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Hintergrund | | von Holger Twele

Tanz dein Leben!

Geschlechterrollen und Gesellschaftskritik im Ballettfilm

Im Kinder- und Jugendfilm hat sich ein Subgenre entwickelt, durch das sich perfekt über klassische Coming-of-Age-Themen erzählen lässt: der Ballettfilm. Die klassische Frage „Wer bin ich?‟ wir hier mit Tanz und Bewegung beantwortet. Ein Blick auf ausgewählte Ballettfilme, die Geschlechterrollen hinterfragen, Grenzen des Körperlichen ausloten und bisweilen auch Gesellschaftskritik üben.

"Billy Elliot" (c) Universal

Über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens lässt sich im Kino in unzähligen Varianten erzählen, selbst wenn das Grundmuster des Coming-of-Age-Films festgelegt ist und fast immer aus einer subjektiven Außenseiterposition heraus erfolgt. Es geht um Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung, um die Suche nach dem eigenen Weg, die Auseinandersetzung mit der Welt der Erwachsenen, insbesondere den Erwartungshaltungen der Eltern, nicht selten auch um tiefgreifende erste Liebeserfahrungen und um sexuelle Orientierung. Im „Subgenre“ des Ballettfilms, der gerade in den letzten Jahren einige Glanzlichter zu verzeichnen hatte, lassen sich all diese Aspekte dramaturgisch gut bündeln, nicht zuletzt, weil hier körperliche Ausdrucksformen bis über die Schmerzgrenze der jeweiligen Protagonist*innen hinaus im Vordergrund stehen, oft wichtiger als die Sprache selbst sind und sich obendrein sehr anschaulich und über die Altersgruppen hinweg allgemeinverständlich visualisieren lassen. Hinzu kommt, dass es gerade in Bezug auf die sexuelle Identität von Jungen trotz unzähliger Gegenbeispiele aus der Geschichte des Balletts immer noch das Klischee zu überwinden gilt, Ballett sei vor allem etwas für Mädchen und Frauen. Der Bogen spannt sich über fast zwei Filmjahrzehnte und 60 Jahre Geschichte hinweg exemplarisch vom Allzeit-Filmklassiker „Billy Elliot“ (Stephen Daldry) aus dem Jahr 2000 bis hin zu „Nurejew – The White Crow“ (Ralph Fiennes), der im Herbst 2019 in den Kinos startet (wobei letzterer nur teilweise über die Jugendphase erzählt).

Selbstausdruck durch Tanz

Untrennbar mit dem letzten großen Bergarbeiterstreik des Jahres 1984 im Nordosten von Großbritannien verbunden, bei dem sich die Gewerkschaft gegen die Privatisierungsmaßnahmen, die Schließung der unrentablen Hütten und die Sparpolitik von Margaret Thatcher insbesondere im sozialen Bereich wehrte, hat der Debütspielfilm „Billy Elliot“ von Stephen Daldry bis heute nichts von seiner filmischen Faszinationskraft verloren. Zu verdanken ist dies nicht zuletzt Jamie Bell in der Rolle von Billy, einem elfjährigen Jungen, der statt zu boxen viel lieber Ballett tanzen möchte und sich mit seinem Wunsch gegen die Widerstände und Ressentiments des streikenden Bergarbeiter-Vaters und seines älteren Bruders durchsetzen muss.

Geradezu exemplarisch gelingt es diesem Werk, einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, den Kampf der Bergarbeiter, mit einem persönlichen Schicksal, dem Kampf von Billy für seine Zukunft als Balletttänzer, zu verknüpfen. Ein Teil dieses Kampfes besteht gerade darin, sich als Junge gegen die homophoben Vorurteile des Vaters zur Wehr zu setzen, alle Tänzer seien schwul, und das auch, weil Billys bester Freund unzweideutig homosexuell ist. Mit Worten allein kann Billy seinen Vater nicht überzeugen und genau das macht die Stärke dieses Klassikers aus. Billys Aufbegehren drückt sich vor allem in den rhythmisch-tänzerischen Bewegungen seines Körpers aus, zunächst voller Wut und ohnmächtiger Verzweiflung, später dann in direkter Konfrontation mit seinem Vater, der auf diese Weise erkennt, was für ein Talent sein Sohn besitzt und nun alles unternimmt, um ihn zu fördern.

Wie viel hält der Körper aus?

"Girl" (c) DCM

Aus heutiger Sicht könnte man dem Film allenfalls vorwerfen, er habe latente Homophobie nicht hinreichend zurückgewiesen, etwa wenn Billy behauptet: „Bloß weil ich Ballett mag, bin ich noch lang kein Schwuler.“ Zumindest im dokumentarischen Ballett- und Ausdruckstanzfilm der nachfolgenden Jahre spielen solche Vorurteile offensichtlich keine Rolle mehr. Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch dokumentierten 2003 in „Rhythm is it!“ ein Education-Projekt der Berliner Philharmoniker, in dem 250 Berliner Schülerinnen und Schüler unter Leitung des britischen Choreografen Royston Maldoon ein Stück von Igor Strawinsky einübten, bei dem die teilnehmenden Jugendlichen für sich ein ganz neues Körpergefühl entwickelten und deutlich an Selbstvertrauen gewannen. Und Bess Kargmann begleitete 2011 in „First Position – Ballett ist ihr Leben“ ein Jahr lang sechs weibliche und männliche Kinder und Jugendliche in den USA bei ihren Vorbereitungen zu einem der weltweit größten Ballettwettbewerbe, an denen jährlich 5000 junge Menschen teilnehmen. Hier kommt ein neuer Aspekt zum Tragen, der bei „Billy Elliot“ allenfalls angedeutet wurde. Das Interesse am Ballett besteht zwar weiterhin darin, sich ausdrücken zu können, ohne reden zu müssen, aber nun rücken die Mühen und Plagen beim Training mit blutunterlaufenen Zehen, Bandagen und mit Folterinstrumenten in den Fokus, denn „du zwingst den Körper, Dinge zu tun, für die er nie gemacht wurde“.

Die positiven und negativen Auswirkungen dieser betonten Körperlichkeit werden dann auf eindringliche Weise 2018 unter einer völlig überraschenden neuen Perspektive wieder mit dem Gender-Thema verknüpft in dem belgisch-niederländischen Spielfilm „Girl“ von Lukas Dhont. Denn die 15-jährige Lara wurde im Körper eines Jungen geboren und steht nun kurz vor ihrer operativen Geschlechtsangleichung. Eigentlich sollte sie sich schonen, doch da Lara unbedingt Ballerina werden möchte, verlangt sie ihrem Körper das Äußerste ab und als sie sich auch noch in den Nachbarjungen verliebt, ist Lara restlos überfordert.

Ballett-Biografien zwischen Politik und Privatem

"Yuli" (c) Piffl

Bei den derzeit aktuellsten Ballettfilmen, die den Sprung ins deutsche Kino schaffen, verschmelzen Realität und Fiktion mittels eines biografischen Ansatzes, der auf die Lebensgeschichte und insbesondere die Kindheit zweier international renommierter Tänzer zurückblendet. Wie in „Billy Elliot‟ nehmen dabei sowohl in Icíar Bollaíns „Yuli“ über den kubanischen Tänzer Carlos Acosta als auch in Ralph Fiennes’ „Nurejew – The White Crow“ über den russischen Tänzer Rudolf Nurejew der private und gleichermaßen der gesellschaftspolitische Hintergrund entscheidenden Einfluss auf den Lebensweg und die Karriere dieser beiden Ausnahmetänzer.

Carlos Acosta wollte als Kind lieber Fußballstar werden, wird von seinem Vater aber regelrecht zum Ballettunterricht geprügelt, um ihn von der Straße weg zu holen und ihm eine solide Ausbildung zu ermöglichen, die für den Jungen aus ärmlichen Verhältnissen dank der Errungenschaften der kubanischen Revolution kostenlos war. Im Unterschied zu Carlos hatte der Vater keine Probleme damit, dass es im Kuba der 1980er-Jahre keineswegs selbstverständlich war, wenn ein Junge Ballettunterricht nahm. Als Acosta nach einigen unfreiwillig in der Ballettschule verbrachten Jahren dann aus eigener Entscheidung seine Ausbildung beendete, war Kuba wirtschaftlich vom Westen isoliert und von der Sowjetunion abhängig, so dass sich der Tänzer entscheiden musste, ob er seine persönliche Karriere über die Interessen seiner Heimat setzen wollte.

Vor eine ähnliche Entscheidung gestellt sah sich Rudolf Nurejew mehr als 20 Jahre zuvor, der den ersten Auslandsaufenthalt des Leningrader Kirow-Balletts im Westen nutze, um sich trotz der Bespitzelung durch den sowjetischen Geheimdienst in Paris abzusetzen und politisches Asyl zu beantragen. Ganz im Unterschied zu Acosta war Nurejew in seiner Kindheit ein schwächliches, stets krankes Kind, das im Ausdruckstanz seine Bestimmung fand und sich dieser Bestimmung unbeirrbar und rebellisch, rücksichtslos und egoistisch verpflichtet fühlte.

Beiden Filmen gelingt es mit ganz verschiedenen filmsprachlichen Mitteln, nicht nur ein bedeutendes Stück Zeitgeschichte in Erinnerung zu rufen, sondern auch zu zeigen, wie wichtig es ist, für seine Ziele und Träume zu kämpfen und welche Faszinationskraft und Macht dem Ballett innewohnt. Und dabei ist es völlig egal, ob es von Jungen oder von Mädchen beziehungsweise von Männern oder Frauen getanzt wird.

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