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Hintergrund | | von Marius Hanke

Von vermeintlichen Vorbildern und der Suche nach dem eigenen Ich

Die Kinder- und Jugendfilme von Taika Waititi

Der neuseeländische Regisseur Taika Waititi ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer festen Größe im internationalen Filmgeschäft geworden. Ein Markenzeichen ist sein schräger Humor. Und auffällig ist auch, wie oft er über Kinder und Jugendliche erzählt, auch wenn Kinder und Jugendliche nicht das einzige Zielpublikum seiner Filme sind. Vielleicht liegt die Beliebtheit seiner Filme auch daran, wie er auf spannende Weise die Grenzen zwischen Jung und Alt verschiebt.

Filmbild aus "Boy"
"Boy" (c) Les Films du Préau

Sowohl im Film als auch im Schreiben darüber ist es nur allzu leicht, Kinder und Jugendliche mit der Erwachsenen-Brille zu betrachten – womit diesen dann unbewusst der Raum zur Entfaltung genommen wird, ähnlich wie wenn jemand gegenüber den Jüngsten in eine fiktive Baby-Sprache verfällt und damit wohl kaum zu deren sprachlicher Entwicklung beiträgt. Der mittlerweile omnipräsente Filmemacher Taika Waititi dagegen scheint da konterintuitiv zu funktionieren: Denn in seinen Jugendfilmen schafft er nicht nur sehr schnell Augenhöhe zwischen den Altersunterschieden, sondern stülpt die Verhältnisse oft sogar kurzerhand um, indem er den Älteren den Schein der Vernunft entreißt. Damit stehen seine jungen Protagonist*innen absolut im Mittelpunkt und können sich nach und nach von den eher zweifelhaften Vorbildern des Erwachsenenseins freischwimmen, um schließlich ihren eigenen Weg zu finden.

Auf dem Parkett der internationalen Film- und Serien-Welt ist Taika Waititi als kreatives Multitalent ebenso facetten- und erfolgreich wie umstritten: Mit dem Oscar-nominierten Kurzfilm „Two Cars, One Night“ (2003) und als schöpferische Kraft hinter den beiden erfolgreichsten Filmen Neuseelands („Wo die wilden Menschen jagen“, 2016, und „Boy“, 2010) hat er sich einen Namen gemacht. Den dann einfach mal mit der Vampir-Mockumentary „5 Zimmer, Küche, Sarg“ (2014) und einem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch (zu „Jojo Rabbit“, 2019) nachdrücklich einzementiert, davor noch mit „Thor: Tag der Entscheidung“ (2017) den Einstieg ins Marvel Cinematic Universe geschafft und dort mit frischem Wind begeistert – um später mit „Thor: Love and Thunder“ (2022) in den Augen vieler zu jenem Regisseur zu avancieren, der die „Thor“-Reihe mit zweifelhaftem Humor vor die Wand gefahren hat. Und bei dem sich Fans gerade Sorgen machen, dass sein Eigensinn nun bei „Star Wars“ – seit Jahren soll er an einem Langfilmprojekt für die Reihe arbeiten – ähnliche Richtungswechsel verursachen könnte. Doch während eine Diskussion über Waititis Stärken und Schwächen bei den verschiedensten Projekten sicher ähnlich ausufernd verliefe wie bei Nicolas Cage, lohnt sich ein Blick auf seine Jugendfilme: Denn dort hat er zweifelsfrei großartige Arbeit geleistet und mit seiner untypischen Perspektive einen dankbaren Entfaltungsraum für jungen Held*innen geschaffen. Das Ziel: einfach mal bei sich selbst ankommen.

Geschichten von Jungen, die Männer sein wollen – nur dass genau die sich eben noch wie Kinder verhalten

Alles beginnt mit seinem mehrfach ausgezeichneten Kurzfilm „Two Cars, One Night“ aus dem Jahr 2003: Während die Eltern im Pub trinken, sitzen zwei etwa zehnjährige Brüder auf den Vordersitzen des geparkten Wagens und versuchen sich die Langeweile zu vertreiben. Dann hält ein Wagen ein paar Meter rechts von ihnen, der Fahrer verschwindet und ein Mädchen rutscht nach vorne. Stumme Blicke, Heischen um Aufmerksamkeit wird zu Möchtegern-coolem Verhalten bis hin zu Beschimpfungen; am Ende ist es so etwas wie ein verkappter Flirt mit dem Hoffen auf ein Wiedersehen, nachdem das Auto mit dem Mädchen weggefahren wird. In zwölf Minuten erlebt der Ältere der Brüder hier zwischen zwei Autos eine lebensverändernde Geschichte – während der Jüngere ganz entspannt sein Buch liest.

Das Faszinierende dabei: Mit dem Allein-Zurückbleiben im Auto richten sich die Jugendlichen dort ein, wo sonst nur die Erwachsenen sitzen. Für den Augenblick nehmen sie diesen Raum voll und ganz ein, werden gewissermaßen selbst zu Erwachsenen. Dass sie sich als solche dann stellenweise ziemlich kindisch benehmen, spiegelt letztendlich bloß das klassische männliche Balzverhalten. Auf der Metaebene verschwimmen die Grenzen zwischen den Altersgruppen komplett, weil hier Kinder Erwachsene imitieren, die sich wie Kinder verhalten – ein ironischer Kreislauf.

Zweifelhafte Vaterfiguren: erst omnipräsentes Vorbild …

In Waititis sieben Jahre später entstandenem Spielfilm „Boy“ entwickelt sich das Vorgehen dann weiter: Auch hier orientiert sich der junge Protagonist Alamein alias „Boy“ sehr an seinem Vater, den er über alles vergöttert und von dessen Heldentaten er ständig erzählt – während dieser realistisch betrachtet wohl eher ein Taugenichts zu sein scheint, der erst seine Kinder im Stich gelassen hat und dann für einen verhunzten Raubüberfall im Knast gelandet ist. Doch Boy strahlt bei seinen Erzählungen und auch sonst einen solch mitreißenden Optimismus aus, mit dem er auf fantasievolle Weise seine eigentlich eher von Herausforderungen und Enttäuschungen geprägte Kindheit aufhübscht, dass die Faszination über diese ausgeprägte kognitive Dissonanz zunächst den Schrecken bei Weitem überwiegt. Zumal der Kontrast aus dem, was Boy mit seiner Erzählstimme begeistert erzählt, und dem, was das Publikum währenddessen über seine Augen wahrnimmt, sehr amüsant in Szene gesetzt ist.

Waititi spielt hier gekonnt mit dem Element der kindlichen Fantasie, die Kindern und Jugendlichen kreativen Entfaltungsraum ermöglicht und durchaus sinnvoll sein kann als Coping-Mechanismus, die aber dann ohne entsprechende Reflexion im Erwachsenenalter schnell zur gefährlichen Realitätsverweigerung mutiert: Als schließlich Boys Vater vorgestellt wird, ist offensichtlich, woher er sein Verhalten hat. Doch während der Ältere seine Fehler weiterhin lässig überspielt, während er sich und sein Umfeld ständig in Bedrängnis bringt, erkennt der Jüngere allmählich, wie viel Ärger er dadurch oft verursacht – und dass es vielleicht klüger ist, es anders zu machen. Er entwickelt sich weiter und wächst damit über seinen Vater hinaus.

Filmstill aus Jojo Rabbit
"Jojo Rabbit" (c) The Walt Disney Company Germany / Twentieth Century Fox

… schließlich Metapher und Mahnmal für gefährlichen Stillstand

Ähnlich bei „Jojo Rabbit“: Hier ist die Vaterfigur Hitler als imaginierte Bezugsperson, die dem zehnjährigen Jojo im Deutschland kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs dabei hilft, ein „guter Nazi“ zu sein. Jojos eigentlicher Vater ist im Krieg und der Junge geht voll und ganz in den Statuten der Hitlerjugend auf, weil sie ihm Halt und Orientierung bieten. Dass viele der Überzeugungen komplett an der Realität vorbeigehen, wird ihm erst in kleinen schmerzhaften Schritten bewusst, nachdem er in seinem eigenen Haus die einige Jahre ältere Jüdin Elsa entdeckt, die seine Mutter wohl schon seit einer ganzen Weile versteckt hält. Sie zu melden, würde seine Mutter und ihn ebenfalls in Gefahr bringen – also hält er die Situation aus, entwickelt allmählich Zuneigung zu Elsa und verliebt sich sogar ein bisschen. Der Kontrast zwischen Ideologie und seinen Gefühlen bringt Jojo sichtbar in Bedrängnis, sein Fanatismus gerät ins Wanken. Und während das Nazi-Regime um ihn herum allmählich in sich zusammenbricht, löst sich schließlich auch die kognitive Dissonanz in Wohlgefallen auf und Jojo erarbeitet sich die Chance, endlich seine eigene Identität zu entwickeln.

In seinen Jugendfilmen präsentiert Waititi meist Erwachsene, die verbissen an etwas festhalten – und Kinder, die erst vollkommen naiv in die Fußstapfen ihrer Vorbilder treten, um dann endlich aus ihrem Schatten herauszutreten und die vermeintlich einfachere Welt der Fantasie loszulassen. Dabei scheint ihn insbesondere das störrische Kind im Mann sehr zu beschäftigen – denn es sind vor allem die Männer, die sich hier selbstgerecht und idiotisch verhalten (mit dem einen oder anderen Lichtblick), während beispielsweise Scarlett Johansson in „Jojo Rabbit“ eine absolut fantastische Mutterrolle präsentiert. Und womöglich reihen sich auch Thor und andere seiner (körperlich) erwachsenen Helden irgendwo ein in die Prinzipien seiner Jugendfilme: indem sie im Verlauf ihres Abenteuers endlich Gelegenheit finden, sich von auferlegten Mustern zu lösen, ihr inneres Kind zu heilen und endlich sie selbst zu werden.

Bis die Kinder schließlich den Erwachsenen zeigen, wie es geht

In „Wo die wilden Menschen jagen“ ist es dagegen die Frau vom Jugendamt, die vollkommen freidreht und gefühlt einen halben Krieg inszeniert, um ihren gerade erst in der Pflegefamilie am Rande vom neuseeländischen Nirgendwo abgegebenen Schützling Ricky zurück in die „Obhut“ der Behörden zu holen, nachdem die Pflegemutter überraschend gestorben ist und der Junge trotzdem lieber beim kauzigen, „Crocodile Dundee“-haften Pflegevater Hector bleiben möchte. Ricky hat zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie ein Zuhause gefunden, fühlt sich gesehen und akzeptiert – also bringt er den erst noch widerwilligen Hector auf Umwegen dazu, gemeinsam in die Wildnis zu fliehen, um hier wenigstens eine Familie bleiben zu dürfen. Das eskaliert natürlich komplett, aber im Zuge dieses Abenteuers wachsen die beiden unweigerlich zusammen und nicht nur Ricky macht eine starke Entwicklung durch, sondern auch Hektor lernt im engen Kontakt mit dem Jungen, wie wohltuend es sein kann, sich aus seiner Einsamer-Wolf-Mentalität zu lösen und sich anderen Menschen zu öffnen.

Und wer weiß, welche Entwicklungsschritte sich im Anschluss an den erst kürzlich für Disney inszenierten (Werbe-)Kurzfilm „Der Junge und der Oktopus“ (2024) für die ältere Generation ergeben. Hier kommt ein Junge beim Baden am Strand plötzlich in den Genuss eines ständigen Begleiters in Form eines Oktopusses, der sich auf seinem Kopf festsetzt. Fortan erkunden sie gemeinsam die Welt mit vielen schönen Augenblicken – bis es schließlich an der Zeit ist, den Oktopus weiterzugeben an einen (ganz bestimmten) Erwachsenen, der diese frische Sicht auf die Welt womöglich noch besser gebrauchen kann, nachdem er seit vielen Jahren in den immergleichen Routinen feststeckt. Im Grunde fasst die Geschichte das vorherrschende Prinzip in Waititis Jugendfilmen auf hervorragende Weise zusammen: Durch das Abenteuer wächst der junge Protagonist zu sich selbst – und schließlich ist der Erwachsene dran, endlich mal nachzuziehen.

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