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Hintergrund | | von Ulrike Seyffarth

Guck mal, wer da tanzt

Kindertanzfilme

Mit ihrem Fokus auf Liebe, auf Körper- und Rollenbilder und manchmal auch Politik funktionieren Tanzgeschichten hervorragend als Jugendfilm. Aber auch schon im Kinderfilm wird getanzt. Dabei gelingt es dem Kindertanzfilm, die markanten Themen des Genres altersgerecht auf die Welt der jüngeren Protagonist*innen zu übertragen und sich auch musikalisch seine große Offenheit zu bewahren.

Filmstill aus Dancing Queen
"Dancing Queen" (c) Asmund Hasli, Amarcord

Tanzfilme erfreuen sich großer Beliebtheit bei Kindern und Jugendlichen. Entsprechend umfangreich ist das Angebot an Filmen, deren Mix aus Tanz, Musik und Unterhaltung ihr junges Publikum begeistert. Sobald die Themen Liebe und Sexualität für ein Zielpublikum ab zwölf Jahren an Relevanz gewinnen, explodiert das Genre regelrecht: „Neneh Superstar“ (Ramzi Ben Sliman, 2022), „2Unbreakable“ (Maike Conway, 2023), „Into The Beat“ (Stefan Westerwelle, 2020) oder „Yuli“ (Icíar Bollaín, 2018) sind Beispiele für die große Bandbreite. Charakteristisch sind Franchise-Reihen wie „Streetdance“ (4 Filme von 2012 bis 2018), „Center Stage“ (drei Filme von 2000 bis 2016), „Girls United“ (sechs Filme von 2000 bis 2017), „Step Up“ (fünf Filme von 2006 bis 2014 sowie eine Spin-off TV-Serie von 2018 bis 2022). Um Gesang erweitert tritt als eigenes Subgenre das „High School Musical“ (drei Filme von 2006 bis 2008 sowie eine Serie von 2019 bis 2023) an, nicht nur mit der gleichnamigen Reihe.

Tanz und eine obligatorische Lovestory spiegeln die Pubertät und Adoleszenz der Protagonist*innen wider, die mit beinhartem Training gegen viele Widerstände und in semiprofessionellen Auftritten auf der (Schul-)Bühne oder in Battles auf der Straße um Anerkennung kämpfen; manchmal auch um eine berufliche Zukunft als Tänzer*in. Aber auch im Kinderfilm wird bereits getanzt, wobei das Angebot für Pre-Teens zwischen neun und zwölf Jahren von Real- und Animationsfilmen bis zu Doku-TV-Formaten wie „TanzAlarm“ oder „My Move – Tanz deines Lebens“ reicht und viele der Erzählmuster und Leitthemen, die sich in den jugendlichen und erwachsenen Tanzfilmen finden, altersgemäß auf die jüngere Zielgruppe übertragen werden.

Entwicklung als konkrete Bewegung

Auch im Kindertanzfilm scheinen Tanz und Träume ein unzertrennliches Paar zu sein, nicht nur in der sprichwörtlichen Traumtänzer*in. Wenn nicht im Filmtitel selbst („Träume sind wie wilde Tiger“), im Untertitel („Ballerina – Gib deinen Traum niemals auf“) oder als Zwischenkapitel („StreetDance Kids“), heißt es früher oder später im Dialog „Glaube an deinen Traum“. Diese Träume wiederum sind eng verbunden mit der Sehnsucht nach Freiheit und dem Wunsch, seinen Platz in der Welt zu finden, zwei anderen klassischen Coming-of-Age-Elementen. Was wäre also besser geeignet als Tanz, um die persönliche Entwicklung Heranwachsender mit allen Fort- und Rückschritten sichtbar zu machen, ganz konkret als Bewegung?

Neben tänzerischen Ambitionen können eine erste Liebe oder das Engagement für eine Sache die Initialzündung fürs Tanzen sein – oder Neugier und reiner Zufall, wie etwa bei „Billy Elliot“ (Stephen Daldry, 2000), wo die Freude an der Bewegung für den Protagonisten ebenso überraschend ist wie das eigene Talent.

„Billy Elliot“, obgleich kein Kinderfilm im eigentlichen Sinne, ist eines der frühesten und schönsten Beispiele für Tanzfilme mit kindlicher Hauptfigur. Billy ist elf, als er das Tanzen für sich entdeckt und gegen familiäre Widerstände und gesellschaftliche Erwartungen seinen Weg erkämpft, raus aus der Enge des von Armut und Perspektivlosigkeit geprägten Alltags seiner Bergarbeiterfamilie. Tanz hat hier eine kathartische Funktion. Billys angestaute Wut und Verzweiflung brechen sich Bahn in energiegeladenen Tanzeinlagen, die weit entfernt sind von der Anmut und Grazie des erwachsenen Billy, der es als Solo-Balletttänzer auf großer Bühne weit gebracht hat.

Filmstill aus Billy Elliot
"Billy Elliot" (c) StudioCanal, Studiocanal GmbH, UIP

Teamarbeit und schwierige Väter

Tanzfilme machen Identifikationsangebote ans Publikum. Gemeinsam mit den gleichaltrigen Held*innen werden die zuletzt stets erfolgreich durchstandenen Bewährungsproben, das Erfolgserlebnis und das neu erlangte Selbstvertrauen und der Glaube an sich selbst erlebt. Wichtige Elemente sind der Gemeinschaftsgedanke und soziale Akzeptanz. Tanz bringt die Kinder zusammen, fördert Freundschaften und zeigt, wie wichtig Teamarbeit und Zusammenhalt sind. So soll in „StreetDance Kids“ etwa eine Talentshow in Eigeninitiative das vertraute Jugendzentrum vor dem Abriss retten. Dazu castet der junge Ethan eine Truppe, deren Mitstreiter*innen charakterlich so grundverschieden sind wie ihre Tanzstile und die sich für diese Aufgabe zusammenraufen müssen. Während Ethan durch ein väterliches „Lebe deinen Traum“ ermutigt wird, muss sich Jaden dem strikten Tanzverbot seiner Eltern widersetzen.

Dem Tanzen stehen oft Rollenbilder und Erwartungen antagonistisch gegenüber, bedingt durch Geschlecht, Kultur, Religion, Tradition oder Herkunft. Auffällig häufig sind es die Väter, die solche Verbote aussprechen („StreetDance Kids“, „Träume sind wie wilde Tiger“, „Billy Elliot“). Die Rebellion gegen diese Vorschriften und Verbote findet meistens zunächst heimlich statt. Immer sind auch innere Widerstände wie die eigenen Glaubenssätze, Ängste und Unsicherheiten der heranwachsenden Charaktere involviert. Es braucht Mut und Disziplin, sich dem zu stellen – in einem Training, das die eigenen Grenzen auslotet, und in öffentlichen Auftritten. Und Resilienz, um Misserfolge und Rückschritte auszuhalten und daran zu wachsen.

Persönliche und mediale Vorbilder

Eine weitere verlässliche Zutat in diesem Kampf um persönliche Entwicklung sind Mentor*innen und Vorbilder. Der Beistand reicht dabei von Lebensweisheiten und Ermutigung bis zu konkretem Tanztraining. Mentor*innen sind fast ausschließlich Erwachsene oder ältere Jugendliche. Sie sind oft ganz in der Nähe zu finden, in der Familie („Dancing Queen“) oder Nachbarschaft („Billy Elliot“). Diese Figuren sind gerne mit eigener vergangener Tanzerfahrung ausgestattet. In „Dancing Queen“ (Aurora Gossé, 2023) erhält Mina Zuspruch und Tanzunterricht von ihrer Oma, einst eine Art Burlesque-Tänzerin – der Grund, aus dem Minas Mutter Tanzen strikt ablehnt. In „Ballerina“ trifft Félicie in der Pariser Oper auf „Putzfrau“ Odette, ehemals gefeierte Primaballerina. Sowohl Mina als auch Félicie steht als weitere unterstützende Figur der beste Kindheitsfreund zur Seite, dessen Loyalität erst am Ende des Reifungsprozesses von den Mädchen als Qualität erkannt wird.

Ein zweischneidiges Schwert sind Rollenvorbilder aus (sozialen) Medien. Einerseits Inspiration und Ansporn, können sie andererseits durch die Vorgabe unrealistischer Schönheitsideale und der Maxime Perfektion zum destruktiven Hemmnis werden. Sexuelle Attraktivität als drittes Element kennzeichnet den Moduswechsel vom Kinderfilm zum Jugendfilm. „Mignonnes“ (Maïmouna Doucouré, 2020) ist so ein Grenzfall, der sich trotz seiner elfjährigen Protagonistin an ein älteres Publikum richtet: Amy will die strengen Rollenvorgaben ihrer muslimischen Familie abstreifen, ihre neu erwachte Weiblichkeit ausprobieren. Wenn sie dazu mit ihren Freundinnen die erotisch aufgeladenen Moves ihrer erwachsenen weiblichen Vorbilder aus sozialen Medien und Musikvideos nachtanzt, ist dies auch eine kritische Reflexion über Sexualisierung und den Druck, dem junge Mädchen ausgesetzt sind.

Filmstill aus Träume sind wie wilde Tiger
"Träume sind wie wilde Tiger" (c) Wild Bunch

Außenseiter*innen

Eine feste Größe in Kinderfilmen sind Außenseiter*innen. In „Dancing Queen“ hat die zwölfjährige Mina einen wilden Tanzstil, für den sie ausgelacht wird. Um beim Tanzen eine bessere Figur zu machen und dem gefeierten HipHop-Tanzstar Edvin – dem eigentlichen Anlass für ihr Tanzinteresse – zu gefallen, strebt Mina zunächst die äußerliche Verwandlung und Anpassung an. Sie imitiert den Look der In-Crowd, tauscht Brille gegen Kontaktlinsen und versucht, schnell viel Gewicht zu verlieren – was sie ins Krankenhaus bringt. Der Traumprinz bleibt hier übrigens ebenso wie die äußerliche „Verschönerung“ auf der Strecke: Am Ende entscheidet sich Mina für ihren treu ergebenen Kindheitsfreund und für die alte Brille. Das ist als echter filmischer Fortschritt in Sachen Body Positivity zu werten!

Als Waisenkind per se Außenseiterin, weiß die zwölfjährige Félicie genau, was sie will: „Ballerina“ werden! Ihr Weg führt geradewegs aus dem Kinderheim in die renommierte Ballettschule der Pariser Oper. Wie Mina erfindet sie sich neu, ebenfalls für einen umschwärmten Tänzer, bevor sie den Wert erkennt, sich selbst treu zu bleiben, und auch zu ihrem loyalem Freund zurückfindet. „Ballerina“ und „Billy Elliot“ sind übrigens im Kindertanzfilm eher seltene Beispiele für eine Profitanzkarriere.

In „Träume sind wie wilde Tiger“ ist der zwölfjährige Ranji aus Indien der Neue an der Schule und in Deutschland. Sein Traum ist es, an der Castingshow seines Idols, einem Bollywood-Star, teilzunehmen. Mentor ist sein in Indien gebliebener Großvater, der ihn mit Weisheiten ermutigt, daran festzuhalten. Untypischerweise ist Tanz hier kein Katalysator für den Reifeprozess des Protagonisten. Der Film zeigt oder erklärt nicht, wie der Protagonist zu seinen bühnenreifen Tanzmoves kommt – er kann es einfach, dito singen. Dafür sind Ranjis Hürden zahlreich: ein striktes väterliches Tanzverbot, der Umzug nach Deutschland, der den Weg nach Indien und zum Castingtermin erschwert, und das erforderliche Bewerbungs-Video mit einem weiblichen Part. Aber natürlich schafft auch Ranji es, seinen Traum zu leben.

Durch Tanz wachsen

Tanzfilme sind als ideales Vehikel für Coming-of-Age-Inhalte eine feste Größe im Kinderfilm. Die Kombination aus spannenden Erzählungen und mitreißenden Choreografien spricht Kinder an und fördert, nicht zuletzt durch gleichaltrige junge Protagonist*innen, eine identitätsstiftende Verbindung zu den Charakteren, deren Herausforderungen und Erfolgserlebnissen. Tanz stärkt Selbstakzeptanz und Gemeinschaftssinn und vermittelt ein positives Körperbewusstsein. Wenn‘s gut läuft, lautet die wichtigste Botschaft: Talent und Tanz haben nichts mit Äußerlichkeiten zu tun.

Ob HipHop, Break- und Streetdance, klassisches Ballett, Standardtänze oder Bollywood-Choreografien – alle Tanzstile finden bereits im Kinderfilm statt und über alle lässt sich sagen: das Tanzen im Film inspiriert, das Tanzfieber ist ansteckend. Umfragen des Deutschen Tanzsportverbands dokumentieren wachsenden Zulauf von Kindern und Jugendlichen in Tanzschulen und -vereinen. Ein Zusammenhang mit Tanzfilmen liegt nahe.

Wer Kindertanzfilme liebt, darf sich freuen: Ohne Unterbrechung geht es ab zwölf Jahren geschmeidig weiter mit den Jugend-Tanzfilmen und darüber hinaus – das Genre bleibt fürs ganze Leben erhalten.

Einen weiteren Text, der sich ausschließlich auf Ballettfilme für Kinder- und Jugendliche konzentriert, finden Sie unter Tanz dein Leben.

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