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Hintergrund | | von Holger Twele

Senior*innen im Kinderfilm

Dass Kinder in ihren Omas und Opas wichtige Bezugspersonen finden, ist im Kinderfilm keine Seltenheit. Darüber hinaus gibt es zunehmend auch einige Filme, in denen Blutsverwandtschaften keine Rolle spielen und Kinder sich mit Senior*innen generationsübergreifend verbünden. Das öffnet nicht nur Zielgruppen, sondern kann auch Brücken zwischen Jung und Alt jenseits von Klischees bauen.

"Max und die Wilde 7" (c) Leonine

Der neunjährige Max lebt als einziges Kind in einem luxuriösen Wohnheim für Senior*innen unter lauter alten Menschen, die ihm in „Max und die Wilde 7“ (Winfried Oelsner, 2020) bei der Aufklärung eines Kriminalfalles helfen. Der knapp zwölfjährige Video-Nerd Marco hat keine gleichaltrigen Freund*innen und wird in „Team Marco“ (Julio Vincent Gambuto, 2019) nur widerstrebend von seinem Großvater und dessen ausnahmslos aus Senioren bestehendem Boccia-Team ins „wahre“ Leben zurückgeführt. Ganz ähnlich ergeht es in dem Pixar-Film „Oben“ (Pete Docter, 2009) dem achtjährigen Russel, der sich ganz allein mit einem 78-jährigen Rentner mit Gehstütze auf eine abenteuerliche Ballonreise von New York nach Südamerika begibt. Und selbst Romy, die in „Romys Salon“ (Mischa Kamp, 2018) den Frisiersalon ihrer unter Demenz erkrankten Großmutter übernehmen soll, der hauptsächlich von älteren Damen frequentiert wird, unternimmt mit ihrer Oma später heimlich eine Reise ins Ausland. Haben im Film die klassischen Peer-Groups unter Kindern etwa ausgedient? Sind Eltern längst überflüssig geworden oder ohnehin ständig „abwesend“, was immer das konkret heißen mag? Und entpuppen sich Senior*innen daher als die einzigen wahren Freund*innen und Helfer*innen von Kindern?

Öffnung der Zielgruppe

Ganz so krass ist es zum Glück nicht und der Wert von gleichaltrigen Freund*innen unter Kindern wird durch diese Filme nicht einmal ansatzweise in Frage gestellt. Die bisher eher seltenen Figurenkonstellationen im Kinderfilm ermöglichen jedoch neue dramaturgische Ansätze und Geschichten, selbst wenn das nicht notwendigerweise zugleich mit einer innovativen Filmsprache zu tun hat. Sie sind kommerziell von großem Interesse, denn sie sprechen auf jeweiliger Augenhöhe ganz unmittelbar Jung und Alt gleichermaßen an – trotz oder gerade auch wegen ihrer vor allem auf die Familie bezogenen gesellschaftskritischen Untertöne.

In „Max und die Wilde 7“ möchte der Titelheld später einmal Detektiv werden, um seinen Vater aufzuspüren, der vor drei Jahren spurlos verschwunden ist. Marco hat zwar in „Team Marco‟ einen Vater, der sich aber nach der Trennung von seiner Frau eine neue Freundin gesucht hat, sich kaum noch um seinen Sohn kümmert und ihn mit neuer Hardware, Videogames und Hightech-Produkten regelrecht abspeist. Und der Vater von Russel in „Oben‟ bekommt sogar nicht einmal mit, dass sein Sohn tagelang verschwunden ist und lässt daher nicht nach ihm suchen, was Zuschauer*innen bisher vermutlich kaum aufgefallen ist. Das liegt auch daran, dass Russel im alten Ballonverkäufer Carl einen vorbildlichen Ersatz(groß)vater findet. Im Vergleich zu den Jungen hat es Romy in „Romys Salon‟ da fast noch leicht, denn ihre Eltern sind beruflich zwar voll eingespannt, zeigen aber wenigstens ansatzweise Verständnis für ihr Kind – wie übrigens auch die Mutter von Max.

Vorreiter Animationsfilm

Vorläufer der beschriebenen Figurenkonstellationen gibt es schon lange und es sollte nicht verwundern, dass diese wie „Oben“ ebenfalls im Bereich des Märchen- und Animationsfilms liegen, in denen sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion problemlos überwinden lassen. Berühmte Beispiele dafür sind der Klassiker „Pinocchio“ über einen alten Tischler und seine Holzpuppe, der 2019 mit Roberto Benigni in der Hauptrolle als Realfilm neu verfilmt wurde. Oder auch die Geschichten von „Pettersson und Findus“ nach den Kinderbüchern von Sven Nordqvist über einen kauzigen alten Mann und seinen sprechenden Kater Findus, den er wie einen Sohn aufzieht. Diese Geschichten wurden ab 2014 neu als Realfilm unter der Regie von Ali Samadi Ahadi umgesetzt. Eindrucksvolles aktuelles Beispiel ist das neue Werk „Le voyage du prince“ (2019) des französischen Animationsfilmers Jean-François Laguionie, eine zivilisationskritische Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Hier strandet ein alter Affenprinz bei einem modernen Affenvolk und findet in dem dort aufgewachsenen Affenjungen Tom seinen einzigen Verbündeten, mit der er die fremde Welt erkundet, bevor er am Ende der Stadt den Rücken kehrt.

"Pettersson und Findus - Findus zieht um" (c) Wild Bunch

Blutsverwandte und selbst erwählte Omas und Opas als Wegbegleiter

Die enge Beziehung zwischen Kindern und blutsverwandten oder selbst „erwählten“ Großeltern und Senior*innen hat im Kinderfilm eine jahrzehntelange Tradition – weit über Europa hinaus. Meistens sind es positive Geschichten und Einflüsse, wie beim schwedischen Filmklassiker „Kannst du pfeifen, Johanna?“ von Rumle Hammerich aus dem Jahr 1995, in dem zwei Jungen in ein Senior*innenwohnheim gehen, um dort für einen von ihnen einen „passenden“ Großvater zu finden. In der Regel ist das Gewünschte biologisch bereits vorhanden, wenn auch nicht konfliktfrei. Und mitunter durchlaufen Jung und Alt erst noch einen längeren Prozess der Annäherung wie in den zahlreichen „Heidi“-Verfilmungen, von denen die bis dato neueste von Alain Gsponer mit Bruno Ganz als griesgrämiger Alm-Öhi aus dem Jahr 2015 besonders heraussticht. In „Belle & Sebastian“ von Nicolas Vanier (2013) nimmt sich ein alter Bergbauer eines Waisenjungen an, den er als ausgesetztes Baby inmitten der Natur fand, und in „Blanka“ (2015) von Kohki Hasei entscheidet sich ein elternloses Mädchen auf den Straßen von Manila gar für ein unbequemes Leben mit einem älteren blinden Straßenmusiker. Großmütter dürfen bei dieser kleinen, unvollständigen Revue selbstverständlich nicht fehlen. Manchmal unterstützen sie ihre Enkelin so gut es geht von Anfang an, wie Oma Dolly in der Literaturverfilmung „Hände weg von Mississippi“ (Detlev Buck, 2007), manchmal dauert es auch hier, bis der Knoten zwischen den Generationen gelöst ist, wie in „Ostwind“ (Katja von Garnier, 2012) oder neuerdings in „Rocca verändert die Welt“ (Katja Benrath, 2019).

"Romys Salon" (c) farbfilm

Brücken zwischen den Generationen

Von diesen Filmen unterscheiden sich die eingangs erwähnten Werke deutlich, insbesondere „Max und die Wilde 7“, der nach dem Kinderbestseller von Lisa-Marie Dickreiter und Winfried Oelsner entstand. Die beiden kamen bereits 2011 auf die Idee für eine Buchreihe über die Freundschaft zwischen einem Jungen und drei Senior*innen aus einem Wohnheim als den die Handlung tragenden vier Hauptfiguren. Das Autorenduo wollte mit der Kriminal- und Abenteuergeschichte ausgetretene Pfade verlassen, insbesondere in Bezug auf die Darstellung von Familie und die ältere Generation in ihren Stärken wie in ihren besonderen Eigenarten und Schwächen. Viel zu oft mussten ihnen zufolge die Erwachsenen nur als Witzfiguren herhalten, wurden nicht wirklich ernst genommen oder dienten lediglich als schmückendes Beiwerk. Gegenüber der Romanvorlage ist die Rolle von Laura, der neuen Klassenkameradin von Max, aber erst für den Film aufgewertet worden. Sie tritt immer dann in Erscheinung, wenn es bei Max Probleme mit den Senior*innen gibt, die ansonsten die Handlung vorantreiben.

Vielleicht gelingt es diesem Realfilm tatsächlich, eine Brücke zwischen den Generationen zu schlagen, ähnlich wie die Filmcrew von „Team Marco“ ihren Film den eigenen Großeltern gewidmet hat oder wie „Romys Salon“ Kindern ein tieferes Verständnis von Demenz eröffnet, das von Empathie getragen ist und nicht etwa von Ausgrenzung. Nicht zuletzt stehen diese Filme in deutlichem Kontrast zu TV-Werbespots, die suggerieren, dass Großeltern für ihre Enkel schnell uninteressant werden, wenn sie nicht das richtige Medikament gegen ihre Altersbeschwerden nehmen. Es bleibt zu hoffen, dass die Corona-Pandemie diese wichtigen filmischen Brücken teilweise nicht wieder zunichtemacht.

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