Hintergrund | | von Holger Twele
Im Alltag angekommen
Das Fantastische im Kinderfilm und wie es sich verändert hat
In älteren Kinderfilmen gibt es eine (mehr oder minder) klare Trennung zwischen Alltag und fantasievoller Traumwelt, in neueren scheint diese aufgehoben zu sein. Beobachtungen zum Wandel des Fantastischen im Kinderfilm und ein Streifzug durch die Filmgeschichte, der im Rahmen des BJF-Begleitseminars zum Kinderfilmfest München 2019 zur Diskussion gestellt wurde.
Die Bedeutung der Fantasie im Kinderfilm ist unumstritten. Das bezieht sich zunächst auf fantasiebegabte Protagonist*innen und eine möglichst fantasievolle Umsetzung der Geschichte. Ebenso wichtig sind die Funktion der Fantasie an sich und das, was sie in Kindern bewirkt. Jan-Uwe Rogge hat das auf den Punkt gebracht, indem er schrieb: „Kinder denken bildlich. Ihre magischen Fantastereien sind die altersgerechte Art und Weise, mit den vielen Eindrücken umzugehen, denen sie Tag für Tag ausgesetzt sind. Sie begreifen damit nicht nur ihre Umwelt, sondern sie präzisieren ihre Intelligenz, schulen und entwickeln sie weiter“ (zitiert nach: „Lasst Kinder träumen“). Norbert Neuß wies in einem Artikel für die Publikation Televizion auf die Bedeutung von „Leerstellen“ wie Metaphern, Symbole oder Fantasie öffnende Fähigkeiten im Kinderfilm hin. Sie regen die jungen Zuschauer*innen durch assoziatives Verstehen zur Tätigkeit und zur eigenen Interpretation an. Wie aber verhält es sich mit dem Fantastischen im Kinderfilm? Sind das ebenfalls Leerstellen, die für Kinder von besonderer Bedeutung sind? Sind fantastische Erzählmomente für sie genauso wichtig wie die Fantasie selbst?
Wenn es um „das Fantastische“ geht, so ist damit im normalen Sprachgebrauch meist das Wirklichkeitsfremde und Unwirkliche gemeint. Gerade bei Kindern jedoch sind die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Traum und Wirklichkeit noch fließend – in ihrer Alltagsrealität, in ihrer eigenen Vorstellungswelt und im Kinderfilm. Um dem Geheimnis des Fantastischen im Kinderfilm auf die Spur zu kommen, lohnt sich ein Blick auf die Filmgeschichte und inwiefern sich das Fantastische im Laufe der Jahrzehnte entwickelt und verändert hat.
Deutliche Grenzüberschreitungen
In „Der Zauberer von Oz“ (USA 1939, Victor Fleming) gerät das Mädchen Dorothy durch einen Fiebertraum zunächst in eine fantastische Parallelwelt – bis sie am Ende wieder erwacht und erkennt, dass es zu Hause am schönsten ist. Im Disney-Animationsfilm „Alice im Wunderland“ aus dem Jahr 1951 landet auch Alice in einem unbekannten Land, das anderen Regeln und Gesetzen folgt, nachdem sie einem weißen Kaninchen in seinen Bau gefolgt ist. In beiden Filmen sind die Parallelwelten klar voneinander getrennt. Nur im Traum, durch einen Tunnel oder eine magische Tür gelangt man von der einen auf die andere Seite. Die Visualisierung einer solchen Grenzüberschreitung erfolgt anhand filmtechnischer Mittel wie Unschärfen, Überblendungen oder Spezialeffekten.
Daneben entwickelt sich filmhistorisch im Märchen-Genre eine typisch märchenhafte Welt, die durch die Figuren, Farben und Formen für das Publikum klar erkennbar ist, etwa in „Die Geschichte vom kleinen Muck“ (DDR 1953; Wolfgang Staudte) oder auch in „Ronja Räubertochter“ (Schweden, Norwegen 1984, Tage Danielsson), selbst wenn der Alltag zwei verfeindeter Räuberbanden und ihrer Kinder in letzterem bereits sehr realistisch inszeniert worden ist.
Die Parallelwelten werden durchlässiger – und gefährlicher
Das Motiv der fantastischen Parallelwelt setzt sich auch in neueren Filmen fort, etwa in dem Anime „Chihiros Reise ins Zauberland“ (Japan 2001, Hayao Miyazaki), wobei der Titel schon auf die magische Zauberwelt verweist, in die eine Zehnjährige mit ihren Eltern gerät. Dort muss sie sich mit japanischen Göttern und Geistern sowie einer bösen Hexe auseinandersetzen, um ihre Eltern zu retten und mit ihnen in die Alltagsrealität zurückzukehren. Im Stop-Motion-Film „Coraline“ (USA 2009, Henry Selick) ist es ebenfalls eine Zehnjährige, die durch einen Korridor in eine, diesmal fast identisch aussehende Parallelwelt einer Hexe gerät, die es auf die Augen des Mädchens abgesehen hat, um sie durch Knöpfe zu ersetzen. Im Unterschied zu den vorher genannten Filmen wechselt Coraline mehrfach und verhältnismäßig unkompliziert zwischen den beiden Welten. Wie Chihiro muss sie auch erst über sich selbst hinauswachsen und unter Einsatz ihres Lebens aktiv werden, um ihre Eltern zu retten, die ohne sie verloren wären. In beiden Fällen sind es existenzielle Grenzerfahrungen, mit denen die Heldinnen konfrontiert werden und eine Parallelwelt, die ihren pittoresken märchenhaften Charakter und ihre Unschuld verloren hat.
Das Jahr 2009 markiert mit einem weiteren Film einen Umbruch des Fantastischen im Kinderfilm, wobei sich die reale Welt und die fantastische Welt immer stärker durchdringen und die klassischen Grenzen zwischen diesen „Räumen“ beziehungsweise Realitätsebenen langsam verschwinden. „Wo die wilden Kerle wohnen“ (USA 2009, Spike Jonze) nach dem Kinderbuch von Maurice Sendak erzählt die Geschichte eines Jungen, der sich zu Hause missverstanden fühlt und – im Traum, aber visuell unauffällig markiert – auf eine Insel flieht, dorthin, wo die ungestümen wilden Kerle wohnen. Diese wünschen sich einen Anführer, während Max davon träumt, über ein Königreich zu herrschen. Doch schon bald macht Max die Erfahrung, dass der Umgang mit seinen monströsen Untertanen weitaus komplizierter ist, als er sich das ursprünglich gedacht hatte. An diesem Film lässt sich besonders gut zeigen, worin der „Nutzen“ des Fantastischen für Kinder liegt. Max findet in der Begegnung mit den wilden Kerlen seinen eigenen Weg, mit den Problemen in seiner Alltagsrealität besser umzugehen. Das junge Publikum kann voll mit ihm mitfühlen und eigene Ängste, die der Film sehr anschaulich visualisiert, anhand seiner Erfahrungen vielleicht besser in den Griff bekommen.
Das Fantastische als Teil des Alltags
Spielte sich das Fantastische im Kinderfilm bislang fast ausschließlich in Träumen, Parallelwelten, in Märchen, Sagen und Legenden ab, ist es inzwischen zum integralen Bestandteil des Alltags der Protagonist*innen geworden. Im Unterschied zu vielen Erwachsenen haben Kinder keine Schwierigkeiten, beide „Realitätsebenen“ miteinander zu verbinden und in Einklang zu bringen. An neueren Kinderfilmproduktionen lässt sich die Entwicklung gut nachvollziehen. „Alfie, der kleine Werwolf“ (Niederlande 2011, Joram Lürsen) handelt von einem kleinen Jungen, der als Findelkind bei seinen Adoptiveltern aufwächst und am Vorabend seines siebten Geburtstags bei Vollmond plötzlich entdeckt, dass er sich in einen Werwolf verwandelt hat. Nun befürchtet er, wegen seiner Andersartigkeit von den Adoptiveltern verstoßen zu werden.
In „Der blaue Tiger“ (Tschechien, Deutschland, Slowakei 2011, Petr Oukropec) versuchen zwei Kinder, den Abriss eines paradiesischen Gartens zu verhindern, auf dem ein Protzbau für den Bürgermeister entstehen soll. Unterstützt werden sie von einem blauen Tiger, der in der Stadt auftaucht und vollkommen echt wirkt. Und in „Hilfe, unser Lehrer ist ein Frosch (Niederlande 2016, Anna von der Heide) ist es genauso selbstverständlich und real, dass sich der Klassenlehrer mitunter in einen Frosch verwandelt und von seinen Schüler*innen vor dem bösen Schuldirektor gerettet werden muss, der eigentlich ein Storch ist und am liebsten Frösche frisst. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung markiert der britische Action- und Fantasyfilm „Wenn du König wärst“ (Großbritannien 2019, Joe Cornish), in dem ein zwölfjähriger Schüler vor dem Hintergrund der König Artus-Sage selbst zum Schwert Excalibur greift und junge Ritter der Tafelrunde um sich schart, um das Großbritannien der Gegenwart vor der sicheren Katastrophe zu bewahren.
Dass die Ebene des Fantastischen inzwischen vollständig in die Realitätsebene integriert scheint, hat sehr viel mit den neuen digitalen Möglichkeiten zu tun, wobei virtuelle Welten vollkommen realistisch im Computer entstehen und daher „authentisch“ wirken. Die medialen Erfahrungen von Kindern werden gerade von solchen bildgewaltigen Geschichten geprägt, was wiederum wesentlich dazu beiträgt, dass Kinder beide Ebenen nahezu gleichwertig als unterschiedliche Formen des Realen wahrnehmen und begreifen. Ist das nicht fantastisch?