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Hintergrund | | von Verena Schmöller

Rückkehr in den Mattiswald

Die Serie „Ronja Räubertochter“ nimmt sich Zeit zum Erzählen und Beobachten

Ronja Räubertochter darf wieder mutig durch den Wald streifen. Die neue Serien-Adaption von Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker „Ronja Räubertochter“ aus dem Jahr 1981 gelingt durch erweiterte Handlungselemente, vor allem aber durch die Dokumentation der Lebensumstände von Ronja und den anderen Figuren. Die Serie ist um einiges dunkler und düsterer als Tage Danielssons hochgelobte erste Verfilmung aus dem Jahr 1984, aber auch realistischer und schildert Schönheit wie Grausamkeit des Lebens im Wald.

Filmbild aus Ronja Räubertochter
"Ronja Räubertochter" (c) 2024 Viaplay Group AB/Filmlance International AB/Film i Väst AB and Ahil UAB/ARD Degeto Film/Audrius Solominas

„Ein Auge zum Himmel!“ Mit diesem Rat oder vielmehr der nachdrücklichen Aufforderung, immer wieder nach oben zu blicken und Ausschau nach Gefahren zu halten, verabschieden sich die Figuren in „Ronja Räubertochter“, der Serien-Adaption von Astrid Lindgrens gleichnamigem Kinderbuchklassiker (1981). Der Ausspruch ist eine der kleineren Neuerungen der jüngsten Adaption der Buchvorlage und eines der Elemente, die – immer wieder in der TV-Serie – deutlich machen, in welcher Umgebung Ronja und ihre Familie leben. Denn „Ein Auge zum Himmel!“ ist nicht nur gutgemeinter Rat und ernstgemeinte Aufforderung, sondern auch eine Warnung vor der vielgestaltigen Bedrohung, die da im Mattiswald auf die Menschen lauert. Besonders die Wilddruden haben es auf sie abgesehen und auf Ronja ganz besonders. Schon in der Nacht ihrer Geburt haben die sie den Eltern ihr Kind streitig gemacht und sie gewarnt.

Die schwedische Fernsehserie unter der Regie von Lisa James Larsson (Staffel 1) und Pontus Klänge (Staffel 2) fokussiert sehr viel stärker auf die Gefahren, Schrecken und die rauen Lebensbedingungen der Räuber wie der Dorfbewohner*innen als die märchenhaftere Verfilmung von Tage Danielsson aus dem Jahr 1984. Wohl auch deshalb tauchen die furchteinflößenden Wilddruden schon ab der ersten Minute auf und nicht erst bei Ronjas Begegnung mit ihnen bei einem ihrer Ausflüge in den Wald. Der Schrecken der Wilddruden bestimmt von Anfang an die Geschichte und gibt ihnen immer wieder Raum.

Filmbild aus Ronja Räubertochter
"Ronja Räubertochter" (c) 2024 Viaplay Group AB/Filmlance International AB/Film i Väst AB and Ahil UAB/ARD Degeto Film/Audrius Solominas

Als Ronja in der Nacht, als ein Blitzeinschlag die Burg durch einen tiefen Graben in zwei Hälften teilt, geboren wird, kreisen die Wesen um die Mattisburg und schlagen Lärm, so dass Lovis sich nicht recht auf die Wehen konzentrieren kann. Die Gebärende schickt ihren Mann weg, um die Wilddruden zu vertreiben. Diese aber warnen ihn: „Was werden wir mit ihr anstellen? Ein leckeres kleines Menschlein? Wir kratzen es und beißen es.“ Unheilvoll zerstören sie kurz darauf den kleinen Moment der Harmonie der jungen Familie: Eine Wilddrude in Menschengröße stellt sich ins Fenster und kommentiert die Geburt: „Dieses Kind ist ein Kind des Sturmes, ein Kind der wilden Flügel der Nacht.“ Dabei ist der Kopf der Drude in Großaufnahme zu sehen, auf das die Kamera heranzoomt, was einen großen immersiven Effekt hat: Als Zuschauer*in hat man das Gefühl, das Fabelwesen sehe einem direkt in die Augen, spreche mit uns und komme immer näher heran. Ein Blitz, der kurz das Gesicht der Drude erhellt, erzeugt ein weiteres Spannungsmoment. Dann dreht das Getier ab und fliegt davon.

Schon in diesen ersten Szenen wird deutlich, dass die Serie nicht für jüngere Zuschauer*innen gedacht (die ARD empfiehlt sie ab 10 Jahren) und weniger Märchen als spannungsgeladenes Familienentertainment ist, das ein Publikum anvisiert, das schon einiges gewöhnt ist. Das Setting ist oft dunkel und düster, das Sounddesign unterstreicht diese Stimmung und umhüllt das Publikum mit einem intensiven Gruseln, das jedoch als integraler Teil der dargestellten Welt inszeniert ist, die in Serienlänge ausführlich beschrieben werden kann. Natürlich schreckt sich Ronja, wenn sie von einer Horde von Graugnomen umringt wird, und doch macht sie sich am nächsten Morgen beschwingt auf, den Wald weiter zu erkunden – ein Auge zum Himmel.

240 Buchseiten in 540 Minuten

Im Zentrum der Live-Action-Serie steht natürlich Ronja, die Tochter von Räuberhauptmann Mattis und Lovis, welche den Räuberhaufen organisiert, sich um Burg und Hof, Tiere und das Abendessen, Heilkräuter und verletzte wie kranke Männer kümmert. In der Nacht von Ronjas Geburt bricht die Burg durch einen Blitzeinschlag entzwei, so dass die Mattis-Räuber sich in einem Teil des Gebäudes einrichten; einige Zeit später nimmt Mattis‘ Erzfeind, Borka, mit seinen Männern die abgetrennte andere Burghälfte ein, weil sie in ihrer Höhle nicht mehr sicher sind. Und so lernt Ronja irgendwann Borkas Sohn, Birk, kennen. Die beiden retten einander immer wieder vor den Gefahren des Waldes und sind bald unzertrennlich – wohlwissend, dass sie einander eigentlich nicht sehen dürfen. Als sie auffliegen, stellen sie sich gegen die elterliche Fehde und ziehen von der Burg gemeinsam in den Wald. Sie richten sich in einer Höhle ein, leben ohne Erwachsene, bis der Winter naht. Ronja und Birk wie auch ihre Eltern wissen, dass die Kinder den Winter nicht in der Wildnis überleben können, doch der Schritt hin zur Versöhnung ist nicht leicht.

Was Astrid Lindgren auf 240 Seiten erzählt hat, ist der ideale Stoff für einen Spielfilm. Eine Serie daraus zu machen und die Geschichte in 12 Folgen à 45 Minuten auszubreiten, erfordert folglich eine Umarbeitung der Vorlage, vor allem aber ihre Erweiterung. Und da genügt es nicht, die Wilddruden einfach ein wenig öfter erscheinen zu lassen – wobei das schon die erste Strategie der Serie ist.

Auch die vielgeliebten Rumpelwichte tauchen immer wieder und an den ungewöhnlichsten Stellen auf – zur Freude des Publikums! Sorgen sie doch – nach der ersten bedrohlichen Situation für Ronja, als sie von ihnen im Schnee festgehalten wird – für lustige Entspannung von der schreckensreichen Handlung. Darüber hinaus erweitert die TV-Serie die Geschichte um zusätzliche Handlungsstränge und Hintergrundgeschichten, aber auch um die Dokumentation der Lebensumstände zu Ronjas Zeiten.

Filmbild aus Ronja Räubertochter
"Ronja Räubertochter" (c) 2024 Viaplay Group AB/Filmlance International AB/Film i Väst AB and Ahil UAB/ARD Degeto Film/Audrius Solominas

Idyllische Naturverbundenheit

Gerade die Strategie der Serie, die Lebensbedingungen der Menschen in den Fokus zu rücken und sich dafür Zeit zu nehmen, ist von besonderem Wert, weil uns eine völlig andere Art zu leben vor Augen geführt wird. Wenn Ronja und Birk in den Wald ziehen, dann haben sie erst einmal nicht viel dabei, und irgendwann gehen ihnen Wasser und Nahrungsmittel aus. Die Folge „Die Höhle“ (S02/E03) zeigt ausführlich, wie sich die beiden Kinder Gedanken darüber machen, wie sie im Wald überleben können und was sie dafür benötigen. Einen Eimer, um sich Wasser aus dem Fluss zu holen, ebenso wie Schalen oder Heilkräuter. Sie haben nur ein Messer, das sie abwechselnd benutzen, um aus Holz Schalen zu schnitzen oder Brennholz zu machen. Diese Sequenzen sind für das heutige Publikum erkenntnisbringend, weil sie zeigen, wie wenig wir Menschen eigentlich brauchen und wie viel wir davon in der Natur finden und verarbeiten können. Sie machen deutlich, wie Menschen zu anderen Zeiten gelebt und wie viel wir davon heute verlernt haben. Das ist interessant wie lehrreich zugleich.

Gleichzeitig beschreiben gerade die Sequenzen im Wald die große Schönheit, die Natur und Tierwelt bereithalten. In Detailaufnahmen werden nicht nur Wildtiere wie Kauz oder Luchs, sondern auch kleine, einfache Lebewesen wie Schnecken oder eine Hummel aufgenommen, Ronja und Birk staunen vor den Wundern der Natur und gehen mit aufmerksamem Blick und großer Naturverbundenheit durch den Wald. In Luftaufnahmen und Panoramaansichten wird ein Überblick über die beeindruckende Waldlandschaft gegeben, in denen sich Ronja und Birk bewegen und die die Kinder vor den Bildschirmen ebenso ehrfürchtig staunen lassen. In „Ronja Räubertochter“ geht es nicht nur um die Geschichte und eine actiongeladene Handlung, sondern auch darum, Lebensweisen aufzuzeigen und die Welt von Ronja ein Stück weit über die bewegten Bilder für Kinder erfahr- und erlebbar zu machen.

Filmbild aus Ronja Räubertochter
"Ronja Räubertochter" (c) 2024 Viaplay Group AB/Filmlance International AB/Film i Väst AB and Ahil UAB/ARD Degeto Film/Audrius Solominas

Die rauen Seiten

Während die Sequenzen im Wald meist in sonnendurchfluteten Bildern Wärme und Schönheit vermitteln, werden aber auch die anstrengenden Teile des Lebens im „Ronja Räubertochter“-Universum beziehungsweise zu anderen Zeiten dargestellt. Die harten Lebensumstände werden dabei nicht ausgespart, zum Beispiel der lange und unerbittliche Winter, die Versorgungsengpässe und der Tod von Tjegges Schwester, die im Eis einbricht und ihr Kind zurücklässt, das daraufhin verhungert. Die Episode („Der Bruder“, S01/E05) verlangt dem jungen Publikum einiges ab. Das Ereignis wird allerdings nicht dramatisiert, sondern als Realität hingenommen und auch so inszeniert. Genau das verstärkt die Wirkung auf die Zuschauer*innen, die hier nicht an der Hand genommen und behutsam durch das Ereignis geführt werden, sondern es über einen im Fluss hinwegtreibenden Eimer und den Schrecken im Gesicht von Smavis erfassen, die das tote Kind in der Hütte findet.

Auch dass der Fokus immer wieder von der Mattisburg ins Dorf wechselt, verdeutlicht die Dokumentation des Lebens, und zwar nicht nur der Räuber im Wald, sondern auch derjenigen, die sie berauben und die unter der Plündererbande und ihrem Treiben leiden. Hierfür nimmt sich die Serie Zeit. Es geht nicht nur darum, dass das Rauben aus Sicht der Täter gerechtfertigt oder von Ronja und Birk negativ bewertet wird. Sondern wir blicken immer wieder auch auf die Dorfbevölkerung, die sich ein Ende der Räubereien wünscht, weil sie in Frieden und ohne Angst und Sorge leben will. Am Beispiel der Kriegerin Cappa und ihrer jüngeren Schwester Smavis erfahren wir darüber hinaus, dass es dabei nicht nur um den materiellen Verlust von Wertsachen oder Lebensmitteln geht, sondern auch den von geliebten Menschen. Cappa hatte als junges Mädchen mit ansehen müssen, wie ihr Vater hingerichtet wurde. Mehr noch, sie wurde aktiv in die Tötung miteinbezogen, weshalb sie sich bis heute mitschuldig für den Tod ihres Vaters fühlt. Seither sinnt sie auf Rache. Mit Smavis ist sie spezialisiert auf die Verhaftung von Verbrechern und will sich erst niederlassen und zur Ruhe kommen, wenn sie Mattis gefasst und ermordet hat – im besten Fall vor den Augen seiner Tochter.

Filmbild aus Ronja Räubertochter
"Ronja Räubertochter" (c) 2024 Viaplay Group AB/Filmlance International AB/Film i Väst AB and Ahil UAB/ARD Degeto Film/Audrius Solominas

Wie bei der Aufwertung der Figur Tjegge hat auch die Eingliederung dieser Nebenhandlung oder die Aufwertung von Mattis‘ und Borkas Backstory natürlich den Effekt, dass sich die Spielzeit verlängert. Darüber hinaus aber tragen die beiden zusätzlichen Nebenhandlungsstränge auch dazu bei, das Umfeld, in dem die Geschichte angesiedelt ist, besser und tiefer zu erfassen und Ronjas Kampf gegen das Räubern ihrer Sippe zu verstehen. Auch deshalb muss Ronja nicht so lautstark gegen ihren Vater und die anderen Räuber andiskutieren – es wird offensichtlich, dass die Zeit der Räuberbanden vorbei ist und eine Zeit des friedlichen Miteinanders angebrochen ist. So wie es Ronja und Birk ihren Eltern vorleben: So kann sich das Räuberleben ändern, die Fehde zwischen den verfeindeten Freunden – weil sich in einer kleinen Nebenhandlung auch die Geschichte um Borkas Verrat auflöst, so dass sich die Räuberväter auch wirklich miteinander versöhnen können –, aber auch die Gesellschaft im Ganzen, in der es keinen Platz mehr für Räuber gibt.

Filmbild aus Ronja Räubertochter
"Ronja Räubertochter" (c) 2024 Viaplay Group AB/Filmlance International AB/Film i Väst AB and Ahil UAB/ARD Degeto Film/Audrius Solominas

Eine Prestige-Serie, die Freude bereitet

Die Serie, die als High-End-Format angelegt ist, gelingt: Nicht nur die Ausweitung des Materials auf Serienlänge, sondern auch seine Modernisierung bei gleichzeitiger Beibehaltung der geliebten Elemente der Geschichte. Auf den Prestige-Charakter weist auch die animierte Titelsequenz, die jeweils nach einer einführenden Szene mit Cliffhanger gezeigt wird. Sie ist in Druckgrafik-Optik gestaltet und verknüpft alle in die Serie integrierten Elemente kunstvoll in der Animation: Naturelemente, die ineinander übergehen, der Wald in eine „unter Wasser“-Ansicht oder Wurzeln, die in der Animation zu Ästen werden. Aber auch einzelne, oft angedeutete Szenen aus der Geschichte, die mal in Details wie den Klauen der Wilddruden oder sich berührenden Händen dargestellt sind, aber auch in totalen Ansichten, zum Beispiel von den Kindern am Höllenschlund, Kriegern auf einem Felsvorsprung oder der Mattisburg in der Ferne, wie sie sich über den Wald erhebt. Unterlegt sind die Bilder von der düsteren orchestralen Titelmelodie von Johan Söderqvist mit hervortretendem Rhythmus, der Filmbilder wie das Entzünden einer Fackel oder den Blitzeinschlag in der Burg betont. Das alles macht große Freude und man möchte am liebsten, wenn am Ende angekommen, direkt von vorne starten – und ein Auge nicht zum Himmel, sondern beide erneut auf den Bildschirm richten.

Die beiden Staffeln von „Ronja Räubertochter“ sind noch bis 6.12.2026 (Staffel 1) beziehungsweise 3.1.2027 (Staffel 2) in der Mediathek der ARD abrufbar, sowohl in der schwedischen Originalfassung als auch der deutschen Synchronisation sowie mit Audiodeskription.

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