsgeheimnis?

Doch warum erfreuen sich skandinavische Kinder- und Jugendfilme im Allgemeinen und dänische im Besonderen so großer Wertschätzung und Nachfrage? Thomas Hailer, künstlerischer Leiter der Nordischen Filmtage in Lübeck und ehemaliger Leiter der Berlinale-Sektion Generation, nennt vier Gründe. „Die nordischen Länder pflegen ein Menschenbild, in dem Kindsein und Kindheit eine wichtige Rolle spielen. Wir kommen dagegen aus einem schwarzpädagogischen Menschenbild – bezeichnend dafür ist ’Die Kindheit als Krankheit’, so durfte eine Abhandlung über Erziehung noch 1951 heißen. Dahinter steckt die Idee, dass Kindheit etwas ist, das dem Menschen auszutreiben sei. 1945 hat Astrid Lindgren Kinderbuch ’Pippi Langstrumpf’ in Schweden veröffentlicht. Als es 1949 in Westdeutschland erschien, gingen die Leute auf die Barrikaden und sagten: Wie kann man nur so ein freies Kind als Heldin darstellen?“

Ein zweiter Grund liegt für Hailer in der Unerschrockenheit der Dän*innen: „Sie lassen Autor*innen und Regisseur*innen Themen bearbeiten, die Kinder wirklich interessieren und gerne sehen wollen, und stellen die Geschmacks- und Schamgrenzen der Erwachsenen einfach hintan.“ Als dritten Faktor nennt Hailer die konsequente Nachwuchsarbeit. „In Kopenhagen steht die wichtigste Filmhochschule der gesamten Region. Dort werden seit Jahrzehnten erfolgreich Filmschaffende ausgebildet, um in erster Linie nordische Filme zu machen. Viele der Absolvent*innen machen später auch international Karriere. Dazu kommt, dass man in Dänemark bei Filmen für Kinder dieselben Ansprüche wie bei Filmen für Erwachsene anlegt. Als Beispiel sei nur der Debütfilm ’Nenn mich einfach Axel’ (2002) von Pia Bovin genannt. Da will ein zehnjähriger Junge zum Islam konvertieren, weil ihm die dänische Gesellschaft zu kalt ist und er sich bei in der Großfamilie seiner palästinensischen Schulfreundin viel wohler fühlt. Spätestens heute wird klar, wie vorausblickend die Filmschaffenden damals schon waren.“

Als letzten Grund führt Hailer das Zutrauen zum nationalen Kino an. „Die Dän*innen trauen sich, ein nationales Kino zu machen. Da gibt es für jeden Tag des Jahres einen Langfilm, die TV-Produktionen eingeschlossen. Sie produzieren für jedes Alterssegment und wollen auch das junge Publikum gewinnen. Wenn jemand mit 22 einen Film von Thomas Vinterberg anschauen soll, muss man dafür sorgen, dass dieser Mensch mit vier oder sechs Jahren schon ’Terkel in Trouble’ (2004) oder ’Kletter-Ida’ (2002) gesehen hat. Die Bereitschaft, sich diese Filme aus dem eigenen Land anzuschauen, ist ein Muskel, der trainiert werden will. Dieses Zutrauen entwickelt sich in Deutschland nur zögerlich. Für junge Kinogänger*innen ist ’Deutscher Film’ doch eher ein Drohwort.“

Foto aus "Kletter-Ida"
"Kletter-Ida" (c) EuroVideo

Vorbildliches Fördermodell

Eine weitere, ebenso einfache wie wirkungsvolle Ursache für die Blüte des dänischen Kinder- und Jugendfilms liegt in seiner Sonderstellung in der Filmförderung. Denn seit 1982 ist gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Viertel der öffentlichen Fördergelder in Filme für ein junges Publikum fließt. Beim Dänischen Filminstitut (DFI), der größten und wichtigsten Filmfördereinrichtung des Landes, gibt es einen Commissioning Editor für Kinderspielfilme und einen weiteren für Dokumentarfilme, Kurzfilme und Serien. Beide Posten werden für je maximal fünf Jahre besetzt. „Alle fünf Jahre kommen also neue frische Augen herein, die eine Vision für die künftige Förderung mitbringen. Damit reagieren wir darauf, dass sich die Inhalte für Kinder und Jugendliche so schnell ändern“, sagt Lizette Gram Mygind, Festival Consultant beim DFI.

Unter dem Strich ist es ein geniales Modell, um das Filmschaffende in vielen anderen Ländern die dänischen Kolleg*innen beneiden. Es ist zwar anderswo offenkundig nicht kopiert worden, es haben sich aber außerhalb von Skandinavien durchaus Initiativen gebildet, die sich inspirieren ließen. Hanna Reifgerst, die Leiterin der Sektion Young Audience der Nordischen Filmtage in Lübeck, verweist auf das Beispiel der Niederlande. „Dort gab es lange das Fördermodell Cinema Junior, das gezielt einheimische Filme für junges niederländisches Publikum unterstützt hat.“ Zudem habe in Deutschland die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ Impulse des nordischen und des niederländischen Modells adaptiert, die mit Sicherheit zu einer größeren Vielfalt hierzulande beigetragen haben, ergänzt Hailer. „Die Finanzierung eines Films wie ’Mission Ulja Funk’ hätte ohne dieses Programm wahrscheinlich fünf Jahre länger gedauert.“

Mit einem komfortablen Fördersystem, einem stabilen öffentlich-rechtlichen Fernsehen und einer mutigen Produzent*innenszene kann Dänemark seine Filme in der Regel von innen heraus selbst stemmen. „Die Stärke und die Größe des Produktionsaufkommens in Dänemark garantiert dabei, dass ein größerer Teil davon zur Auswertung in andere europäische Länder reist“, betont Reifgerst.

Eine besonders aufgeschlossene Haltung des Publikums

Auch für Reifgerst gibt es keine monokausale Erklärung für die dänische Erfolgsgeschichte. Sie sieht eher eine besonders aufgeschlossene Haltung gegenüber dem Publikum am Werk. „Das macht sich in vielen Dingen bemerkbar und es ist auch keine kurzfristige Entwicklung, sondern im Gegenteil, es ist seit Jahrzehnten Strategie der Filmförderung und der Fernsehanstalten, gezielt Inhalte für das junge Publikum zu produzieren und dabei nach originellen Formaten und Erzählungen zu suchen.“

Nach Ansicht der Kinderfilmexpertin handelt es sich um eine kollektive Aufgabe. „Je unterhaltsamer und vielfältiger die Formate für junge Menschen sind, desto lebhafter ist auch die Filmkultur insgesamt in einem Land. Wenn junge Menschen früh lernen, dass es viel zu entdecken gibt im Kino, dann werden sie später auch interessierte Kinogänger.“ Das scheine in Dänemark besonders gut aufzugehen, so Reifgerst. „Dort treten immer wieder großartige Nachwuchsregisseur*innen hervor, die dann oft auch eine internationale Karriere absolvieren. Nach meinem Eindruck hat man in Dänemark längst bemerkt, dass der Kinder- und Jugendfilm keine Nische ist, sondern eine Plattform, um sich mit guten Inhalten für junge Menschen zu profilieren.“

Reifgerst gibt allerdings auch zu bedenken, dass man die überdurchschnittliche internationale Resonanz auf dänische Filme in den vergangenen Jahren nicht überbewerten sollte. „Die Kinder- und Jugendfilme, die international auf Reisen gehen und zum Beispiel zu uns kommen, sind nur ein kleiner Prozentsatz der Filme, die insgesamt hergestellt werden.“

Mut zum Risiko

Eine weitere Erklärung für den guten Ruf dänischer Kinderfilme liegt in der Risikobereitschaft der Filmschaffenden: Sie kneifen nicht vor heiklen Themen, sondern packen auch heiße Eisen an. Die dänische Regisseurin Mette Korsgaard, die auf den Nordischen Filmtagen gerade ihren Dokumentarfilm „Bravehearts“ über ein Krisenzentrum in Kopenhagen für Jugendliche ohne Obdach vorgestellt hat, stimmt dieser Aussage zu. „Mir war nicht bewusst, dass es sich bei uns deutlich anders verhält als in anderen Ländern. Aber es ist richtig, dass wir gerne harte Themen anpacken. Es ist aber auch bekannt, dass es ein Kampf ist, Dokumentarfilmer*in zu sein. Denn man muss sich in diese Umgebungen begeben, die man nicht kennt und die die Leute nicht kennen, und man muss sie wie Anthropolog*innen entdecken. Das erfordert eine Menge Anstrengung. Wir kämpfen für unsere Filme und stecken viele Stunden hinein.“

Auch Hanna Reifgerst betont als großen Vorzug die Bereitschaft, vor keinem Thema und vor keiner Erzählform zurückschrecken. „Ich kann das festmachen an Dokumentarfilmen für Kinder und Jugendliche, da sind die Skandinavier*innen und auch die Dän*innen ganz weit vorne. Die haben keine Angst, andere Filmformen als das Althergebrachte zu erzählen und alle möglichen Themen zugänglich zu machen.“ Die Kinder würden sich ja mit denselben Themen befassen, die auch die Erwachsenen umtreiben. Dazu gehörten auch bedrückende oder Angst machende Sujets, die Erwachsene nicht so gern mit Kindern besprechen möchten wie Krankheit, Krieg oder Tod. „Den dänischen Filmschaffenden gelingt es, solche Thematiken kindgerecht darzustellen, ohne sie zu verharmlosen. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das den dänischen Film ausmacht.“

Foto aus "Calamity"
"Calamity" (c) Universal

Internationale Koproduktionen

Wie viele andere kleinere Länder nutzt auch Dänemark fleißig das Instrument der internationalen Koproduktionen, um Filmprojekte über Ländergrenzen hinweg zu finanzieren und zu realisieren. Dabei liegt es schon aus geografischen und kulturellen Gründen nahe, mit den skandinavischen Nachbarländern zu kooperieren. Auch das oft erfolgreich. So gewann die französisch-dänische Koproduktion „Calamity, a Childhood of Martha Jane Cannary“ von Rémy Chayé 2020 den Lion Jury Award auf dem renommierten Cinekid Festival in Amsterdam.

Andererseits gelingt es nicht allen einheimischen Erfolgsfilmen, auch international zu reüssieren. So lockte die animierte Abenteuerkomödie „Der karierte Ninja“ (2018) von Anders Matthesen und Thorbjørn Christoffersen im Heimatland zwar fast eine Million Besucher*innen ins Kino und avancierte damit zum umsatzstärksten Kinder- und Jugendfilm der Dekade, in Deutschland wurde er aber nur in einer geschnittenen Fassung auf DVD ausgewertet.

Apropos Animation: Aktuell schneiden vor allem dänische Trickfilme im Inland wie im Ausland sehr gut ab. „Wir haben ja eine starke und reiche Tradition beim Animationsfilm und einige sehr gute Geschichtenerzähler“, berichtet Gram Mygind. „Auch wenn dänische Fictionfilme national wie international bei Festivals erfolgreich sind, so hinterlassen gerade die Animationsfilme große Spuren. So hat der Zeichentrickfilm ’Rosa and the Stone Troll’ (2023) von Karla Nor Hombäck nicht nur in unseren Kinos solide abgeschnitten, sondern auch auf Festivals extrem gut performt.“

Die dänische Trickfilmproduktion liegt damit im Trend. Denn Animationsfilme machten in Europa zwischen 2011 und 2017 zwar nur einen Anteil von 33 Prozent an den Kinderfilmproduktionen aus, erreichten aber 55 Prozent des Besuchervolumens. Damit bauten sie ihren Besucher*innenanteil sogar aus, denn zwischen 2004 und 2013 lag der noch bei 46 Prozent, und das obwohl der Produktionsanteil in diesem Zeitraum noch 40 Prozent betrug. Das geht aus der genannten Studie von Steffi Ebert hervor.

Preise auf internationalen Filmfestivals sind für das DFI übrigens keine vorrangiger Gradmesser für Erfolg. „Es ist immer nett und erfreulich, wenn ein Film dort eine Auszeichnung bekommt, aber für uns es wichtiger, dass der Film bei einem Festival zum Publikum findet und Anerkennung gewinnt. Als sehr wichtige Festivals betrachten wir die Berlinale mit ihrer sehr gut kuratierten Generation-Sektion und bei den Animationsfilmen das Festival in Annecy. Was Preise angeht, sind für uns ein Europäischer Filmpreis oder eine Oscar-Nominierung oder ein Oscar am wichtigsten, sie bringen das größte Prestige“, sagt Gram Mygind.

Foto aus "Rosa and the Stone Troll"
"Rosa and the Stone Troll" Quelle: Nordische Filmtage 2023

Frische Ideen

Trotz der soliden Förderstrukturen und Produktionsmengen ruhen sich die Dän*innen nicht auf ihren Lorbeeren aus. So rief das DFI 2020 das Förderinstrument AudienceFocus ins Leben, das es ermöglicht, schon sehr früh die Erwartungen der Zielgruppen in die Projektentwicklung einzubinden. Auch Kinderfilmschaffende können es nutzen. Dazu passt auch die DFI-Studie „Nahaufnahme: Eine Untersuchung von 7- bis 18-Jährigen und ihr Leben mit Filmen, Serien und Sozialen Medien“, die im Mai 2023 publiziert wurde. Sie soll zu einem breiteren Verständnis des Medienkonsums des jungen Publikums beitragen und als Quelle für Filmschaffende, Erzieher*innen und Entscheidungsträger*innen dienen, die Inhalte in Angriff nehmen, die vor allem bei der jungen Generation Resonanz finden sollen.

Die DFI-Beraterin Charlotte Giese hebt eine zentrale Frage hervor, die die Forscher*innen beleuchten sollten: „Welche Erzählungen, Formate, Genres und Plattformen sind für Kinder und Jugendliche relevant und was bedeutet das für ihr eigenes Herstellen und Teilen von Inhalten.“ Der erste Hauptbefund der Studie lautet: „Junge Zuschauer*innen bevorzugen ausgefallene Erzählungen, Spiele mit den Genres und Grenzauslotungen gegenüber sozialem Realismus und allzu Nettem.“ Und ein weiterer Befund: „Überraschende und möglichst explosive Charakterentwicklungen sind für junge Zuschauer*innen wichtiger als die Botschaft, das Thema und die Erzählung selbst.“ Man darf gespannt sein, welche Schlüsse die dänischen Filmschaffenden daraus ziehen und wie sich das in ihren Bewegtbildproduktionen niederschlagen wird.

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