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Hintergrund | | von Christopher Diekhaus

Und was kommt jetzt?

Das Ende der Schulzeit im Jugendfilm und in Jugendserien

Es ist eine seltsame des Phase des Übergangs. Die Schulzeit ist vorbei, die langjährige Struktur des Alltags und des Jahres gibt es nicht mehr, die Wege von Freund*innen trennen sich, wieder einmal beginnt der Ernst des Lebens – wie auch immer dieser aussehen mag und wo er zu finden sein soll. Anlässlich des Starts von „Räuberhände‟ ein Blick auf die Genre-Vielfalt und die zentralen Themen vieler Schulabschlussfilme.

"Räuberhände" (c) Salzgeber

Freude, Neugier, Wehmut, Zweifel, Verunsicherung, Angst – neigt sich die Schulzeit ihrem Ende zu, liegen oft ganz unterschiedliche Gefühle in der Luft. Ein Lebensabschnitt, der uns geprägt und geformt hat, den wir womöglich oft verteufelt haben, wird nun gegen eine neue Phase eingetauscht, die den Übertritt ins Erwachsensein markiert. Eigenverantwortung wird plötzlich größer geschrieben als je zuvor. Und häufig kommt man nicht umhin, die Komfortzone zu verlassen, vertraute Muster abzustreifen. Das, was lange Jahre Halt gegeben hat, muss man natürlich nicht komplett aufgeben. Viele Dinge – gerade Beziehungen zu Freund*innen – sind aber einem Wandel unterworfen, den es in manchen Fällen vielleicht sogar dringend braucht. Da jeder junge Mensch irgendwann vor der wegweisenden Frage steht, was nach der Schule kommen soll, kreisen unzählige Filme und Serien um diesen Schwellenmoment. So individuell die jeweiligen Geschichten auch sein mögen, kristallisieren sich im Meer der Veröffentlichungen einige wiederkehrende Motive und Konstellationen heraus.

Schonfrist oder Selbstfindung?

Gleich mehrere prominente Themen und narrative Versatzstücke vereint die Romanadaption „Räuberhände“ (Ilker Çatak, 2021), die von den Gymnasiasten Janik und Samuel erzählt. Obwohl ihre sozialen Hintergründe denkbar gegensätzlich sind, verbindet die beiden eine innige, homoerotisch aufgeladene Freundschaft. Während Janik in geordneten Verhältnissen aufgewachsen ist, pflegt Samuel ein ambivalentes Verhältnis zu seiner alkoholkranken Mutter, die ihn allein großgezogen hat. Nach bestandenem Abitur und einem Fehltritt Janiks wollen die Jungs, einem vor Längerem gefassten Plan folgend, gemeinsam nach Istanbul fahren, wo Samuel seinen ihm unbekannten Vater zu finden hofft.

Eine große Reise wie diese, auf der die Zusammengehörigkeit noch einmal beschworen werden kann, bevor sich die Wege in der nahen Zukunft eventuell trennen, dient in vielen Werken über den Abschluss der Schulzeit als Ausgangspunkt. So auch in der Animationskomödie „Die Mitchells gegen die Maschinen“ (Michael Rianda, Jeff Rowe, 2021), in der es vor allem um die Spannungen zwischen der ein Studium beginnenden Protagonistin und ihrem Vater geht. Der Familientrip zum College-Ort der jungen Frau ist holpriger als gedacht, weil sich die Mitchells unverhofft in einer Roboterapokalypse wiederfinden. Ausgerechnet inmitten dieser chaotischen Lage blüht der Zusammenhalt von Neuem auf. Mehr noch: Tochter und Vater lernen, die Interessen und Eigenschaften des jeweils anderen zu respektieren. In „Räuberhände“ sind es unterdessen weniger äußere Einflüsse als unterschiedliche Erwartungen an die Reise, die für Turbulenzen sorgen. Janik sieht in ihrer Unternehmung einen Urlaub, eine Schonfrist. Samuel hingegen will seine unklare Identität ergründen und sucht in Istanbul nach einem festen Platz.

Die Familie und den Heimatort weit hinter sich lassen

"Lady Bird" (c) Universal

In gewisser Weise ist die Reise in „Räuberhände“ ein Ausbruch aus der Enge der bisherigen Verhältnisse und eine bewusste Ablösung vom Elternhaus. Aspekte, die in ähnlichen Film- und Fernsehproduktionen immer wieder von zentraler Bedeutung sind. Die Serie „Panic“ (Lauren Oliver, 2021) etwa porträtiert eine vom Leben in einem US-amerikanischen Kaff desillusionierte Jugend. Ein Tag gleicht dem anderen. Jobperspektiven sind denkbar schlecht. Nicht wenige der Hauptcharaktere gehören zur Unterschicht, dem sogenannten „white trash‟, und haben Angst, in die gleiche Abwärtsspirale wie ihre Eltern hineinzuschlittern. Was bleibt, ist ein alljährlich stattfindendes lebensgefährliches Mutprobenspiel der Highschool-Absolvent*innen, dessen stattliche Gewinnsumme es ermöglicht, auszureißen und den eigenen Träumen nachzujagen.

„Nichts wie weg aus der provinziellen Beklemmung“ ist auch der Impuls des Titelhelden im französischen Drama „Marvin“ (Anne Fontaine, 2017), der nicht nur in der Schule, sondern auch von seinem Vater wegen seiner Homosexualität gedemütigt wird. Als er erkennt, dass er sich in seinem Dorf nicht verwirklichen kann, zieht es den theaterbegeisterten Marvin nach Paris. In der kulturell bunten Hauptstadt sammelt er erotische Erfahrungen mit älteren Männern und nimmt sich vor, seine traumatische Kindheit auf der Bühne zu verarbeiten. Mit reichlich Wut im Bauch begegnet nicht zuletzt die Protagonistin in der preisgekrönten Tragikomödie „Lady Bird“ (Greta Gerwig, 2017) dem in ihren Augen rückständigen Heimatort Sacramento, den sie lieber heute als morgen für ein Studium in einer liberalen Ostküstenmetropole hinter sich lassen will. In die Haare kriegt sich die unangepasste 17-Jährige, die nicht mir ihrem Geburtsnamen gerufen werden will, besonders mit ihrer Mutter, die den Plänen ihrer Tochter wegen der finanziellen Sorgen der Familie ablehnend gegenübersteht. Am Ende kann Lady Bird ihren Wunsch in die Tat umsetzen, begreift aber, was sie ihren Eltern zu verdanken hat, und gewinnt plötzlich einen neuen Blick auf Sacramento.

Von einer ebenso bedrückenden wie radikalen Loslösung erzählt der Thriller „Run – Du kannst ihr nicht entkommen“ (Aneesh Chaganty, 2020), der das sogenannte Münchhausen-Stellvertretersyndrom in ein nervenaufreibendes Kammerspiel überführt. Einer im Rollstuhl sitzenden Teenagerin, die stets zu Hause unterrichtet wurde und sich um einen College-Platz beworben hat, wird eines Tages bewusst, dass ihre zahlreichen Gebrechen Erfindungen ihrer Mutter sind, die um jeden Preis verhindern will, dass ihre Tochter flügge wird.

Zeit der Zweifel

Der natürliche Prozess der Selbstermächtigung und des Loslassens produziert bei Kindern und bei Eltern freilich auch Irritationen, Zweifel und Verunsicherung. Ist der Weg, den ich einschlage, sinnvoll? Was soll ich nach der Schule überhaupt machen? Lasse ich vielleicht meine Liebsten im Stich? All dies sind Fragen, die viele Filmen und Serien aufwerfen. In François Ozons flirrender Liebesgeschichte „Sommer 85“ (2020) ist sich eine der beiden Hauptfiguren unschlüssig, ob sie nach den Ferien eine Lehre anfangen oder doch lieber den Abiturweg einschlagen soll. In „Räuberhände“ geht es an einer Stelle darum, ob die Jungs nach ihrem Abschluss etwas „Handfestes“ lernen oder eine Unilaufbahn in Angriff nehmen wollen. Dabei blitzt auch eine rebellische Attitüde auf, wenn Janik seinem pazifistischen Vater erklärt, er könne sich ein Studium bei der Bundeswehr vorstellen. Einer der bekanntesten Filme zum Thema „Orientierungslosigkeit“ ist sicherlich der Klassiker „Die Reifeprüfung“ (Mike Nichols, 1967), in dem ein zögernder College-Absolvent eine Affäre mit einer deutlich älteren Freundin seiner Eltern beginnt – und die Anforderungen seiner Umwelt konsequent von sich weist. Im Spannungsfeld zwischen der Verwirklichung eines Traums und der Verantwortung gegenüber der eigenen Familie bewegt sich die Komödie „Verstehen Sie die Béliers?“ (Éric Lartigau, 2014). Einer 16-Jährigen, deren Eltern und Bruder gehörlos sind, eröffnet sich darin die Chance, in Paris Gesang zu studieren. Ein Dilemma, denn wenn sie ihren eigenen Weg geht, kann sie ihre für die Familie sehr wichtige Aufgabe als Vermittlerin im Alltag nicht mehr wahrnehmen.

Die letzte große Party

"Booksmart" (c) Weltkino / Francois Duhamel / Annapurna Pictures

Sehr präsent ist in Arbeiten über das Ende der Jugendzeit und den Eintritt in die Erwachsenenwelt auch der oft mit nostalgischen Gefühlen verbundene Gedanke einer letzten großen Sause, wie er etwa in George Lucas‘ Frühwerk „American Graffiti“ (1973) zum Ausdruck kommt. In eine ähnliche Kerbe schlägt „Booksmart“ (2019), das Regiedebüt der Schauspielerin Olivia Cooke. Zwei Freundinnen, die ihre Highschool-Zeit mit blendenden Noten hinter sich gebracht haben, stellen kurz vor der Entlassfeier fest, dass sie, anders als alle ihre Mitschüler*innen, ständig damit beschäftigt waren, den Boden für eine erfolgreiche Zukunft zu bereiten und darüber ganz vergessen haben, Teenager zu sein. Nur eine Nacht bleibt ihnen, um den entgangenen Spaß im Schnelldurchlauf nachzuholen.

Die vorgestellten Beispiele offenbaren vor allem zwei Dinge: Beliebt sind Geschichten über die Phase des Schulabschlusses mit all ihren Freuden und Tücken schon seit vielen Jahrzehnten und nicht erst, seitdem die großen Streamingdienste Teenager als wichtige Zielgruppe für sich entdeckt haben. Auffallend ist allerdings, dass inzwischen – Filme wie „Dude“ (Olivia Milch, 2018) belegen es – ein besseres Gespür für diverse Figurenkonstellationen existiert. Deutlich geworden sein sollte außerdem, dass der Genrereichtum größer ist, als man meinen könnte. Zu all den seichten, formelhaften Jugendkomödien, die einzig darum kreisen, wer wann mit wem ins Bett geht, gibt es so viele schöne Alternativen, die mit ihren hin- und hergerissenen, den Pfad der Selbstfindung beschreitenden Held*innen ehrlich berühren und zum Nachdenken über die unterschiedlichen Formen des Aufbruchs – ganz gleich ob wehmütig, verbittert oder begeistert – anregen. Erstaunen muss in diesem Zusammenhang jedoch die starke Dominanz des Musters „Gymnasiast*innen stehen an der Schwelle“. Abgänger*innen anderer Schulformen geraten verhältnismäßig selten in den Blick.

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