Hintergrund | | von Katrin Hoffmann
„Ich bin der wolkenlose Himmel“
Die jungen Protagonist*innen in den Filmen von Caroline Link
Immer wieder erzählt Caroline Link in ihren Filmen über Kinder und Jugendliche. Bemerkenswert ist dabei die melancholische Grundstimmung sowie die große Sympathie, die die Regisseurin den jungen Protagonist*innen entgegenbringt. Ein Rückblick auf die Darstellung von Kindern und Jugendlichen – und von Familienbeziehungen ganz allgemein – im Werk von Caroline Link anlässlich ihres neuesten Films „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟.
Die Geschichte einer Tochter, die Klarinettenspielerin werden will und dadurch in Konflikt mit ihren gehörlosen Eltern gerät, weil die Welt der Musik diesen immer verschlossen bleiben wird: Der Stoff von Caroline Links Langfilmdebüt aus dem Jahr 1996 war ein Wagnis. Trotzdem wurde „Jenseits der Stille“ ein Überraschungserfolg, der Link sogar eine Oscar-Nominierung bescherte. Und sie hatte damit ein Thema gefunden, das charakteristisch für ihre folgenden Regiearbeiten werden sollte: die Familie.
Caroline Link ist immer an den psychologischen Auswirkungen familiärer Schicksalsschläge interessiert, von Flucht und Tod, von Trennung und Krankheit. Was verschiebt sich innerhalb des Beziehungsgeflechts, wenn Katastrophen dieses Ausmaßes über eine Familie hereinbrechen? Ganz besonders im Fokus stehen dabei die Kinder und Jugendlichen, aus deren Sicht die Ereignisse erzählt werden und um deren Selbstfindungsprozess es angesichts der Schwierigkeiten geht.
Konflikte von außen, Konflikte von innen
Auf „Jenseits der Stille‟ folgte nach „Pünktchen und Anton“ (1999) die Adaption „Nirgendwo in Afrika“ (2002) nach der Autobiografie von Stefanie Zweig, für die Link 2003 dann tatsächlich mit dem Oscar ausgezeichnet wurde und in der sie ebenso wie in ihrem neuen Film „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (2019) die Geschichte einer jüdischen Familie erzählt, die vor dem Nationalsozialismus fliehen muss. In den beiden Exilgeschichten wird der Konflikt von außen an die Familien herangetragen, sie müssen fliehen, um zu überleben, und wir beobachten sie dabei, wie sie mit der Herausforderung umgehen. Die Sprachbarrieren sind in „Nirgendwo in Afrika‟ vor allem in Kenia hoch, aber auch Anna in Frankreich lernt in „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟ die fremde Sprache mit viel Fleiß, denn sie spürt intuitiv, dass dies der Schlüssel ist, um im fremden Land anzukommen und sich integrieren zu können.
In anderen Regiearbeiten von Caroline Link hingegen entsteht das Drama aus der Familie selbst heraus, wie etwa der Verfilmung von Scott Campbells Roman „Im Winter ein Jahr“ (2008), der exemplarisch für Links Herangehensweise steht. Es ist der Versuch, den Selbstmord des geliebten 19-jährigen Sohnes zu verarbeiten. Die Mutter lässt bei einem Maler ein Doppelporträt anfertigen, das ihre Kinder gemeinsam am Klavier zeigen soll. Dass die ältere Schwester Lilli bei dieser Form der Trauerarbeit beinahe unter die Räder gerät, fällt der Mutter überhaupt nicht auf. In fast klaustrophobischen Bildern setzt sich Lilli zur Wehr und findet im Maler einen Verbündeten, der sich mit ihr auf Spurensuche begibt, um zu begreifen, was ihren Bruder in den Suizid getrieben haben könnte. Lilli ringt darum, die Last der Überlebenden abzuschütteln.
Ein Jahr ist seit dem Suizid vergangen und auch den Eltern gelingt es schließlich, über die Konfrontation mit dem Gemälde endlich wieder ihre Tochter in den Blick zu nehmen. Der Maler hatte seine ganz eigene Interpretation der Geschwisterbeziehung auf die Leinwand gepinselt, „weil es sich so besser anfühlt“. So hilft ein Gemälde bei der Heilung des Familientraumas und Eltern und Tochter können wieder versöhnt nach vorne blicken. Die Fokussierung auf das Drama der Selbsttötung des Sohnes und die Trauer um ihn zieht das Publikum ganz unmittelbar in den Bann. Wie hier ist es der Regisseurin stets wichtig, ein versöhnliches Ende zu finden, mag der Schmerz auch noch so groß sein.
Funktionierende Beziehungsgeflechte in Schieflage
Es geht immer um die Kernfamilie Eltern-Kinder, aus deren Zwängen die Kinder sich befreien müssen. Nie sind es dysfunktionale Familien die Link porträtiert, sondern funktionierende Beziehungsgeflechte, die aus unterschiedlichen Gründen in Schieflage geraten sind. In „Jenseits der Stille“ und „Nirgendwo in Afrika“ wird dieser Unabhängigkeitsprozess sogar in einer Langzeitbeobachtung über mehrere Jahre verfolgt, sodass die Kinderschauspielerinnen von jugendlichen Darstellerinnen ersetzt werden mussten.
Lara, die sich in „Jenseits der Stille‟ schon als Kind immer für ihre gehörlosen Eltern verantwortlich fühlt, lernt Klarinette – einen stärkeren Kontrast, um den Eltern etwas entgegenzusetzen, kann es kaum geben. Sie wird sich schließlich zunächst räumlich trennen, um ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Dass sie nach dem Unfalltod ihrer Mutter nicht zurück zu Vater und Schwester zieht, ist ein starkes Statement für die Eigenständigkeit der Tochter, das schließlich auch der Vater anerkennt. „Nirgendwo in Afrika“ wiederum folgt der Entwicklung der überbehüteten jungen Regina zu einer selbstsicheren Teenagerin, die sich unabhängig von ihren Eltern ganz selbstverständlich in das kenianische Dorf integriert.
Rückhalt in der Familie
Wenn einerseits aus der familiären Konstellation heraus die Konflikte entstehen, so ist es doch andererseits genau diese Familie, die Halt und Zuversicht bereithält, um Lösungen zu finden. In dem Kinderfilm „Pünktchen und Anton“ sind es zwei sehr unterschiedliche Familien, die gegenübergestellt werden. Anton arbeitet für seine alleinerziehende Mutter in der Eisdiele, solange diese krank im Bett liegt, Pünktchen wird von der Haushälterin und dem Au-Pair-Mädchen beaufsichtigt, sehnt sich aber nach der Mutter, die abwesend ist, um armen Kindern in der Welt zu helfen und dabei ihre Tochter übersieht. Link hat Kästners Vorlage in einigen Bereichen geändert, um die Problematik zu schärfen und den Klassiker zu aktualisieren. Wieder ist es ein starkes Mädchen, das die Dinge solange in Frage stellt und für ihr Familienideal kämpft, bis die Eltern ihre Not – und die Antons – erkennen und maßgeblich ihre Einstellung ändern.
Mit wenigen Strichen vermag Caroline Link jeder Figur einen eigenen Hintergrund zu geben und – wie in all ihren Filmen – keine Figur aus den Augen zu verlieren. Niemand ist nur Staffage oder Stichwortgeber*in, sodass die psychologische Dynamik innerhalb des Ensembles immer menschlich nachvollziehbar ist. Allen Figuren gehört ihre Sympathie, wobei es in ihrem gesamten Oeuvre keine wirklich unsympathischen Figuren gibt. Selbst für den abwesenden Vater aus „Exit Marrakech“ (2013), den sein 17-jähriger Sohn nie interessiert hat, hat man Verständnis.
Familie als Hort des Konflikts, aber auch als Zufluchtsort und Versprechen auf eine versöhnliche Zukunft. Familie ist das, wo wir herkommen und dem man nicht entfliehen kann, das erkennen Vater und Sohn auf ihrer Reise durch Marrakesch – und das wissen auch alle anderen großen und kleinen Held*innen in Links Filmen. In den beiden Fluchtgeschichten „Nirgendwo in Afrika‟ und „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‟ übernimmt die Familie auch die Funktion der letzten Heimat, denn in der Ferne hat man nur die Liebsten, mit denen man das Exil gemeinsam durchleben muss und eine gemeinsame Sprache spricht.
Kindern eine Stimme geben
Ein „Familien-Film‟ par excellence ist Links bisher erfolgreichste Adaption „Der Junge muss an die frische Luft“ (2018), die Geschichte des jungen Hape Kerkeling im Recklinghausen der frühen 1970er-Jahre. Der Junge ist eingebettet in eine riesige feierwütige Verwandtschaft aus Tanten, Großeltern, Cousinen und Angeheirateten, in der alle den kleinen Hans Peter lieben und auf Händen tragen. Zum Glück, denn als seine Mutter depressiv wird und sich schließlich das Leben nimmt, muss Hans Peter bei Oma und Opa aufwachsen. Aber er zehrt von den positiven Emotionen, die ihn bisher getragen haben, und sein Witz hilft ihm über die eine oder andere Klippe hinweg.
Caroline Links Interesse gilt immer den Kindern, die es besonders schwer haben; ihnen gibt sie eine Stimme. In Kerkelings Biografie sind mit dem Nebeneinander von Schmerz und Humor die Höhen und Tiefen des Lebens in unvergleichlicher Art und Weise auf die Leinwand gebannt. Dass wir als Zuschauer*innen in jedes ihrer Werke so tief emotional eintauchen können wie hier, liegt auch an den fantastischen Kinderdarsteller*innen, die die Regisseurin für ihre Filme gefunden hat.
Großartige Kinderdarsteller*innen
Link will nie mit Kindern arbeiten, die schon Filmerfahrung haben, sondern mit Darsteller*innen, die noch ganz unschuldig ans Set kommen. Furios spielt Julius Weckauf den jungen Kerkeling, ohne ihn wäre der Film gar nicht denkbar. Und zuletzt ist ihr mit Riva Krymalowski als Anna Kemper in „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ ein weiterer Besetzungscoup gelungen. Die jungen Held*innen tragen maßgeblich zum Gelingen der Filme bei, weil sie ganz authentisch vor der Kamera agieren und sich die unverbrauchten Talente frei bei der Regisseurin entfalten können. Das merkt man jedem ihrer sieben Kinofilme an. Alle werden dabei von einer Melancholie getragen, die schwer zu greifen, aber möglicherweise am besten zu erklären ist, wenn man die letzten Worten des erwachsenen Hape Kerkeling aus „Der Junge muss an die frische Luft“ nachklingen lässt: „Das alles ist es, was ich bin. Ich bin meine Mutter und mein Vater, mein Bruder und meine Großeltern, ich bin ihr Lachen und ihr Schmerz. Ich bin die Richtung, in der meine Mutter mich im Kinderwagen geschoben hat. Ich bin der wolkenlose Himmel.“ Als Motto schwingt Kerkelings Erkenntnis programmatisch bei allen Filmen von Caroline Link mit, einer Regisseurin, die jede ihrer Figuren liebt und deshalb das Publikum emotional mit all ihren Geschichten berührt.