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Hintergrund | | von Natália Wiedmann

Auf zu neuen Ufern

Sind queere Figuren endlich im Jugendfilm-Mainstream angekommen?

Wer Mitte März 2018 in Portland (Oregon) unterwegs war, der kam im Innenstadtbereich an einer unübersehbar großen Reklamefläche vorbei: „Dear Portland, I hear this is the place to find some good hot Joe. Love, Simon.“ Stimmt natürlich, Portland ist schließlich bekannt für seine Kaffeekultur, da findet man sicherlich eine gute heiße Tasse des Koffeingetränks (oder eben: „cup of Joe“) – und in der großen queeren Szene Portlands ließe sich bestimmt auch ein heißer Joe für Simon auftreiben. Auch in anderen amerikanischen Großstädten wiesen große Plakate mit individualisierten Werbesprüchen auf Simons „Coming Out“ zum US-Kinostart der Adaption von Becky Albertallis Jugendbuch hin: In New York etwa zollte Simon Sinatras berühmtestem Song Tribut („If I can come out here, I can come out anywhere“) und in der Hauptstadt der queeren US-Szene verkündet Simon, so „straight“ zu sein wie San Franciscos kurvenreiche „Lombard Street“. Dies ist es wert, so ausführlich erzählt zu werden, weil die Aufmerksamkeit, die dem Jugendfilm „Love, Simon“ zuteil wurde, nicht allein daher rührt, was der Film erzählt, sondern von wem er erzählt wird und wie: „Love, Simon“ wird als der erste Mainstreamfilm über einen schwulen Teenager gehandelt, der von einem großen Hollywoodstudio produziert wurde.

Go big or go home

Love, Simon (c) Fox

Simons Leben wäre beinahe zu langweilig für einen Film: Er sieht gut aus, hat verständnisvolle Eltern, tolle Freunde und wächst in einem behüteten, liberalen Umfeld auf. Trotzdem hat er noch niemandem davon erzählt, dass er schwul ist – außer einem unbekannten Schüler seiner Highschool: Unter Pseudonymen beginnen die beiden einen regen Austausch von E-Mails. Zum ersten Mal kann Simon offen über seine Gefühle sprechen und verliebt sich in den Schreibpartner.

„Go big or go home“, rät Simon einem Schulkameraden an einer Stelle des Films, und das scheint in etwa auch die Marketingstrategie von 20th Century Fox gewesen zu sein: Neben Kino- und Fernsehtrailern und der beschriebenen Außenwerbung setzte der Verleih auf eine intensive digitale Kampagne, organisierte zahlreiche Sondervorführungen und startete den Film mit einer hohen Kopienanzahl. Das Produktionsbudget betrug 17 Millionen US-Dollar und nicht nur die erwachsenen Figuren sind prominent besetzt – Jennifer Garner und Josh Duhamel treten als Simons Eltern auf – sondern auch die jugendlichen Protagonist*innen sind bereits aus anderen populären Jugendproduktionen bekannt: Simon-Darsteller Nick Robinson etwa war nicht nur in der charmanten Indiekomödie „Kings of Summer“ zu sehen, sondern unter anderem auch im Blockbuster „Jurassic World“ oder im Teenagerdrama „Du neben mir“ und Katherine Langford wird man auf ewig als Hannah Baker aus „Tote Mädchen lügen nicht“ in Erinnerung behalten. Die Rechnung ging auf: Laut „Box Office Mojo“ hat „Love, Simon“ weltweit über 66 Millionen US-Dollar eingespielt. Wo ein Markt ist, da ist eben auch ein Weg, und Fox hat diesen Weg zum Teen-Romance-Ufer des Mainstreams nun erfolgreich beschritten.

Diesbezügliche Versuche in Deutschland fielen gemischt aus – und dies lag keineswegs an der Qualität der Filme. Trotz der Sommerbilder und des Humors, trotz des Happy Ends und des damaligen Jungstars Robert Stadlober wurde aus dem „Sommersturm“ im Jahr 2004 kein Sommerhit, und blickt man auf die Besucher*innenzahlen, kam die äußerst gelungene Romanadaption „Die Mitte der Welt“ (2016) auch nicht so recht in der Mitte der Gesellschaft an. Besser erging es „Tschick“ (2006), aber die sexuelle Orientierung des Titelhelden kommt auch nur in einer einzigen Szene zur Sprache und spielt ansonsten kaum eine Rolle – was irgendwie ja auch das Schöne am Film ist, weil das Coming-Out nicht als narratives Problem herhalten muss. Ähnlich verhält es sich in „Die Mitte der Welt“. Weder der schwule Protagonist noch sein Umfeld hadern mit dessen sexueller Orientierung, sie ist eine Selbstverständlichkeit – die Probleme liegen anderswo. Nicht nur darin ist „Die Mitte der Welt“ als Versuch, die Geschichte eines schwulen Teenagers für ein breites Publikum zu erzählen, deutlich progressiver als vergleichbare Filme. So integriert die Inszenierung Momente von „Camp-Ästhetik“ und erweist durch den Einsatz bewusst artifizieller, überstilisierter Aufnahmen wie etwa des Protagonisten in einem Goldregen einer ästhetischen Spielart des queeren Kinos Referenz.

Erfreulicherweise schreckt der Film zudem nicht davor zurück, auch die körperliche Nähe zwischen der Hauptfigur und ihrem Freund mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu zeigen, wie das Publikum es von heterosexuellen Beziehungen gewohnt ist. Verglichen damit muss es einen trotz aller Begeisterung für den charmanten Film doch traurig stimmen, dass die in der Vorlage zumindest in Ansätzen vorhandene Körperlichkeit in „Love, Simon“ komplett zurückgefahren wurde und ein Kuss das Äußerste ist, was dem schwulen Paar am Ende zugestanden wird. Aber immerhin gewann dieser Kuss bei den MTV Movie & TV Awards 2018 den Preis für den besten Kuss des Jahres.

Der Mainstream-Weg zum anderen Ufer

"Die Mitte der Welt" (c) Universum Film

Die Desexualisierung schwuler Figuren ist eines der typischen Merkmale, die Barbara Mennel in ihrem Einführungswerk zu „Queer Cinema“ für US-Filme wie „Philadelphia“ (1993) oder „In & Out“ (1997) benennt, die in den 1990er-Jahren ein Mainstreaming des queeren Kinos betrieben. Als weitere Merkmale nennt die Autorin die Besetzung schwuler Figuren mit Schauspielern, die bekanntermaßen heterosexuell sind, eine Depolitisierung der Inhalte und den Rückgriff auf etablierte Genremuster und ästhetische Konventionen. Das trifft weitestgehend alles auch auf den ziemlich konventionell erzählten „Love, Simon“ zu, der letztlich nur die erfolgreiche Formel einer realitätsenthobenen Feelgood-RomCom in Hochglanzoptik variiert, inklusive prominentem Cast, einprägsamen One-Linern und Happy End. Aber warum sollten diese Popcorn-Filme den Heterofiguren vorbehalten bleiben?

Gerade weil „Love, Simon“ so leicht zugänglich ist und ein größeres Publikum erreicht als die anspruchsvolleren Indie-Schwestern und -Brüder, ist der Film ein toller Ausgangspunkt für Gespräche, wie etwa einige Kurzinterviews im Magazin „The Cut“ zeigen, in denen queere Jugendliche davon erzählen, wie sie den Film wahrgenommen haben. Zudem ist Hauptdarsteller Nick Robinson zwar „bekanntermaßen heterosexuell“, Regisseur Greg Berlanti jedoch nicht, und auch einer der jugendlichen Darsteller des Films outete sich nach Abschluss der Dreharbeiten öffentlich als bisexuell und nutzte die Aufmerksamkeit für den Film, um die Schwierigkeiten queerer Jugendlicher zu thematisieren.

Einen augenfälligen Bruch mit den genannten „Mainstreaming“-Strategien bildete zudem die bereits beschriebene Marketingkampagne, die die Homosexualität der Hauptfigur nicht heruntergespielt, sondern ins Zentrum gestellt hat und als positiv besetztes Werbemittel nutzte. Damit bedient sich „Love, Simon“ nicht nur etablierter „Mainstreamingmuster“ von queeren Inhalten, sondern repräsentiert zugleich eine Weiterentwicklung dieser Strategien.

Eine veränderte Film- und Buchlandschaft

Das Wagnis einer hoch budgetierten „gay teen romance“ wäre aber wohl nicht eingegangen worden und die besten „Mainstreaming“- und Marketingstrategien hätten wohl keinen Erfolg garantiert, wäre „Love, Simon“ nicht auf einen veränderten – man könnte auch sagen: vorbereiteten – Markt getroffen. Die gewachsene Akzeptanz von Filmen mit queeren Figuren zeigte sich etwa bei jenen Filmen über homosexuelle Heranwachsende, die in den Jahren 2016 und 2017 für Furore sorgten: Barry Jenkins „Moonlight“ (8 Oscarnominierungen, 3 Auszeichnungen) und Luca Guadagninos „Call Me By Your Name“ (4 Oscarnominierungen, eine Auszeichnung). Beide Filme waren nicht nur Kritikerlieblinge, sondern erzielten auch gute Einspielergebnisse, insbesondere gemessen an den eher geringen Produktionsbudgets. „Love, Simon“ steht auf den Schultern solcher Arthouse-Riesen und den Schultern vieler weiterer kleiner und großer Produktionen, die das Interesse des Kinopublikums an queeren Figuren geweckt, genährt oder schlicht bezeugt haben.

Neben einem schwulen Heranwachsenden im Zentrum der Erzählung haben „Call Me By Your Name“ und „Love, Simon“ noch eine weitere Gemeinsamkeit: Wie „Tschick“ und „Die Mitte der Welt“ basieren sie auf einem Roman, wobei die Vorlage von „Love, Simon“ die jüngste Leserschaft anvisiert. Die Adaption hat die Buchverkäufe noch einmal kräftig angekurbelt, aber schon davor erfreute sich „Simon vs. The Homo-Sapiens Agenda“ (auf deutsch unter dem etwas langweiligen Titel „Nur drei Worte“ erschienen) bei jungen Leser*innen großer Beliebtheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese in ihren Jugendbüchern auf queere Figuren stoßen, auch ohne gezielt nach ihnen zu suchen, ist besonders in den 2010er-Jahren deutlich angestiegen: Die Diversität der porträtierten Figuren steigt auf dem Jugendbuchmarkt seit Jahren an, wobei sich ein Trend zu Geschichten mit LGBTQ-Figuren ausmachen lässt, die sich nicht mehr primär um ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität drehen und nicht mehr ausschließlich problemzentriert sind. Becky Albertallis leichte Teenagerlektüre mit ihren hippen Figuren ist also keine Ausnahmeerscheinung. Ein Blick auf die Träger des Deutschen Jugendliteraturpreises zeigt exemplarisch auf, dass außerdem immer mehr Bücher mit queerem Content prestigeträchtige Auszeichnungen erhalten. Der Filmmarkt kann von der (neuen) Fülle dieser Stoffe ebenso profitieren wie vom wachsenden Kreis der Interessent*innen.

Call Me By Your Name (c) Sony

Mangelnde Vorbilder

Bei aller Freude über die positiven Entwicklungen darf allerdings nicht vergessen werden, dass für Jugendfilme mit queeren Figuren leider dasselbe gilt wie für Filme generell: dass es für Zuschauerinnen ein deutlich kleineres Spektrum an Identifikationsangeboten gibt. Noch schmaler ist das Angebot, wenn man nach Figuren sucht, die inter- oder transident sind.

Bei Fernsehserien ist es leichter, einige positive Rollenvorbilder für weibliche Jugendliche zu benennen, die sich in heteronormativen Coming-of-Age-Erzählungen nicht wiederfinden. Im Kino gibt es diese auch, aber man muss schon deutlich mehr Mühe auf die Suche aufwenden, ein filmisches Pendant zu „Love, Simon“ steht noch aus. „Blau ist eine warme Farbe“ (2013) reüssierte zwar bei den Kritiker*innen, aber nicht so sehr an den Kinokassen. Und auch wenn Hauptfigur Adèle zumindest am Anfang noch eine Jugendliche ist und zur Schule geht, erzählt der Film doch überwiegend das Beziehungsdrama zweier Erwachsener und schließt mit seiner Kontrastierung zweier sozialer Milieus nicht unbedingt an typische Interessensfelder Heranwachsender an. Zudem ist der Film aufgrund seiner langen und expliziten Sexszenen (die in queeren Kreisen kontrovers diskutiert wurden) für jüngere Teenager eher ungeeignet.

Vielleicht gelingt es Becky Albertalli ja noch einmal, Abhilfe zu schaffen: Ihre Ende April veröffentlichte Fortsetzung zu „Simon vs. The Homo-Sapiens Agenda“, die Simons Freundin Leah in den Mittelpunkt stellt, ist immerhin in der New York Times-Bestseller-Liste der Jugendbücher gelandet. Das hat wohl weniger mit der Qualität des Buches als mit dem kommerziellen Erfolg von „Love, Simon“ zu tun, aber eben diese Hoffnung verbindet sich nun gerade mit dem Film: dass er als „mainstream gay teen romance“ hoffentlich keinen Endpunkt einer Entwicklung markiert, sondern nur ein besonders gut sichtbares Ausrufezeichen, das die allgemeine Aufmerksamkeit für die Repräsentation von LGBTIQ-Charakteren in Jugendbüchern und Jugendfilmen weckt.

Noch viel wichtiger ist aber, angesichts der schönen „Love, Simon“-Wohlfühlfilmwelt nicht zu vergessen, dass die Lebensrealität für viele queere Menschen eine völlig andere ist. Auch in Deutschland hat die Zahl der homophoben Straftaten in den vergangenen Jahren nicht etwa ab-, sondern sogar zugenommen. Es ist toll, wenn Mainstream-Produktionen es schaffen, jene Zuschauer*innen zu erreichen, die bislang zu queeren Themen noch keinen Zugang gefunden haben. Aber die herzzerreißenden, schroffen, sperrigen, herausfordernden, schrägen, schmerzenden, verstörenden und genau beobachtenden Indieproduktionen, die uns nicht in Watte packen, sondern beharrlich den Finger in die Wunden legen, all diese brauchen wir weiterhin so bitter nötig wie bisher.

Natália Wiedmann

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