Hintergrund | | von Holger Twele
Kino der Sinne
Léa Mysius im Porträt
Léa Mysius ist nicht auf Coming-of-Age-Geschichten festgelegt – aber wenn sie über junge Menschen erzählt, dann haben es diese Filme in sich. In ihren Arbeiten als Regisseurin und Drehbuchautorin stellt sie gerne Außenseiterfiguren in den Mittelpunkt und verknüpft deren Geschichten mit dem gesellschaftlichen Klima.
Die französische Drehbuchautorin und Regisseurin Léa Mysius ist im Jahr der deutschen Wiedervereinigung geboren – am Ende mehr als rein zufällige Bezüge zu ihrem Filmschaffen. Aktuell hat sie in einem zweiwöchigen Workshop beratend an dem Drehbuch zu „Langue Étrangère“ (Fremdsprache) von Claire Burger mitgearbeitet, einem Liebesfilm über zwei Austauschschülerinnen aus Straßburg und Leipzig, in dem es zugleich um Vorurteile zwischen den beiden Nationen, Rassismus und das Wiedererstarken der rechten Szene geht. Dieser Film kommt unter dem deutschen Titel „Tandem“ im Oktober 2024 in die deutschen Kinos. Bekannt wurde Mysius aber vor allem mit ihrem eigenen Spielfilmdebüt „Ava“ aus dem Jahr 2017, der aus Jugendperspektive ganz ähnliche Themen wie der Film von Claire Burger aufgreift. Beide Filme stehen stellvertretend für ihre Karriere, die binnen zehn Jahren bereits 10 Auszeichnungen und 26 Nominierungen umfasst.
Sehnsucht nach Bildern und Tönen
Schon als Kind wollte Léa Mysius Schriftstellerin werden, an eine Karriere als Filmemacherin dachte sie da noch nicht. Geboren am 4. April 1989 in Bordeaux zusammen mit ihrer Zwillingsschwester, der zukünftigen Szenenbildnerin Esther, wuchs sie in der Region Médoc auf, wo sie später auch ihren ersten Langfilm drehte. Im Alter von 13 Jahren zog sie mit ihrer Familie, die neben der Schwester auch aus zwei Brüdern besteht, auf die Insel Réunion unweit von Madagaskar. Dort erst entstand neben dem frühen Bedürfnis, Geschichten erzählen zu wollen, ihre Sehnsucht nach Bildern und Tönen. Zurück auf dem Festland in Frankreich studierte sie zunächst Literatur an der Sorbonne in Paris und von 2010 bis 2014 das Fach Drehbuch an der renommierten Universität La Fémis. Im Rahmen dieses Studiums entstanden ihre ersten drei Kurzfilme, von denen gleich der erste „Cadavre Exquis“ einen Preis erhielt. 2016 führte sie zusammen mit Paul Guilhaume als Kameramann Regie bei dem Kurzfilm „L‘île jaune“, der in Angers in der Sektion Europäischer Studentenfilm den großen Preis der Jury erhielt. Er handelt von einer Elfjährigen, die Bekanntschaft mit einem jungen Fischer macht und von ihm einen Aal geschenkt bekommt, auch damit sie sich erneut mit ihm trifft. Seitdem ist Paul Guilhaume der Partner von Léa Mysius, der ebenfalls für die Kamera ihres Debütspielfilms „Ava“ 2017 verantwortlich zeichnet.
„Ava“ eröffnete 2017 die Filmfestspiele von Cannes und erhielt dort gleich eine Auszeichnung. Fast zeitgleich schrieb Mysius am Drehbuch von Arnaud Desplechins Film „Ismael‘s Ghost“ (2017) mit, in dem ein Filmemacher im Mittelpunkt steht, der durch die Rückkehr einer früheren Geliebten aus der Spur gerät. Neben ihrer kontinuierlichen Drehbucharbeit und Beratung für Regisseur*innen wie Arnaud Desplechin, Claire Denis, Jacques Audiard und Claire Burger entstand 2022 ihr zweiter Langspielfilm „The Five Devils“. Als Autorenfilmerin im engeren Sinn lässt sich Léa Mysius wohl nicht bezeichnen. Aber sie hat zwei tragfähige Standbeine. Sie verfügt über eine außerordentliche Doppelbegabung als Autorin und als Regisseurin. Zudem kann sie sich stets auf ihre filmaffine Familie und ihren Partner verlassen, was einer familiären Produktionsfirma im Kleinformat doch sehr nahe kommt. Es lohnt sich, auf einige ihrer Arbeiten, die auch in Deutschland verfügbar sind, genauer einzugehen, zumal die Personenkonstellationen, in denen häufig Mädchen oder junge Frauen eine Hauptrolle spielen, immer etwas Besonderes an sich haben.
Persönliche Coming-of-Age-Geschichten, verknüpft mit gesellschaftlichen Stimmungen
In ihrem Spielfilmdebüt „Ava“ beeindruckt vor allem die 13-jährige Titelfigur, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrer neugeborenen Schwester die Ferien an der französischen Atlantikküste des Médoc verbringt. Schon ihr Name, der so viel wie Kraft und Stärke bedeutet, sich aber auch mit der Freiheit eines Vogels assoziieren lässt, charakterisiert das frühreife Mädchen. Ava weiß, dass sie durch die Krankheit Retinis pigmentosa bald vollständig erblinden wird, bei der sich das Blickfeld auf einen kleinen Kreis reduziert, bis alles nur noch schwarz ist. Die subjektive Kamera verdeutlicht das aus Avas Perspektive, indem der bewusst auf 35mm gedrehte Film ihre schwindende Sehkraft visualisiert und in seinen Farben immer dunkler wird. Trotz der niederschmetternden Diagnose denkt Ava nicht daran, sich in Schwermut zu üben. Sie will etwas erleben und das genießen, was sie noch mit eigenen Augen sehen kann. Dazu gehört auch die Entdeckung ihrer eigenen Sexualität, die von Begierde geprägt ist, von Angstträumen gleichermaßen.
Ein herumstreunender schwarzer Hund am Strand weckt ihre Neugier. Dieser aus ihren Albträumen entstandene Hund wird dramaturgisch gesehen zum verbindenden Element zwischen den Menschen und Orten. Die Farbe Schwarz steht nach den Aussagen von Léa Mysius wie Avas schwindendes Augenlicht als Metapher dafür, dass die Welt immer „schwärzer“ wird. Denn mehr als 30 Prozent wählten in dieser Gegend 2016 die rechtsgerichtete Front National. So gesehen lassen sich hier durchaus Parallelen zu „Tandem“ von Claire Burger feststellen, in dem die Schülerin Lena aus Leipzig über den zunehmenden Rechtsruck in ihrer Heimat besorgt ist und eine ganz persönliche Coming-of-Age-Geschichte mit den gesellschaftlichen Stimmungen in Bezug gesetzt wird.
Ava gewinnt schnell das Vertrauen des Hundes und versteckt ihn, wohl wissend, dass er dem jungen Roma Juan gehört, der offenbar von der Polizei, aber auch von seinen eigenen Leuten gesucht wird und sich in einem gesprengten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg aufhält. Unwiderstehlich, geradezu magisch fühlt sich Ava zu diesem Mann hingezogenen, der mehr als ein Geheimnis in sich birgt und nach einem Messerstich schwer verletzt wurde. In zwischen Traum und Realität oszillierenden Momenten voller Magie, berückend von der Kamera eingefangen und mit eindringlicher Musik aus Geigen und Geräuschen unterlegt, entscheidet sich Ava, alles auf eine Karte zu setzen. Sie möchte um jeden Preis mit Juan zusammen sein und die Momente mit ihm genießen, obwohl dieser ihr keine Hoffnung auf eine feste Beziehung macht, und auf diese Weise wenigstens ein Stück Freiheit und Ungebundenheit erfahren. Mit diesem Film hat Léa Mysius ihren Urängsten aus der eigenen Kindheit und ihren Beziehungen zu einigen Menschen in ihrem Leben eine literarische und filmische Form gegeben, obwohl nichts von alledem unmittelbar autobiografisch ist.
Über Genregrenzen und -erwartungen hinweg
Auf reine Coming-of-Age-Geschichten lässt sich Léa Mysius allerdings nicht festlegen. 2019 schrieb sie zusammen mit dem Regisseur Desplechin das Drehbuch zu dem Polizeifilm „Im Schatten von Roubaix“, der frei nach dem Dokumentarfilm „Roubaix, commissariat central“ von Mosco Boucault aus dem Jahr 2008 entstanden ist und neben der Ermittlungsarbeit zweier Kommissare in der nordfranzösischen Stadt die sozialen Probleme in den Fokus nimmt. 2021 folgte zusammen mit dem Regisseur und der Filmemacherin Céline Sciamma das Drehbuch zu dem in Schwarzweiß gedrehten Drama „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ von Jacques Audiard, der auf Graphic Novels des New Yorker Cartoonisten Adrian Tomine beruht und von jungen Menschen und ihren Beziehungen im 13. Bezirk von Paris handelt. 2022 schrieb sie zusammen mit Andrew Litvack und der Regisseurin Claire Denis das Drehbuch zu „Stars at Noon“ nach dem gleichnamigen Roman des US-Amerikaners Denis Johnson. In diesem romantischen Thriller, der 1984 in Nicaragua spielt, sind Jugendliche einmal ganz außen vor.
Im gleichen Jahr 2022 entstand dann ihr zweiter Spielfilm „The Five Devils“, der sich, wenn überhaupt, irgendwo zwischen Tragikomödie, Fantasyfilm mit Horrorelementen, Sozialdrama und Liebesfilm einordnen lässt. Beteiligt daran waren wie bei „Ava“ sowohl der Kameramann Paul Guilhaume als auch der Produzent Jean-Louis Livi und die Filmkomponistin Florencia Di Concilio sowie in einer Nebenrolle Noée Abita, die Darstellerin von Ava. Auch in diesem Film geht es im weiteren Sinn um eine Mutter-Tochter-Beziehung, eine dysfunktionale Familie über ethnische Grenzen hinweg und die Suche nach der eigenen sexuellen Identität.
Der Filmtitel bezieht sich auf den Ort des Geschehens, auf fünf so genannte Berge, die manchmal im Hintergrund auftauchen, und nicht explizit auf die Hauptfiguren. Léa Mysius hatte wie die neunjährige Hauptfigur Vicky, die Tochter einer französischen Schwimmlehrerin und eines Feuerwehrmanns aus Zentralafrika, als Kind ein überdurchschnittliches Geruchsempfinden. Bei ihrer Filmfigur Vicky geht das sogar noch weiter. Sie kann Gerüche nicht nur identifizieren, reproduzieren und in Gläsern archivieren, sondern mit verbundenen Augen im von vielfältigen Düften durchströmten Wald ihre Mutter allein anhand ihren Körpergeruchs finden. Mit ihrem Wuschelkopf wird Vicky, überzeugend gespielt von der im Kino bislang noch unerfahrenen Sally Dramé, in der Schule gemobbt, wobei sie sich dennoch gut zu wehren weiß.
In seiner Ausgangskonstellation hätte dieser Film den Stoff für einen besonderen Kinderfilm abgegeben. Obwohl Vicky bis zum Ende die Hauptfigur bleibt, die mit ihren Fähigkeiten, sogar die Vergangenheit heraufzubeschwören, weiterhin die zentrale Perspektive des Films bestimmt, hatte Léa Mysius aber andere Vorstellungen. Das wird spätestens dann deutlich, als mit Julia eine weitere Hauptfigur auftaucht. Die Schwester von Vickys Vater wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen. Ihr eilt der Ruf nach, eine Pyromanin zu sein. Instinktiv spürt Vicky, dass Julia eine Bedrohung für den Zusammenhalt ihrer Familie ist und sie versucht, das mit ihren besonderen Fähigkeiten zu verhindern.
Wenn man einen roten Faden im bisherigen filmischen Wirken von Léa Mysius sucht und finden möchte, liegt der darin, dass ihr Fokus fast immer auf jungen lebenshungrigen Außenseiter*innen liegt, die vor großen Herausforderungen stehen, ihren Platz im Leben noch nicht gefunden haben und immer auch die nicht nur französische Gesellschaft in ihren Widersprüchen, Problemen und in ihrer kulturellen Vielfalt reflektieren. In jedem Fall zählt sie zu einer Riege von jungen französischen Filmschaffenden, von denen in Zukunft noch sehr häufig die Rede sein wird.