Hintergrund | | von Rochus Wolff
Das Pinocchio-Problem
Wenn Disney-Klassiker noch einmal anders inszeniert werden
Seit 2015 arbeitet sich Disney durch seinen Trickfilm-Katalog und bringt jährlich meist gleich mehrere Neuverfilmungen ins Kino oder direkt zum hauseigenen Streamingdienst – mit ganz durchwachsenen Ergebnissen. Ein Versuch, die neuen und die alten Filme zu vergleichen, mit einem Blick auf Begrifflichkeiten, Geld, Publikum, Politik und Ästhetik.

Die Zeichentrickfilme des Walt Disney Studios haben einen festen Platz in der Filmgeschichte. Nicht wenige von ihnen gelten als Klassiker. So wundert es nicht, dass man irgendwann versucht hat, das bereits einmal Erfolgreiche noch ein weiteres Mal zu verwerten. Auf eine Reihe eher erfolgloser Sequels, die dann auch nicht mehr den Weg auf die große Kinoleinwand geschafft haben, folgten Neuverfilmungen, erst nur wenige und sehr sporadisch – und dann immer mehr. Spätestens seit „Cinderella“ (Kenneth Branagh, 2015) ist daraus eine neue Blockbuster-Reihe fürs Kino geworden, die im Frühjahr 2025 nicht nur zu einer neuen Begegnung mit dem filmhistorischen Klassiker „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (David Hand, 1937), sondern auch mit dem noch vergleichsweise jungen Fan-Liebling „Lilo & Stitch“ (Dean DeBlois, Chris Sanders, 2002) geführt hat. Aber wie verhalten sich die neuen Filme denn nun zu den Vorlagen? Warum gibt es sie eigentlich? Was soll, was kann man von ihnen halten – und ist das eigentlich gut? Kleiner Spoiler vorweg: Sie fühlen sich irgendwie seltsam an.

Remake, Prequel, Sequel oder was denn nun?
Die Schwierigkeiten im Umgang mit den jüngsten Disney-Remakes beginnen ja schon damit, wie man diese Filme bezeichnen soll. „Remake“ ist zwar zutreffend, erscheint aber etwas zu generisch, um den Schritt zu beschreiben, dass nun statt eines (Zeichen-)Trickfilms in der Regel reale Menschen auf dem Bildschirm zu sehen sind. „Live Action“- oder „Realfilm“-Remake ließe sich allerdings nur mit sehr großen Anführungszeichen verwenden, weil alle diese Filme massiv mit computergenerierten Bildern arbeiten – oder aber, wie „Der König der Löwen“ (Jon Favreau, 2019) sogar ausschließlich als CGI entstanden, also im Grunde auch wieder Animationsfilme sind. „Fotorealistisch“ trifft es da vielleicht schon eher, aber was bedeutet das schon für die fantastischen Unterwasserwelten in „Arielle, die Meerjungfrau“ (Rob Marshall, 2023)?
Streng genommen haben diese Remakes bereits mit Stephen Sommers’ „Das Dschungelbuch“ (1994) und Stephen Hereks „101 Dalmatiner“ (1996) begonnen, also lange bevor CGI so leichtfüßig einsetzbar wie heute. Dummerweise mischen sich unter all diese Versuche dann aber auch noch Vorgeschichten zu bekannten Klassikern wie „Cruella“ (Craig Gillespie, 2021) zu „101 Dalmatiner“ und „Mufasa“ (Barry Jenkins, 2024) zu „Der König der Löwen“ (Roger Allers, Rob Minkoff, 1994). Oder es gibt Spin-Offs aus Sicht vorheriger Antagonist*innen wie bei „Maleficent – Die dunkle Fee“ (Robert Stromberg, 2014), der an „Dornröschen“ (Clyde Geronimi, Les Clark, Eric Larson, Wolfgang Reitherman, 1959) anknüpft.
Man hat es hier mit einem recht bunten Müsli an Remakes, Adaptionen, Prequels, Sequels und so fort zu tun, die mit durchaus unterschiedlichen Mitteln Geschichten fortschreiben, welche zuvor in mehr oder minder klassisch gewordenen, aber stets erfolgreichen Disney-Animationsfilmen schon einmal vorkamen. Das einzig wirklich verbindende Element bei all diesen Disney-Remixes ist also der Rekurs auf bestehende Disney-IPs, auf „Intellectual Properties“; und das soll für die kleine Erkundung dieses Textes quer durch die komplexe Matrix von Kapitalismus, Politik und Ästhetik als Gemeinsamkeit zunächst genügen. Fangen wir einfach mal mit dem schnöden Geld an.

Kapitalismus
Die Neuverfilmung von „Lilo & Stitch“ (Dean Fleischer Camp, 2025) besetzte in den ersten Wochen nach ihrem Kinostart am 22. Mai 2025 drei Wochen den ersten Platz der Kinocharts, trotz so schwergewichtiger Konkurrenz wie „Mission: Impossible – The Final Reckoning“ (Christopher McQuarrie, 2025). Und während ein möglicher Grund dafür selbstverständlich sein kann, dass der Disney-Konzern durch seine schiere Größe Omnipräsenz für seine Produkte generieren kann (auch „Mufasa“ und „Schneewittchen“ standen im gleichen Jahr einige Wochen auf Platz 1), deutet all das doch darauf hin, dass die Existenz und Bekanntheit der IPs hier eine Rolle spielen. Speziell für „Lilo & Stitch“ kommt hinzu, dass das Original nun gerade mal 23 Jahre alt ist – also durchaus ein Film, den junge Eltern heute aus ihrer Kindheit noch kennen könnten.
Bis zum Aufstieg der Streaming-Dienste hatte Disney den Zugang zu vielen seiner klassischen Animationsfilme über den sogenannten „Disney Vault“ künstlich verknappt – wobei dies ursprünglich sogar eher für erhöhte Sichtbarkeit sorgte. Filme wie „Das Dschungelbuch“ (Wolfgang Reitherman, 1967) kamen etwa alle zehn Jahre wieder in die Kinos, wurden dafür aber für den Heimvideo-Markt nur in begrenzter Stückzahl auf den Markt gebracht.
Das hat sich mit Streaming deutlich verändert; dem Überangebot anderer Plattformen begegnet Disney+ mit einer grundsätzlich sehr großen Verfügbarkeit seiner Katalogtitel und vor allem der Klassiker. Damit eignen sie sich allerdings für die Neuvermarktung im Kino nicht mehr so sehr. Dagegen locken die Möglichkeiten der digitalen Technologien, die, seien wir da mal etwas kulturpessismistisch, auch stets wenigstens eine frisch glänzende Oberfläche vorweisen können und damit den Anreiz für neues Merchandising – neue, vielleicht auch nochmal leicht anders aussehende Figuren, Kinder-T-Shirts, Tassen und Attraktionen in den Disney-Parks (mit denen der Konzern inzwischen einen Großteil seines Geldes verdient).
Aus rein wirtschaftlicher Perspektive hat das zuletzt auch noch den Vorteil, dass man mit den bestehenden, bewährten IPs ein geringeres Risiko eingeht. Die Eltern, siehe oben, bringen ihre Kinder mit, das Marketing wird leichter, die erfolgreichen Namen ziehen allemal Publikum an. Und außerhalb der Marvel-Filme hat Disney sonst in den letzten Jahren keine wirklich erfolgreichen Realfilme fürs Kinder- und Familiensegment mehr in die Welt gesetzt – stattdessen vor allem Direct-to-Video oder -Disney+-Streifen.

Erzählungen und Politik
Wenn man der Hypothese folgen mag, dass die bekannten Geschichten aus wirtschaftlichen Sicherheitsgründen neu aufgenommen werden, so liegt auch die Vermutung nahe, dass sie möglichst wenig verändert würden, um die nostalgischen Bedürfnisse des Publikums nicht zu irritieren.
Diese Vermutung funktioniert immer dann unproblematisch, wenn der Animationsfilm tatsächlich weitgehend identisch nachgestellt wird, wie das etwa bei Favreaus „Der König der Löwen“ der Fall war, und in weiten Teilen bei „Die Schöne und das Biest“ (Bill Condon, 2017). Es ist kein Zufall, dass diese Behandlung zwei neueren Disney-„Klassikern“ aus den Jahren 1991 und 1994 widerfuhr.
In „Aladdin“ (Guy Ritchie, 2019) ist die Neuverfilmung dem Original (John Musker, Ron Clements, 1992) in Handlung und vor allem Dialogen deutlich weniger nah. Handlungslöcher werden gestopft, politische No-Gos entsorgt, die Welt insgesamt etwas mehr belebt und gefüllt. Das zielt darauf ab, ein wohlig-nostalgisches Gefühl der Sicherheit zu geben – die Handlung bleibt im Kern erhalten, vor allem beliebte Momente und Lieder werden wieder aufgenommen – und zugleich die Zuschauer*innen der Gegenwart nicht vor den Kopf zu stoßen. Denn in der nostalgischen Begeisterung für Filme der eigenen Kindheit werden die Disney-Klassiker eben nicht als historische Artefakte betrachtet, sondern durch eine verklärende Brille unvollständiger Erinnerung gesehen. Auf diese Weise wird vergessen oder ausgeblendet, dass „Dumbo“ (Ben Sharpsteen, 1941) stellenweise als Drogenrausch daherkommt oder dass „Peter Pan“ (Hamilton Luske, Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, 1953) nahezu unerträglich rassistische Darstellungen enthält.
Wie schwierig eine Modernisierung im Korsett der bestehenden Handlung sein kann, hat „Schneewittchen“ (Marc Webb, 2025) gezeigt. Denn obgleich der Disney-Klassiker aus dem Jahr 1937 wahrhaftig viele Qualitäten hat, war die zugrunde liegende Geschichte nicht sonderlich originell. Die 2025er-Adaption versucht sich nun durchaus mit einiger Konsequenz an einer neuen Idee, gar einer Politisierung des Märchens.
Im Ergebnis gibt es ein durch die Güte von Schneewittchens Vater fast kommunistisch organisiertes Königreich. Schneewittchens Revolte gegen die böse Stiefmutter wird immer wieder mit Bezug auf den benevolenten Übervater geführt; ihre Mutter verschwindet, weil schon länger tot, anscheinend aus dem Bewusstsein. Der wohlmeinende Patriarch wird dabei zur Heldenfigur, das Konzept der absoluten Herrschaft aber nicht in Frage gestellt.
„Schneewittchen“ scheitert freilich nicht nur daran, dass er mit seinen eigentlich zur Inspiration von Revolutionen geeigneten Ideen nichts Originelles anzufangen weiß, sondern auch an einer so schlampigen wie uninteressanten Inszenierung, grässlichen Dialogen und einer eindimensionalen und von Gal Gadot so dahingespielten Antagonistin.
Das ist vor allem deshalb schade, weil etwa „Cruella“ oder „Maleficent“ gezeigt haben, wie viel Funken sich auch aus bekannten Geschichten noch schlagen lassen, wenn man sie ein wenig respektlos behandelt und die Antagonistin zur Hauptfigur macht. Nicht nur, weil gebrochene Bösewichte fast immer interessanter sind als moralisch unangreifbare Heldinnen, sondern vor allem, weil die Geschichte so Luft zum Atmen bekommt, Freiraum für eine eigene Entwicklung jenseits ausgetretener Pfade.

Ästhetik
Um zu verstehen, was sich auf dem Weg vom Original zum Remix verschiebt, sind Szenen sehr ergiebig, die identisch übernommen wurden – mehr oder minder, und genau das interessiert dabei. Wer die Ballsaalszene in „Die Schöne und das Biest“ (Gary Trousdale, Kirk Wise, 1991) seinerzeit im Kino gesehen hat, wird womöglich noch in Erinnerung haben, wie atemberaubend die computerunterstützte „Kamerafahrt“ durch den Raum damals war.
Bill Condon kann natürlich 26 Jahre später nicht das gleiche Staunen hervorrufen, aber es fällt schon auf, wie hier in jedem Winkel des Ballsaals noch ein dekoratives Element auftaucht, der Stuck in Bewegung gerät, als ließe sich der Zauber allein durch die Addition möglichst vieler Effekte zustande bringen: Überwältigung durch Masse, nicht durch Einzigartigkeit.
Das ist keineswegs ein Zufall, sondern ein Muster: Die Sequenz, in der Strolch in „Susi und Strolch“ (Charlie Bean, 2019) eingeführt wird, ist ein einziges Wimmelbild, und das gleiche ist im „Aladdin“-Remix zu beobachten, wo der Titelheld nicht nur mit einzelnen Figuren interagiert, während er vor den Ordungshütern flieht, sondern durch Straßen voller Menschen und Gegenstände flieht.
Im direkten Vergleich mit den Trickfilm-Fassungen wird die Welt bis ins Detail ausgeleuchtet, fein ziseliert ausstaffiert und vorgezeigt. Fast möchte man sagen: Nichts soll mehr der Fantasie überlassen werden.
Gerade die alten Zeichentrickfilme überlassen viel der Imagination: Die Welten sind allein schon deshalb nicht mit Menschen gefüllt, weil handgezeichnete Figuren enormen Aufwand bedeuten; flächige Gesichter drücken mit nur wenigen Strichen Emotionen und Haltungen aus, erlauben aber auch Übertreibungen und Karikatur. Wie wohl im angedrohten Remix von „Rapunzel – Neu verföhnt“ die reichhaltige Mimik von Maximus, dem ausdrucksstarken Pferd, aussehen wird?
Die Umwandlung der Filme in fotorealistische Darstellungen scheint einem Bedürfnis nachzukommen, „realistisch“ wirkende Bilder zu erzeugen, und der Verdacht liegt nahe, dass irgendjemand irgendwo glaubt, diese seien den animierten Filmen auch ästhetisch überlegen.

Unverortet, unspezifisch und viel zu brav
Es darf, soll, muss fraglich bleiben, ob eine Art der Animation wirklich „besser“ ist als die andere. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass die Neuerzählung einer bekannten Geschichte in anderer ästhetischer Gestalt, vor dem Hintergrund auch ganz anderer wirtschaftlicher wie technischer Produktionsbedingungen, wahrscheinlich scheitern wird, wenn sie nicht auch etwas über die Zeit zu sagen weiß, in der sie entstanden ist.
„Fotorealistisches“ CGI erzeugt nicht einfach „Realismus“ oder auch nur besondere Glaubwürdigkeit: Favreaus „Der König der Löwen“ hat sich in all seiner CGI-Glorie Protagonist*innen auferlegt, die weit weniger ausdrucksstark sind als die gezeichneten Tiere aus Roger Allers’ und Rob Minkoffs Original aus dem Jahr 1994: Die Animation passt nicht zur Geschichte.
Das alles weckt den starken Verdacht, als fehle es den Verantwortlichen bei Disney, von den Entscheidungsträger*innen weit oben bis hin zu den meisten Filmemacher*innen (soweit diese da noch ein Wort mitreden dürfen) an Vertrauen in die Kraft ihrer Kunstwerke, vor allem aber in die Kraft und Eigenheiten unterschiedlicher Animationstechniken. Denn dem Fotorealismus fehlt das Anarchische, das Zeichentrick und auch gut gemachte, reine CGI-Animation möglich machen können, die Übertreibungen, die Dehnungen der physischen Realität, wie es zum Beispiel auch „Ein Königreich für ein Lama“ (Mark Dindal, 2000) vorführt.
Zugleich ist das nicht untypisch: Disney ist schon in so vielen Fällen das brave, langweiligere unter den Animationshäusern gewesen. „Familienfreundlich“ soll das meist sein. Und auch wenn das manchmal ästhetische Brillanz hervorbringt, kann es halt auch schnell ins Fad-Gefälllige kippen.
Die CGI-getriebenen reinen Remixe sollen, der Eindruck verstärkt sich mit jedem neuen Versuch, im Gedächtnis des Publikums – auf jeden Fall der jungen Zuschauer*innen – den Platz des Originals einnehmen. Zugleich können sie sich aber, dafür sorgt mindestens das aus nostalgischen Gründen verordnete Korsett der Ähnlichkeit, nie davon lösen, nicht das Original zu sein, und bleiben immer nur Abklatsch.
Nie können sie die Frage beantworten, warum es sie überhaupt gibt. Warum müssen oder auch nur können wir diesen Film sehen, wo es doch schon ein Original gibt? Wie Pinocchio (dessen Remake von Robert Zemeckis aus dem Jahr 2022 dann auch wirklich besonders furchtbar geriet) möchten sie ein richtiger Junge sein, sind aber doch nur die CGI-Puppe, deren Herz nicht wirklich zu schlagen beginnt.