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Hintergrund | | von Christopher Diekhaus

Für immer Kind bleiben dürfen!

Der Peter-Pan-Mythos im Film

Mit „Peter Pan & Wendy“ wurde kürzlich beim Streamingdienst Disney+ eine neue Interpretation des Literaturklassikers veröffentlicht. Wir nehmen dies zum Anlass für einen Rückblick: Welche thematischen und erzählerischen Schwerpunkte haben die unterschiedlichen Verfilmungen seit dem Disney-Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1953 gesetzt? Welche Elemente wurden beibehalten? Und welche verändert? Ein Streifzug durch die Filmgeschichte an der Seite von Peter Pan – und Wendy.

Filmstill aus Peter Pan & Wendy
"Peter Pan & Wendy" (c) Disney+

Dem Recycling bekannter Geschichten und Marken scheint kein Ende gesetzt. Wöchentlich trudeln Ankündigungen über Remakes, Sequels und anderweitige Neubearbeitungen ein. Sehr aktiv ist auf diesem Feld auch der Disney-Konzern, der seinen eigenen Fundus an Zeichentrickwerken seit Jahren beackert und Realfilme vieler Klassiker an den Start gebracht hat. Zu den jüngsten Veröffentlichungen gehört „Peter Pan & Wendy“ (2023), David Lowerys für Disney+ entstandene Live-Action-Version des 14. abendfüllenden Disney-Streifens „Peter Pan“ (Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, Hamilton Luske, 1953), der nach den von J. M. Barrie erdachten Peter-Pan-Erzählungen entstand.

Was wir an dieser Stelle unbedingt festhalten müssen: Die Liste an Pan-Verfilmungen ist beachtlich, weit über zehn Neuinterpretationen und/oder Fortführungen wurden über die Jahre entwickelt und produziert. Offenbar hat der Stoff eine zeitlose Qualität. Ein Junge, der nicht erwachsen werden will und auf einer einsamen Insel mit Gleichgesinnten allerlei Abenteuer erlebt, spricht augenscheinlich alle Zielgruppen an. Junge Zuschauer*innen, weil ihr Entdeckungsdrang, ihre Neugier, ihre Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit, nach einer Welt ohne Regeln bedient wird. Ein älteres Publikum, weil Erinnerungen an die eigenen Kindheitsträume noch einmal hochkommen und sich wohl nur die wenigsten nicht einmal wünschen, den Zwängen des Alltags und der Verantwortung zu entfliehen.

Ein heiteres Spektakel

Disneys Zeichentrickfilm von 1953 ist zwar nicht die erste Adaption der Pan-Geschichte (1924 erblickte bereits ein Stummfilm das Licht der Welt), in seiner Wirkmacht allerdings nur schwer zu übertreffen. Temporeich inszeniert, umschifft das märchenhafte Abenteuer zumeist die düstereren Seiten der Vorlage und hebt, auf große künstlerische Ambitionen verzichtend, seinen heiter-spektakelhaften Charakter hervor. Im Zentrum steht Peter Pan, der die junge Wendy und ihre Brüder in das geheime Nimmerland (im Original: Neverland) führt, wo es zur Konfrontation mit seinem Erzfeind kommt, dem Piratenkapitän Hook. Wie wichtig es ist, Kind bleiben zu dürfen, betont nicht zuletzt das Ende des Films. Wendy kehrt mit ihren Geschwistern in ihre Welt zurück und muss nun, anders als zu Beginn der Handlung angedroht, nicht aus dem Kinderzimmer ausziehen. Ihr anfangs so strenger Vater zeigt sich gnädig, lässt ihr noch Zeit, sich den Anforderungen des Erwachsenwerdens zu stellen.

Filmstill aus Peter Pan
"Peter Pan" (c) Disney

Fortschreibungen und Vorgeschichten

Die Hinwendung zur kindlichen Begeisterungsfähigkeit, zum Staunen feiert unübersehbar auch Steven Spielbergs eigenständige Fortsetzung der Pan-Erzählung. In „Hook“ (1991) hat Peter Nimmerland längst verlassen und reibt sich völlig in seiner Arbeit als Firmenanwalt in San Francisco auf. Als der wegen seiner verlorenen Hand nach wie vor rachsüchtige Hook Peters Kinder in die verborgene Welt entführt, muss der erwachsene Vater, der seine Familie bislang sträflich vernachlässigt hat, die Fantasie und die Abenteuerlust seiner Kindheit wiederentdecken. Nur so kann er seine Tochter und seinen Sohn aus den Klauen seines alten Kontrahenten befreien. In den Hauptrollen mitreißend gespielt und allerlei tricktechnische Kabinettstücke aus dem Hut zaubernd, bietet der Film solides Überwältigungskino. Seine Handlung trägt er jedoch zu formelhaft vor, um nachhaltig im Gedächtnis zu bleiben.

Wo Spielberg J. M. Barries Ursprungsstoff weiterdenkt und Hook als nimmermüden Gegner darstellt, geht Joe Wright mit „Pan“ (2015) in die entgegengesetzte Richtung. Sein Werk ersinnt eine Vorgeschichte zur bekannten Story und verzichtet gänzlich auf die Wendy-Figur. Peter Pan ist hier ein zwölfjähriger Waisenjunge, der während des Zweiten Weltkriegs von einem fliegenden Piratenschiff aus einem Londoner Heim entführt wird. Hinter dem Überfall steckt ein gewisser Kapitän Blackbeard, der in Nimmerland Kinder als Arbeitskräfte in einer Mine ausbeutet. Hilfe im Kampf gegen den Tyrannen erhält der Protagonist ausgerechnet von einem jungen James Hook. An aufregenden Inszenierungsideen mangelt es dem Film sicher nicht. Beeindruckend ist etwa der Moment, in dem sich kleine Holzgestalten aus einem Baumstamm schälen und eine mythische Kriegserzählung anschaulich bebildern. Der Kampf um Freiheit ist zentraler Bestandteil des Plots. Die Kerneigenschaften des Pan-Stoffes – Abenteuerlust und Unbekümmertheit – treten in der stark von Computereffekten dominierten, teilweise überladenen Erzählung jedoch gegenüber einer großen Verantwortung, einem typischen Blockbuster-Held*innen-Muster zurück. Peter, dessen Mutter Mary mit Nimmerland in Verbindung stand, muss sich seinem Schicksal stellen, seiner Berufung folgen.

Filmstill aus Wendy - Ein Leben zwischen den Zeiten
"Wendy - Ein Leben zwischen den Zeiten" (c) Disney

Perspektivwechsel zu einer weiblichen Nebenfigur

Dreht sich in den bisher genannten Filmen vieles um Peter Pan und seine Konflikte in der Fantasiewelt, nimmt Benh Zeitlins Version „Wendy – Ein Leben zwischen den Zeiten“ (2020) einen im Titel bereits angekündigten Perspektivwechsel vor. Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist in diesem Fall die neunjährige Wendy, die zusammen mit ihren Zwillingsbrüdern von einem Peter Pan aus ihrer rauen US-Südstaaten-Welt auf eine rätselhaft-verführerische Insel gelockt wird. Was sie dort erwartet: Kinder, die nicht altern und ein Leben ohne Gesetze. Hinter der aufregenden Fassade des Paradieses lauern allerdings auch Zweifel, Verbitterung und Wut. In flirrend-berauschenden Bildern und unterlegt mit pulsierenden Klängen erzeugt Zeitlins Pan-Variation eine ganz eigenwillige, mystische Atmosphäre. In einigen Passagen zelebriert der „Beasts of the Southern Wild“-Regisseur die Kraft der Fantasie und das befreiende Element Nimmerlands. Gleichzeitig stellt er den Mythos der ewigen Jugend und Peters hedonistische Lebensweise aber auch kritisch auf den Prüfstand. Die Erwachsenen mögen in ihren Rollen erstarrt sein, die Fähigkeit zu Träumen verlernt haben. Und doch drängt sich am Ende die Frage auf: Ist Pans Gegenentwurf wirklich die bessere Alternative?

Die im April 2023 bei Disney+ veröffentlichte Live-Action-Adaption „Peter Pan & Wendy“ schlägt, was die Gewichtung der weiblichen Hauptfigur betrifft, in eine ähnliche Kerbe. Wendys Entwicklung, die durch ihren Besuch in Nimmerland angestoßen wird, steht deutlich im Vordergrund. Eine einzige Nacht wird sie noch in ihrem Elternhaus verbringen, bevor sie auf ein Internat wechselt und dort den Ernst des Lebens kennenlernt. Ihren jüngeren Brüdern solle sie ein Vorbild sein und mit dem Toben aufhören, schärfen ihr die Eltern ein. Doch Wendy hat keine Lust, sich von der Kindheit zu verabschieden, und folgt dem plötzlich auftauchenden Peter begierig, als er ihr von der Unbeschwertheit in Nimmerland erzählt.

Das Fantasiereich inszeniert David Lowery als wunderbar haptischen, rauen, gar nicht mal so außerweltlich wirkenden Ort. Wendy tritt uns in dieser Verfilmung als aktives, nicht auf den Mund gefallenes Mädchen entgegen, das keine Scheu hat, den etwas arroganten Peter zu kritisieren. Vor allem in der zweiten Hälfte schwingt sich die Heldin in den Actionsequenzen zu einer schlagkräftigen Kämpferin auf. Spannend ist vor allem der Abschluss ihres etwas hastig ausgearbeiteten Charakterbogens. Anders als im zugrundeliegenden Zeichentrickfilm unterstreicht er, dass es keinen Grund gibt, sich vor neuen Stationen, neuen Abschnitten zu fürchten. Erwachsenwerden gehört zum Leben dazu und ist vielleicht, wie es in „Peter Pan & Wendy“ heißt, das größte Abenteuer von allen.

Filmstill aus Peter Pan & Wendy
"Peter Pan & Wendy" (c) Disney+

Problematische Stereotype und Bemühen um Diversität

Bemerkenswert ist an Lowerys Adaption noch ein anderer Aspekt. In der Besetzung der Rollen tragen die Macher*innen spürbar der wachsenden Bedeutung von Diversität Rechnung. Gerade dieser Punkt sorgte bei einigen früheren Pan-Interpretationen für kontroverse Diskussionen. Disneys Klassiker von 1953 zeichnet ein doch sehr stereotypes Bild der indigenen Kultur und gehört zu den Filmen, die beim hauseigenen Streaming-Dienst inzwischen mit einem Rassismus-Warnhinweis versehen sind. Kritik gab es auch für das Casting der weißen Schauspielerin Rooney Mara als Ureinwohnerin Tiger Lily in Joe Wrights „Pan“. Hinterfragen kann man ferner die Darstellung Peter Pans in „Wendy – Ein Leben zwischen den Zeiten“. Immerhin wird der schwarze Peter Pan hier durchaus als fremdartig und exotisch markiert – ein Klischee in der Beschreibung afroamerikanischer Charaktere auf der Leinwand.

„Peter Pan & Wendy“ hingegen bemüht sich um mehr Sensibilität. Der indisch-stämmige Alexander Molony verkörpert Peter, die Afroamerikanerin Yara Shahidi die Fee Tinker Bell und den Part Tiger Lilys hat mit Alyssa Wapanatâhk eine Schauspielerin mit indigenen Wurzeln übernommen. Bei Pans Gefährten, im Original noch eine reine Jungengruppe, handelt es sich nun um eine durchmischte Truppe, in der mit Noah Matthews Matofsky ein Darsteller mit Down-Syndrom auftaucht – übrigens zum ersten Mal in einem großen Disney-Film. Eine schöne Entwicklung, die aber einen kleinen Makel hat: Wirklich in die Geschichte integriert wird die Vielfalt nicht. Figuren wie Tinker Bell und Tiger Lily geben bloß Stichworte, stehen klar im Schatten der Protagonist*innen. Auch aus ihnen Figuren mit Profil zu machen – das ist die Herausforderung zukünftiger Pan-Verfilmungen.

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