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Hintergrund | | von Kirsten Taylor

Teens on the road

Auf dem Weg zum Erwachsenwerden

Geschichten über das Reisen und Unterwegssein sind im Kino zu einem beliebten Subgenre mit eigenen Erzählkonventionen geworden. Auch jugendliche Protagonist*innen machen sich seit jeher in Filmen immer wieder auf den Weg. Die Aufbrüche, die Ausbrüche aus dem Alltag, die Lust auf Abenteuer, die Sehnsucht nach Freiheit und dem Leben für den Moment: Die klassischen Themen des Roadmovies scheinen besonders gut zu den Entwicklungsaufgaben und zum Lebensgefühl jugendlicher Held*innen zu passen.

Es gibt im Roadmovie immer den Moment des Aufbruchs. Das Bisherige wird zurückgelassen, dem Zukünftigen entgegengeblickt, ohne genau zu wissen, was einen erwartet oder wohin die Reise führen wird. Doch die Hoffnungen sind groß. Ebenso die Versprechungen, vor allem die der Freiheit und die der Veränderung. Wer an Roadmovies denkt, hat die lässigen Biker aus „Easy Rider“ (1969, Dennis Hopper) vor Augen, Bonnie und Clyde auf der Flucht oder Adrenalin-Junkies, die sich viel zu schnelle Autorennen liefern. Das Roadmovie ist per se kein Jugendgenre, doch haben Teenager*innen oder auch Kinder – man denke an „Paper Moon“ (1973, Peter Bogdanovich) oder „Alice in den Städten“(1974, Wim Wenders) – im gängigen Roadmovie ihren festen Platz (wenngleich sie dort vor allem die Entwicklung ihrer erwachsenen Begleiter anstoßen). Wird ein junges Publikum anvisiert, betonen die Filme oft das Abenteuerliche, etwa die „Flussfahrt mit Huhn“ (1984, Arend Agthe) oder der befreiende Törn mit einer gestohlenen Jolle in „Nordsee ist Mordsee“ (1976, Hark Bohm), der auch als gesellschaftskritisches Jugenddrama gelesen werden kann. Eigentlich ist dieses Genre also wie gemacht für jugendliche Protagonist*innen, geht es im Roadmovie doch um so vieles, was Heranwachsende umtreibt: die Suche nach einem festen Platz im Leben, das Entkommen aus dem einengenden Alltag, die Frage nach dem eigenen Ich und die Möglichkeit, das tun zu können, was man will. Im Aufbruch des Roadmovies spiegelt sich gewissermaßen der Beginn des Erwachsenwerdens.

In die Freiheit, aber mit einem Ziel vor Augen

"Mikro und Sprit" (c) Studiocanal

Wenn Kinder und Jugendliche „on the road“ sind, dann sind sie es allein, ohne Eltern als Kontrollinstanzen. Wolfgang Herrndorf, Autor des Romans „Tschick“, hat in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diesbezüglich von „der Eliminierung der Erwachsenen“ gesprochen. Mehr Freiheit geht eigentlich nicht. Zumal man endlich auch all das tun kann, was normalerweise verboten ist. Auto fahren zum Beispiel – und das Fortbewegungsmittel ist im Roadmovie eben von zentraler Bedeutung. Wenn die beiden 14-jährigen Außenseiter in „Tschick“ (2015, Fatih Akin) im „geliehenen“ himmelblauen Lada oder William und Gyllen, die Helden aus Sebastian Schippers „Roads“ (2019), im Wohnmobil von Gyllens Stiefvater losfahren, setzen sie sich selbst in eine erwachsene Position: Mit dem Lenkrad nehmen sie auch das eigene Schicksal in die Hand. „Hast du nie davon geträumt, unabhängig zu sein? Zu machen, was du willst, ohne dass du jemanden um Erlaubnis fragen musst?“ Diese Frage, die der 14-jährige Théo seinem Schulfreund Daniel in „Mikro & Sprit“ (2015, Michel Gondry) stellt, ist das Signal zum Aufbruch. Wohlwissend, dass niemand ihnen freiwillig einen Autoschlüssel überlassen wird, basteln sie sich aus dem Motor eines Rasenmähers ein eigenes Gefährt, mit dem sie im Schneckentempo ihren Heimatort Versailles hinter sich lassen.

Die Straße (oder auch der Fluss) ist die Gegenwelt zum Alltag mit all seinen Vorschriften und Regulierungen. Der Weg ist das Ziel, heißt es, aber in der Regel brechen die jungen Reisenden – im Gegensatz zum erwachsenen Gegenstück im Roadmovie – meist mit einem konkreten Ziel vor Augen auf, auch wenn sie es nicht immer erreichen. Tschick und Maik werden nie in der „Walachei“ ankommen, aber Gyllen und William schaffen es bis nach Calais und die beiden Freunde aus „Mikro & Sprit“ bis an den Ferienort des Mädchens, in das sich Daniel in der Schule verliebt hat. Die kleine Reisegruppe aus Christian Los „Thilda und die beste Band der Welt“ (2018) reisen – im natürlich „geliehenen“ Campingbus – zu einem Rockwettbewerb ins norwegische Tromsø. Doch noch wichtiger ist, dass die drei Jungen und das Mädchen zu Freunden werden.

Grenzen erkennen und Träume bewahren

Die Reise der jungen Helden – selten der Heldinnen – markiert in mehrfacher Hinsicht einen Übergang. Sie ist frei und im weitesten Sinne interpretiert eine „rite de passage“. Wenn Jugendliche sich im Roadmovie auf den Weg machen, sind sie am Ende ihrer Reise immer ein Stück reifer geworden. Sie haben schwierige Situationen gemeistert, sich selbst kennengelernt und den Wert von Freundschaft erfahren. Damit einher geht aber auch, dass dabei der eine oder andere Traum auf der Strecke bleibt. Als sich in „Roads“ der englische Ausreißer Gyllen und der gleichaltrige William aus dem Kongo gemeinsam auf die Reise von Tanger nach Calais machen, haben sie beide eine andere, bessere Zukunft vor Augen. Am Ende ihrer Fahrt haben sie zwar im jeweils anderen einen Freund gefunden, müssen aber auch einsehen, dass ihr Wunschdenken nicht mit der Realität vereinbar ist. Ihre Wege trennen sich. Sie sind mit ihren Träumen „aufs Leben getroffen“, wie Sebastian Schipper im Interview zu seinem Film „Roads“ gesagt hat. Diese Desillusionierung ist für Schipper ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden, befreit sie doch „von einer Illusion“. Die Kunst sei dabei, dass man überlebe, ohne mit dem Träumen aufzuhören.

Intensiv für den Moment leben

"Amercian Honey" (c) Universal

Doch bis dahin haben Gyllen und William den Moment gelebt, das Hier und Jetzt aufgesaugt und sich unvoreingenommen auf Menschen und Situationen eingelassen. Eine spontane und sehr bekiffte Party im Campingbus („Roads“), Schlafen unter freiem Himmel am Fuße eines Windrads („Tschick“) oder die andauernden Partys, die die 18-jährige Star mit ihren Reisegefährt*innen in „American Honey“ (2016, Andrea Arnold) erlebt, die tagsüber als Drückerkolonne Abos verkaufen und abends das Jungsein, die vermeintliche Freiheit und die Gemeinschaft feiern. „We explore America“ – mit diesem Satz lockt Jake das Mädchen zum Einsteigen in den Bus und sie nutzt diese Gelegenheit, um der Tristesse ihrer prekären Lebensumstände in einer Kleinstadt irgendwo in Oklahoma zu entkommen. „American Honey“ erinnert an die freiheitsliebenden Biker-Filme der 1950- und 60er-Jahre, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, indem sie die Umherziehenden mit den bürgerlich Sesshaften konfrontieren und im Vorbeifahren das Bild eines Landes festhalten.

Gestärkt ankommen

Dasselbe Prinzip hat auch Alfonso Cuarón in „Y tu mamá también“ (2001) angewandt. Auf einer Fahrt „zum schönsten Strand“ werden nicht nur anhand der Protagonisten und Freunde Tenoch und Julio, beide aus Mexiko-Stadt, aber aus verschiedenen sozialen Schichten stammend, Konflikte und Risse der mexikanischen Geschichte deutlich. Durch die verdreckten Autoscheiben, ganz nah und doch wie durch einen Schleier, registriert die Kamera die Armut der Landbevölkerung und die ständige Drangsalierung durch die Polizei als noch tiefer gehende Probleme – es ist eine Welt, die die Erwachsenen zu verantworten haben. Die vor allem auf sexuelle Abenteuer erpichten Helden lassen sich dadurch nur kurz beeindrucken. In ihrer Naivität gleichen sie insbesondere Gyllen aus „Roads“, der das eigentlich nicht zu übersehende Flüchtlingsthema auf seiner Reise mit William lange ausblendet, den Menschen aber auch mit großer Unvoreingenommenheit begegnet und schließlich merkt, dass er sich positionieren muss.

Während sich erwachsene Protagonist*innen im Roadmovie häufig in Unterwegssein verlieren, finden Kinder und Teenager*innen in der Regel wieder zurück an einen festen Ort. Vieles ist danach anders: Die Wege von Julio und Tenoch trennen sich für immer, andere sind innerlich so stark geworden und lassen nun sogar einst angehimmelte Mädchen abblitzen. Die Konfrontation mit dem Leben „on the road“ hat etwas in Gang gesetzt. Man nennt es wohl Erwachsenwerden.

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