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Hintergrund | | von Werner C. Barg

Sounds des Erwachsenwerdens

Zur erzählerischen Funktion von Musik in ausgewählten Coming-of-Age-Filmen

Musik und Jugend sind eng miteinander verwoben. Jugendfilme zeigen diese Verbindung auf ganz unterschiedliche Arten, mal durch Musik als Erweckungserlebnis und Befreiungsmoment, mal durch Musik als Mittel der Charakterisierung. Ein Blick auf „Juno“ (2008) von Jason Reitman, „Lady Bird“ (2017) von Greta Gerwig, „Blinded by the Light“ (2019) von Gurinder Chadha und „Die Magnetischen“ (2021) von Vincent Maël Cardona aus musikalischer Sicht.

Filmbild aus Blinded by the Light
"Blinded by the Light" (c) Warner Bros.

Klassische Coming-of-Age-Filme wie „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Nicholas Ray, 1955) zeichnen sich dadurch aus, dass die im Mittelpunkt stehenden Jugendlichen oder jungen Erwachsenen einen heftigen Konflikt durchleben, oft in einer Auseinandersetzung mit den Eltern. Durch diesen entwickeln sie Ich-Stärke und können ihre Identität als eigenständige Persönlichkeit besser ausbilden beziehungsweise erproben. Manchmal aber scheitern sie auch. Diese Konstruktion durchzieht noch heute die Handlungsverläufe von Jugendfilmen wie „Juno“ (2008) von Jason Reitman, „Lady Bird“ (2017) von Greta Gerwig, „Blinded by the Light“ (2019) von Gurinder Chadha und „Die Magnetischen“ (2021) von Vincent Maël Cardona. Diese vier Filme laden auch ein zu einer Betrachtung der erzählerischen Rolle, die die Filmmusik in diesen spielt.

Magische Erweckungserlebnisse im Regen

„Blinded by the Light“ dreht sich um einen Vater-Sohn-Konflikt in einer pakistanischen Einwander*innenfamilie in der britischen Autostadt Luton Ende der 1980er-Jahre. Vater Malik ist mit den Plänen seines 16-jährigen Sohns Javed, Schriftsteller zu werden, nicht einverstanden. Doch trotz der wütenden Tiraden des Vaters hält der Sohn an seinem Plan fest, wobei die Musiksongs von Bruce Springsteen für Javeds Standfestigkeit eine große Rolle spielen. Hierfür wird Javeds Erweckungserlebnis durch Springsteens Rocksongs in Gurinder Chadhas Film in einer wunderbaren Szene dargestellt. Während Javed mit seinem Walkman im strömenden Regen durch sein Viertel läuft, werden Passagen der Songtexte, die Javed hört, auf Mauern und Häuserwände projiziert. So wie einst der junge Springsteen das Schreiben von Rockmusik als Chance für sich erkannte, der Enge seines katholischen Elternhauses in New Jersey zu entfliehen, so erkennt auch Javed in dieser Szene des Films, wie die Rockmusik ihm helfen kann, sich selbständig und unabhängig zu machen von den Zwängen, die ihn umgeben. Aber nicht nur mit den Songs von Springsteen schafft Chadha in ihrem Film Momente der Befreiung durch Musik und Tanz. So schleicht sich Javeds Schwester Shazia mit einem Vorwand heimlich in Diskotheken, in denen Asia-Pop gespielt wird, um gleichfalls im Tanz einen Moment der Befreiung zu erleben. Indem Chadha die Nebenfigur Shazia zu „Heera“ von Maar Chadapa tanzen lässt, einem Disco-Song, der traditionelle Rhythmen des Punjabi-Volkstanzes einbezieht, verdeutlicht sie, dass die Rezeption moderner Popmusik aus den Heimatländern der Eltern oder Großeltern den Kindern helfen kann, die Kluft zwischen den (Familien-)Traditionen und ihrem gegenwärtigen Lebensumfeld ein Stück weit zu überwinden.

Filmbild Blinded by the Light
"Blinded by the Light" (c) Warner Bros.

Sich den Frust vom Leib tanzen

In Cardonas „Die Magnetischen“ ist die Konfliktkonstellation differenzierter als in Chadhas Filmerzählung: Philippe betreibt Anfang der 1980er-Jahre mit seinem etwas älteren Bruder Jérôme einen kleinen Piratensender auf dem Dachboden des Anwesens, in dem ihr Vater unten seine Autowerkstatt betreibt. Jérôme moderiert die Sendungen; Philippe ist der Techniker an den Reglern im Hintergrund. Jérôme ist extrovertiert und impulsiv. Weil er mit seinem Leben aber im Grunde sehr unzufrieden ist, neigt er zu Alkoholexzessen, wodurch er oft mit seinem Vater aneinandergerät. Philippe erträgt diese Familiensituation still und besonnen. Er ist introvertiert, schüchtern und zurückhaltend. Daher findet er gegenüber Marianne, die für eine Ausbildung zur Friseurin in die Kleinstadt gekommen ist, auch keine Worte, um ihr seine Liebe zu gestehen – zumal weder er noch Marianne Jérôme hintergehen möchten, der es spielend schaffte, die junge Frau für sich einzunehmen. Während er seinen Bruder mit Marianne erlebt, leidet Philippe stumm. Seinem Familien- wie Liebeskonflikt kann er dadurch entfliehen, dass er überraschend zum Militärdienst eingezogen wird.

Ähnlich wie Chadha nutzt Cardonas zeitgenössische Popmusik, um Momente der Befreiung seiner Hauptfigur zu zeigen. So tanzt sich Philippe beim Aufräumen in der Kantine mit dem Stück „Damaged Goods“ von Gang of Four den ganzen Militärdrill vom Leib. Als Initiation für seine Liebesbeziehung zu Marianne, kann die Szene gesehen werden, als Philippe morgens Marianne auf dem Dachboden überrascht und sie sich bereiterklärt, ihm bei einer seiner Audioproduktionen zu helfen, Beim Ausprobieren verschiedener Sprechweisen des Satzes „P for Peace“ kommen sich Marianne und Philippe näher. Was er dann danach im Handumdrehen mit ihrer Stimme in Verbindung mit Musik und Geräuschen sampelt, verblüfft sie sehr, so wie sie ihm später am Telefon sagen wird: „Du hast Talent, Philippe“. Sie reagiert damit auf die audiokünstlerische Liebeserklärung, die er ihr zuvor über den Äther zugesandt hatte. Wo Philippe gegenüber Marianne von Angesicht zu Angesicht die Worte fehlten, kann er nun in Westberlin im Rahmen seines Dienstes bei dem britischen Militärsender BFBS, wo er als Assistent arbeiten darf, seine Audiokunst nutzen, um ihr seine Liebe zu gestehen.

Filmbild Die Magnetischen
"Die Magnetischen" (c) Port au Prince Pictures

Musik als Teil der Persönlichkeitsentwicklung und Zeitkolorit

Gemeinsam ist beiden Filmen, dass ihre Soundtracks viele Originalstücke aus der Zeit enthalten, in denen ihre Geschichte spielt. In „Die Magnetischen“ sind dies etwa Songs der angesagten Punk- und Elektro-Bands der frühen 1980er-Jahre wie Die Krupps, Front 242, The Undertones oder Iggy Pop. Auch gibt es viele Anspielungen auf die Popgeschichte. So heißt der Piratensender der Brüder Warschau, angelehnt an die frühen Auftritte von Joy Division unter dem Namen Warsaw.

Auch Chadha zeigt in ihrem Film, wie sich die popkulturell gerade angesagten Stilrichtungen in das Leben von Jugendlichen hinein verlängern: In einer Szene geht Javed durch die Schulkantine und kommentiert im Off: „These are the United Nations of Wild Tribes“. Derweil sieht der Zuschauer aus Javeds Perspektive Wham!-Boys und Bananarama-Girls, Gruftis und Salt ’n’ Pepa-Fans, die sich im jeweiligen Stil ihrer Vorbilder kleiden. Auch nutzt die Regisseurin den Soundtrack zur politischen Einordnung ihrer Filmerzählung: Nach einer kurzen Szene, die Javed und seinen Freund Matt als Kinder zeigen, eröffnet „Blinded by the Light“ mit einer Split-Screen-Montage, die mit „It’s a Sin“ der Pet Shop Boys unterlegt ist. In dieser sind Bilder des nun jugendlichen, von einem Fabrikjob heimfahrenden Javed mit dokumentarischen Aufnahmen von Demonstrationen, Polizeigewalt, den Auftritten von Neonazi-Gruppen, sowie dem Cover einer Musikkassette, einem Walkman und einer Bruce Springsteen-Schallplatte verbunden. Diese Eröffnungssequenz ist gelungen, weil dadurch das Publikum nicht nur visuell und musikalisch in die Zeit der späten 1980er-Jahre in Großbritannien eingeführt wird, sondern die Montage zugleich das zentrale Thema der Filmerzählung bereits kurz visualisiert: die Bedeutung eines spezifischen Musikkonsums für die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur.

Die Kombination zwischen dem Liedtext von „It’s a Sin“ und den dokumentarischen Bildern erfüllt zudem die Funktion einer gesellschaftskritischen Kommentierung der Thatcher-Jahre, in denen die wirtschaftsliberale Politik der konservativen Premierministerin massiv zur De-Industrialisierung Großbritanniens beitrug, wodurch Massenarbeitslosigkeit und besonders eine hohe Jugendarbeitslosigkeit ausgelöst wurde, die mit dem Erstarken rechter Jugendgruppen wie Hooligans oder The National Front einherging. Diese direkte Gesellschaftskritik durchzieht den ganzen Film, der in mehreren Szenen rassistische Bedrohungen pakistanischer Familien durch rechtsgerichtete Jugendliche zeigt.

Cardona nutzt den Soundtrack seines Films gleichfalls zur Einbettung seiner Figuren ins Zeitkolorit. Die Handlung seines Films beginnt am 10. Mai 1980, dem Tag des Wahlsieges von François Mitterand. Ein Sozialist als französischer Präsident – damit waren bei den Leuten in Philippes Viertel und nicht nur dort viele Hoffnungen verbunden. Philippe selbst teilt sie nicht. Noch am Wahlabend verrät er Marianne trotzig, dass er Giscard, den konservativen Kandidaten, gewählt habe. Und auch Jérôme ist eher desillusioniert. In der Sequenz, die Philippe und Jérôme beim Radiomachen zeigen, kündigt Jérôme in seiner Moderation den Mitschnitt des letzten Konzerts der britischen Post-Punk-Band Joy Division vom 2. Mai 1980 an. Dessen Sänger und Songwriter Ian Curtis hatte sich wenige Tage danach umgebracht. Jérôme kommentiert: „Der letzte Schrei eines Engels, den der Himmel zu sich gerufen hat und der uns mit dem Gefühl zurücklässt, einen Gott verloren zu haben. Am Anfang eines Jahrzehnts, auf das wir alle unsere Hoffnungen setzten, aus denen nur nichts wird.“ Geschickt nutzt Regisseur Cardona hier die Musikleidenschaft der Figur zu ihrer Charakterisierung und liefert zugleich einen erzählerischen Vorverweis auf Jérômes Suizid.

Filmbild Juno
"Juno" (c) 2007 Twentieth Century Fox Film Corporation

Von Familienkonflikten zu inneren Konflikten

Gegenüber den beiden bislang betrachteten Coming-of-Age-Filmen stellen sich die US-Produktionen „Juno“ (2007) von Jason Reitman und „Lady Bird“ (2018) von Greta Gerwig in zweierlei Hinsicht als Gegenmodelle dar: Zum einen stützen sich die Handlungskonstruktionen weniger auf klassische Familienkonflikte sondern entwickeln sich aus den innerpersonalen Konflikten der weiblichen Hauptfiguren. Die 16-jährige Juno stellt fest, dass sie nach ihrem ersten Mal mit Schulfreund Paulie schwanger ist. Sie entscheidet sich, das Kind zur Welt zu bringen und an Adoptiveltern, das junge wohlhabende Ehepaar Vanessa und Mark, abzugeben. Bei ihren Entscheidungen steht ihr eine Freundin, aber – nach einer ersten Irritation – auch ihr Vater und ihre Stiefmutter zur Seite, während Paulie zumindest anfangs mit der Situation schwer überfordert ist.

Greta Gerwig präsentiert in ihrem autobiografisch gefärbten Regiedebüt „Lady Bird“ ebenfalls eine entscheidungsstarke weibliche Hauptfigur. Die 17-jährige Christine, die Lady Bird genannt werden möchte, lebt 2002 im kalifornischen Provinzstädtchen Sacramento, kommt wegen ihrer unkonventionellen Art oft mit den strengen Regeln an ihrer katholischen Highschool in Konflikt, schlägt sich mit Liebesproblemen herum und entscheidet sich schließlich gegen den Willen ihrer Mutter, aber mit Unterstützung ihres Vaters, die Familie zu verlassen und in New York zu studieren. Ihre Erfahrungen dort sind anfangs nicht so positiv wie erwartet. Sie schaut nun milder auf ihre Familiensituation in der kalifornischen Provinz zurück.

Beide Filme zeichnet zudem aus, dass im Prozess des Erwachsenwerdens die Begegnung der Hauptfiguren mit Musik nur eine untergeordnete Rolle spielt. In „Lady Bird“ verbindet Gerwig die ersten Liebesbeziehungen ihrer Hauptfigur mit musikalischen Momenten. So verliebt sich Lady Bird während einer Schul-Musical-Produktion in Danny. Er wird allerdings nur ein guter Freund, weil er sich zu Jungen hingezogen fühlt. Christine wendet sich daraufhin Kyle zu, den sie als Mitglied einer lokal angesagten Band während einem seiner Auftritte kennenlernt. Nach kurzer Faszination und einem enttäuschenden ersten Mal fühlt sie sich allerdings von dem durch Sex und Drogen bestimmten Leben des verwöhnten Upper-Class-Boys und dessen Clique schnell abgestoßen.

In „Juno“ ist einzig für Komponist Mark die Begegnung mit der quirligen Protagonistin, ihre gemeinsamen Gespräche über Musikvorlieben und -stile, schließlich die kurzen Momente des gemeinsamen Gitarrenspiel ein Erweckungserlebnis. Er verlässt die erstarrte Ehe mit Vanessa, die Junos Kind alleine aufziehen wird, und kehrt in ein unstetes Musikerleben zurück, weil er sich für eine Vaterschaft nicht reif genug fühlt. Ebenso darf die Schlussszene des Films, in der Juno und Paulie vor dessen Haus gemeinsam Gitarre spielen und sehr harmonisch den The Moldy Peaches-Song „Anyone Else But You“ intonieren, als Erweckung der Liebe zwischen den beiden und als versöhnlicher Schluss des Films gesehen werden. Zugleich wird hier die Methode des Musikeinsatzes deutlich, die sowohl „Juno“ als auch „Lady Bird“ kennzeichnet und von „Blinded by the Light“ und „Die Magnetischen“ deutlich unterscheidet.

Soundtrack als Charakterisierung von Milieu und Figur

Filmmusik wird in erster Linie zur emotionalen Unterstreichung der Erzählsituationen eingesetzt, insbesondere zur Charakterisierung von Milieu und Figuren. Dieser Konvention bedienen sich sowohl Gerwig als auch Reitman in ihren Filmen. So unterstreicht der Songtext „Anyone Else But You“ in der Schlussszene von „Juno“ die neugewonnene emotionale Annäherung zwischen der Hauptfigur und ihrem Freund Paulie. Die Paulie-Figur wiederum wird schon in ihrer ersten Szene mit dem Song „A Well Respected Man“ von The Kinks eingeführt und damit für den Zuschauer positiv besetzt, während die Anfangssequenz, in der Juno in ihrer Welt präsentiert wird, mit einem Song des Sängers und Kinderbuchautors Barry Louis Polisar untermalt ist. Dadurch setzt Regisseur Reitman einerseits bereits das „Kinderthema“ und führt andererseits mithilfe der Country & Western-Anklänge von „All I Want Is You“ in das Lokalkolorit der Provinz im Mittleren Westen der USA ein, wo er Junos Geschichte angesiedelt hat. Interessant ist weiterhin, dass Junos Aktionen in zahlreichen Szenen mit Songs der Sängerin Kimya Dawson unterlegt sind. Dawson ist Mitbegründerin der Anti-Folk-Bewegung, die Elemente traditioneller Folk-Musik mit Punk verbindet. Diese musikalische Mischung illustriert sehr gut die Persönlichkeitsstruktur der Juno-Figur, die in der ländlich-konservativen Idylle ihres Provinzstädtchens (Folk) mit großer Dynamik und witzigen, originellen Sprüchen (Punk) ihren eigenen Weg geht, wobei sie ihre Unsicherheiten überspielt und schließlich überwindet.

Greta Gerwigs „Lad Bird“ zeigt sich schon im Titel durch den gleichnamigen Song von Jon Brion inspiriert, der auch den Abspann untermalt. Und während Christines konservative Mutter Marion mit Songs des Countrysängers John Hartford charakterisiert wird, zeugt Vater Larrys ironischer Verweis, er sei wie Keith Richards „always happy“ seine größere Offenheit für die Sehnsucht seiner Tochter, der provinziellen Enge zu entfliehen, die Gerwig durch den Verweis ihrer Hauptfigur auf den Hello-Hit „New York Grooves“ ebenfalls musikalisch markiert.

Filmbild Lady Bird
"Lady Bird" (c) Universal

Von Musik-Konsument*innen zu Musik-Produzent*innen

Während die in den USA entstandenen Coming-of-Age-Filme „Juno“ und „Lady Bird“ die Filmmusik durchweg in konventioneller Weise zur emotionalen Verstärkung und Kommentierung ihrer Erzählungen nutzen, gehen die europäischen Filmbeispiele „Blinded by the Light“ und „Die Magnetischen“ darüber hinaus. Darauf hingewiesen zu haben, dass der Konsum populärer Musik Jugendlichen beim Hineinwachsen in die heutige mediatisierte Gesellschaft nicht nur Unterhaltung liefert, sondern auch Orientierung und Lebenshilfe geben kann, ist das Verdienst von Gurinder Chadhas‘ Film. Vincent Cardonas‘ Film zeichnet sich dadurch aus, die Bedeutung der Musik-, Sound- und Audioproduktion für die Sozialisation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Blick gerückt zu haben. Damit füllt „Die Magnetischen“ eine Lücke im Coming-of-Age-Genre und wirft ein Schlaglicht auf einen Aspekt, der in der Jugendforschung bisher wenig berücksichtigt wurde.

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