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Hintergrund | | von Christopher Diekhaus

Unheimliche Spiegel

Filme über junge Menschen in Sekten und religiösen Gemeinschaften

Einfache Lösungen für komplexe Probleme – das klingt verlockend. Auf dieser Strategie der Vereinfachung, kombiniert mit Abgrenzung und perfider Manipulation, beruhen auch viele Sekten und religiöse Glaubensgemeinschaften, denen junge Protagonist*innen im Film ausgeliefert sind und für die das Erwachsenwerden vor allem bedeutet: Sich zu lösen aus den dogmatischen Umfeldern, in denen sie groß werden. Sich aufzulehnen, um den eigenen Weg gehen zu können. Spoiler vorweg: Es klappt nicht immer.

Filmstill aus Gotteskinder
"Gotteskinder" (c) W-Film, Kinescope Film

Vor allem im Thriller- und Horrorgenre tauchen Sekten und religiöse Gemeinschaften seit jeher auf, da sie ein guter Nährboden für eskalierende Geschichten sind. Auffällig ist allerdings, dass in den letzten Jahren vermehrt Filme erschienen, die nicht nur Nervenkitzel erzeugen, sondern auch die Mechanismen repressiver Glaubenssysteme illustrieren wollen. Dabei halten sie unserer zunehmend aufgewühlten, polarisierten Gegenwart den Spiegel vor. Einer Welt, in der manche Menschen mit komplexen Zusammenhängen hadern, sich eine „gute, alte“ Zeit zurückwünschen und sich in wachsender Zahl für Gruppierungen mit einfachen Antworten begeistern.

Was ebenfalls ins Auge sticht: Im Mittelpunkt der Sektenwerke stehen oft Kinder oder Jugendliche. Menschen also, die erst recht auf der Suche nach Orientierung sind. Menschen, die in den Filmen häufig in das dogmatische Umfeld hineingeboren werden, sprich: nichts anderes kennen als die Vorschriften und Strukturen ihrer Vereinigung. Im Januar 2025 starteten binnen einer Woche gleich zwei themenbezogene Dramen, interessanterweise beide aus deutscher Produktion.

Coolness, Ekstase und Weltuntergang

In „Jupiter“ (Benjamin Pfohl, 2023) stemmt sich eine Teenagerin gegen ihre Eltern, die einem kosmischen Weltuntergangskult verfallen und auf einen Massenselbstmord zusteuern – ein aus der Realität übernommenes Schreckensmotiv. „Gotteskinder“ (Frauke Lodders, 2024) wiederum taucht in den Mikrokosmos einer evangelikalen Freikirche ein und erzählt über zwei jugendliche Geschwister vom Druck durch das religiöse Umfeld. Ihre Gemeinde wird zunächst als cooler Ort des Miteinanders inszeniert. Musik und Tanz, zentrale Elemente in vielen Sekten, spielen eine große Rolle. Gottesdienste heißen im Film „Celebrations“. Lichtershows und schmissige Songs sollen vor allem junge Leute ansprechen, laden zu ekstatischen Gruppenerlebnissen ein. Der Ausgelassenheit stehen jedoch erzkonservative, patriarchale Grundsätze gegenüber: Nichts darf von Jesus ablenken. Enthaltsamkeit vor der Ehe ist unabdingbar. Der Vater gibt die Richtung vor. Homosexualität führt geradewegs in die Hölle.

Mit eben diesem Weltbild geraten die beiden Hauptfiguren in „Gotteskinder“ in Konflikt. Hannah verliebt sich in den neuen Nachbarsjungen, während Timotheus kurz vor einer Taufzeremonie seine Gefühle für einen Mitschüler entdeckt. Im Raum steht vor allem eine Frage: Finden die Geschwister ihren eigenen Weg, oder zerstört das System ihre Sehnsüchte und Zweifel? Unter die Haut geht besonders Timotheus‘ „Reise“, die buchstäblich in einen Abgrund mündet. Hannah hingegen ringt mit sich und den Erwartungen, ist zum Schluss in ihrem Glauben aber neu bestärkt. Wer Zeit seines Lebens in einem fundamentalistischen Kreis wie dieser Kirche verbracht hat, kann sich nicht so einfach lösen – das ist die bittere Erkenntnis dieses Films.

Filmstill aus Jupiter
"Jupiter" (c) missingfilms

Widerstand in obskuren Parallelgesellschaften

Etwas andere Akzente setzt der englischsprachige Beitrag „The Other Lamb“ (Małgorzata Szumowska, 2019). Zwar lebt die heranwachsende Protagonistin Selah ebenfalls seit ihrer Geburt in einer Sekte. Im Gegensatz zu „Gotteskinder“, wo das ständige Anwerben neuer Mitglieder erwünscht ist, hat sich die hier beschriebene Gemeinschaft aber in die Abgeschiedenheit der Wälder zurückgezogen, führt ein völlig autarkes Dasein. Die Außenwelt wird vom Guru, dem „Hirten“, als das absolute Böse gebrandmarkt. Alles ist auf den einzigen Mann der Runde zugeschnitten. Er teilt die weibliche Gefolgschaft in Ehefrauen und Töchter ein, die Gewänder mit unterschiedlichen Farben tragen und nicht die gleichen Rechte haben. Erstere, mit denen er neue Nachkommen zeugt, sind Menschen mit gebrochenen Lebensläufen, haben alle alten Brücken abgerissen und können daher seinem Bann erst recht nicht entkommen.

Selah schaut anfangs voller Bewunderung zum „Hirten“ auf, der sexuelle Übergriffe mit blumigen Worten verniedlicht. Die Teenagerin, die selbst an der Schwelle zum Erwachsensein steht und gerade eine erschütternde Offenbarung über ihre Mutter verdaut, durchschaut jedoch langsam die perfiden Manipulationsmethoden des vermeintlichen Erlösers. Wer wie sie menstruiert, ist seiner Lehre nach unrein und findet sich plötzlich auf der untersten Stufe wieder. Selahs Bewusstwerdung erzählt der Film in meditativen Einstellungen, Verlorenheit vermittelnden Landschaftsbildern und blutigen Visionen, die dem Ganzen eine surreale Qualität geben. „The Other Lamb“ ist vor allem eine Seelenreise, die auf einen gewaltsamen Emanzipationsakt hinausläuft.

Eine mystisch-flirrende Stimmung entsteht auch in „A Pure Place“ (Nikias Chryssos, 2021). Der Titel deutet es an: Hier ist das in vielen Sektennarrativen betonte Prinzip der Sauberkeit oberstes Gebot. „Wer außen ist rein, der wird’s auch innen sein“, schallt es durch die Lautsprecher auf einer abgelegenen griechischen Insel. An eben diesem Ort residiert der weißgewandete Fust mit seinem Zirkel und schottet sich vor „dem Dreck der Welt“ ab. Ähnlich wie in den anderen vorgestellten Filmen gibt es eine strenge Hierarchie, ein erdrückendes Ungleichgewicht. Während die Führungsriege in schöner Kleidung den Genüssen des Lebens frönt, stellen einige verschmutzte Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen in einer Fabrik Seife her, deren Verkauf Geld in die Kassen der Gemeinschaft spült.

Den Anstoß für einen Aufstand gibt der im Kellerkomplex schuftende Paul, dessen ältere Schwester Irina zu einer Auserwählten des Gurus wird. Schritt für Schritt erkennt die eingangs noch in der Ideologie gefangene Jugendliche die Verlogenheit und die Brutalität der Fustschen Ordnung – und stößt den falschen Propheten schließlich vom Sockel.

Filmstill aus Servus Papa, See You in Hell
"Servus Papa, See You in Hell" (c) Port-au-Prince Pictures, Lydia Richter

Die Perversion utopischer Ideen

Musik und Bewegung, Aspekte, die besonders in „Gotteskinder“ prominent hervortreten, sind auch in „Servus Papa, See You in Hell“ (Christopher Roth, 2022) sehr präsent. In fiktionalisierter Form rekonstruiert das Coming-of-Age-Drama das sexuelle und psychische Missbrauchssystem in der realen Kommune des österreichischen Aktionskünstlers Otto Muehl, der 1991 zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Koautorin des Drehbuchs ist Jeanne Tremsal, die in jungen Jahren selbst in der Gemeinschaft lebte.

Da das im Film nur Otto genannte Oberhaupt die bürgerliche Kleinfamilie und Zweierbeziehungen zu den Wurzeln allen Übels erklärt, wächst Tremsals Alter Ego Jeanne, wie fast alle Kinder in der Kommune, ohne Eltern auf. Liebe darf es nicht geben. Dafür aber freien Sex. Irgendwann findet die Jugendliche mehr als nur beiläufiges Gefallen an einem eigenwilligen Jungen – was natürlich zu Problemen führt. Dass Jeanne in einem totalitären, patriarchalen Regime gefangen ist, merkt sie spätestens dann, als sich der Guru ihr aufzudrängen versucht. Das Gefühl des Unbehagens ist mit ein Auslöser, alles in Frage zu stellen.

Vergleicht man „Servus Papa, See You in Hell“ mit „Gotteskinder“, zeigt sich, dass Ersterer das Moment der Körperlichkeit, der Ekstase regelrecht ins Extreme steigert. Schon die Einstiegssequenz – eine Versammlung mit erdigem Landflair – erzeugt über eine nervöse Handkamera, wilde Klatschgeräusche, Gesänge und expressives Schauspiel eine enorme Energie. Ein Happening mit Verführungskraft, keine Frage. Zugleich löst das Gezeigte aber auch Beklemmung aus. Denn nicht zu übersehen sind die destruktiven Elemente des Kommunenlebens: Einzelne Menschen werden vor der Gruppe verspottet. Ausgrenzung findet auf offener Bühne statt. Kinder stimmen in Lieder ein, die in derber Sprache um Sex kreisen. Die Hauptfigur sitzt hier noch jubelnd dabei. Im weiteren Verlauf entzaubert Roths Drama durch ihre Augen jedoch den Antispießerhof endgültig als grausame Perversion utopischer Ideen.

Ein Kuriosum im Kosmos der filmischen Sektenbeiträge stellt „Midsommar“ (Ari Aster, 2019) dar. Hauptschauplatz ist hier ein kleines Dorf im schwedischen Hinterland, das die Studentin Dani nach dem tragischen Verlust ihrer Familie mit ihrem Partner und dessen Kommilitonen besucht. Eine Naturidylle in sonnendurchfluteten Bildern, hinter denen sich große Konflikte auftun. Dani ist psychisch angeschlagen, bräuchte eine echte Stütze. Ihr Freund aber hat sie eigentlich schon aufgegeben, gaukelt Empathie nur vor. Obwohl der Regisseur die anlässlich eines Mittsommerfestes gepflegten Bräuche der Einheimischen blutig und schockierend inszeniert, lässt er seine Protagonistin genau in dieser archaischen Gemeinschaft das finden, wonach sie sucht: Mitgefühl und Trost. Am Ende steht deshalb keine Flucht aus den Fängen der sektenartigen Gruppe, sondern ein Ausbruch aus einer toxischen Beziehung – und offenbar die Aufnahme in eine neue „Familie“.

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