Hintergrund | | von Holger Twele
Am Anfang war der Wal
Fokus Neuseeland beim „Schlingel“ 2024
Neuseeland gilt nicht gerade als Hochburg für die Produktion von Kinder- und Jugendfilmen. Dennoch sind im Laufe der Jahre immer wieder herausragende einschlägige Filme entstanden. Mit insgesamt zehn Filmen, darunter vier aktuellen Produktionen, gab das Internationale Festival für Kinder und junges Publikum „Schlingel“ in seiner 29. Ausgabe einen kleinen Einblick in die Filmkultur von „Down Under“ der letzten drei Jahrzehnte.
Der in Koproduktion mit Deutschland entstandene Film „Whale Rider“ von Niki Caro brachte 2002 den internationalen Durchbruch, obwohl bereits einige Jahre zuvor „Der letzte Mond“ von Ian Mune (1997) über einen 17-jährigen an Knochenkrebs erkrankten Speed-Skater den Beweis erbrachte, dass Neuseeland vor schwierigen Themen nicht zurückschreckt – und dort Filme entstehen, die ganz anders sind als jene aus Europa oder den USA.
Zum Teil liegt das auch daran, dass die Maori, die indigene Bevölkerung Neuseelands, eine (stets bedrohte) eigenständige Kultur besitzen, die sich auch unmittelbar in der Filmproduktion spiegelt. Geradezu exemplarisch ist das in „Die letzte Kriegerin“ von Lee Tamahori aus dem Jahr 1994, der in deutschen Programmkinos großen Erfolg hatte. Dieser Erfolg setzte sich einige Jahre mit dem Coming-of-Age-Film „Whale Rider“ fort, mit einer auch in visueller Hinsicht atemberaubenden, bahnbrechenden Geschichte, die man so noch nie im Kino gesehen hatte. Die zwölfjährige Paikea, deren Mutter bei ihrer Geburt starb, will Nachfolgerin des legendären Stammesgründers werden, der einst auf dem Rücken eines Wales von Hawaii nach Neuseeland kam. Ihr Großvater, das gegenwärtige Stammesoberhaupt, ist jedoch strikt dagegen, denn er ist der festen Überzeugung, dass diese Rolle traditionell nur einem Jungen zusteht. Auch in ihrem Vater findet Paikea zunächst keinen Verbündeten, zumal er seine Tochter für den Tod seiner Frau verantwortlich macht. Gegen alle Widerstände und den Einsatz ihres Lebens verliert Paikea ihr Ziel jedoch unerschütterlich nie aus den Augen.
Aus der Wildnis aufs Rugby-Feld
In nahezu allen weiteren Filmen spielen Angehörige der Maori eine Rolle, insbesondere in „Wo die wilden Menschen jagen“ von Taika Waititi aus dem Jahr 2016. Hier kommt der Waisenjunge Ricky in eine neue Pflegefamilie – inmitten der Wildnis und ohne Handyempfang. Obwohl das für den Zehnjährigen zunächst eine Zumutung ist, findet er alsbald Gefallen an dem ungebundenen freien Leben, bis ein Unglück geschieht und Ricky gezwungen ist, allein mit seinem Pflegevater zu fliehen und in der Wildnis zu überleben.
Der Hauptdarsteller dieses Films, Julian Dennison, ist sieben Jahre später erneut in einer Hauptrolle zu sehen, diesmal in „Uproar“ (2023) von Paul Middleditch und Hamish Bennett. Der Film blendet zurück in das Jahr 1981, als Neuseeland wegen der Tour der südafrikanischen Rugby-Nationalmannschaft Springboks in Aufruhr geriet und große Teile der Bevölkerung auf die Straße gingen, um gegen die rassistische Apartheidpolitik in Südafrika zu protestieren. Der 17-jährige Außenseiter Josh, der mit seiner aus England stammenden Mutter und dem älteren Bruder zusammenlebt, möchte dagegen um keinen Preis auffallen. Eher widerwillig spielt er auf Betreiben der Mutter trotz seiner Kurzsichtigkeit und Körperfülle in der angesehenen Rugby-Mannschaft der Schule mit. Diese ist ganz auf britische Traditionen bedacht. Sie duldet in ihren Mauern keinerlei Aufruhr und beachtet die ethnische Minderheit im Land nur dann, wenn das zum eigenen Vorteil gereicht. Das zurückgezogene Leben für Josh ändert sich erst, als er plötzlich seine Leidenschaft für die Schauspielerei entdeckt. Er beginnt, sich gegen die Ungerechtigkeiten und rassistischen Vorurteile in seinem Lebensumfeld zu wehren und begibt sich auf die Suche nach seinen Wurzeln als Maori und seiner Identität. Geschickt verbindet der Film eine Coming-of-Age-Geschichte mit den damaligen gesellschaftlichen Ereignissen, die gleichwohl eine Brücke in die politische Gegenwart schlagen können. Obwohl der stärkste Film unter den vier Neuvorstellungen aus Neuseeland, ging er bei der Preisverleihung als einziger leer aus. Wirklich schade!
Erschütternder Blick in die Vergangenheit
Besonders gut angenommen und mehrfach ausgezeichnet wurde „We Were Dangerous“ (2024), der Debütspielfilm von Josephine Stewart-Te Whiu. Auch dieses Werk blendet zurück in die Vergangenheit, in die 1950er Jahre. Unangepasste und rebellische minderjährige Frauen, darunter Maori und Queere, wurden damals in Neuseeland in von der Außenwelt abgeschnittene Heime gesteckt, um sie nach den Werten der ehemaligen britischen Kolonialmacht zu gehorsamen, gläubigen christlichen Frauen zu erziehen, die in der Ehe ihre Mutterrolle ausfüllen und der Gesellschaft nicht weiter zur Last fallen. Darunter befinden sich auch die Teenager Nellie und Daisy, die in eine Anstalt für straffällige Mädchen auf eine einsame Insel geschickt werden, eine ehemalige Lepra-Kolonie. Dort treffen sie auf das Pakeha-Mädchen Lou, das von ihren wohlhabenden Eltern in die Erziehungsanstalt gesteckt worden ist, um ihren eigensinnigen Willen zu brechen. Zu dritt planen sie nach etlichen Demütigungen die Flucht von der Insel.
Ähnliche Erziehungsanstalten, auch für Jungen, gab es damals in vielen Teilen der Welt, darunter in Australien, in Deutschland oder in Großbritannien. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten sind solche mehr als fragwürdigen Erziehungspraktiken in der Öffentlichkeit bekannt geworden, nicht zuletzt durch Filme wie etwa „Long Walk Home“ (Phillip Noyce, 2002), „Die unbarmherzigen Schwestern“ (Peter Mullan, 2002) oder „Freistatt“ (Marc Brummund, 2015). Überzeugend ist dank guter Leistungen der Schauspielerinnen auch „We Were Dangerous“, wobei er an die dramaturgische und emotionale Dichte seiner Vorgänger nicht ganz heranreicht. Das kann auch daran liegen, dass die Schikanen hier nicht ganz so brutal ausfallen beziehungsweise nur ansatzweise ins Bild rücken und die Darstellerinnen schon eher wie junge Erwachsene und nicht mehr wie schutzbefohlene Minderjährige wirken.
Ausgetretene und neue Erzählpfade
Rachel House setzt in ihrem Abenteuerfilm „The Mountain“ (2024), der in Neuseeland mehr als 750.000 Zuschauer*innen erreichte, ebenfalls auf bereits eher bekannte Topoi und Erzählmuster. Sie verbindet das Motiv eines an Krebs erkrankten Kindes mit dem einer Initiationsreise auf einen nebelverhangenen Berg, der für drei Kinder zur Bewährungsprobe wird. Im Mittelpunkt steht die elfjährige Sam, die im Krankenhaus gegen Krebs behandelt wird. Ihr größter Traum ist es, den Berg Taranaki zu besteigen. Denn sie glaubt, von ihm abzustammen und überleben zu können, wenn sie es auf den Gipfel schafft und dem Berg ihren Respekt zollt. Eine Freundin hilft ihr dabei, unbemerkt aus dem Krankenhaus zu entkommen. Auf ihrer gefahrvollen Reise begegnet Sam dem Jungen Mallory, dessen Mutter an Krebs gestorben ist, und der ihr zu Ehren ebenfalls auf den Berg möchte. Mallorys Nachbar Bronco stößt mit seinem Fahrrad als dritter im Bunde dazu, denn er hofft, als Umweltschützer den Berg von seinem Müll befreien zu können. Von dichtem Nebel umhüllt, der die alarmierten Eltern abhält, ihre Kinder in einem entscheidenden Moment einzuholen, kommen diese ihrem Ziel immer näher. Es scheint jedoch, dass der Weg das eigentliche Ziel ist.
Wirklich neue Erzählpfade beschreitet der Film „Bücherwurm“ (2024) von Ant Timpson, der vom Festival ab zehn Jahren empfohlen wurde und damit der einzige „echte“ Kinderfilm in der aktuellen Reihe ist. Die problematische Vater-Tochter-Geschichte spielt inmitten der unberührten und grandios ins Bild gerückten Natur Neuseelands, wobei die elfjährige Mildred als Hauptfigur alles andere als durchschnittlich ist. Nahezu ihr gesamtes Wissen, das eher dem eines erwachsenen Studierenden als eines jungen Mädchens entspricht, hat Mildred aus Büchern bezogen. Der Film wird zu einer Art Experiment für sie, ob ein solches Wissen auch der Realität standhalten könnte.
Nachdem ihre Mutter durch einen Unfall ins Koma gefallen ist, taucht plötzlich der Vater von Mildred auf, ein Illusionist und Zauberkünstler, der die Familie kurz nach der Geburt der Tochter verlassen hatte. Nun steht er vor der Tür und möchte sich um seine Tochter kümmern, was diese ihm nicht abnimmt. Da sie aber davon träumt, den mit einem hohen Preisgeld bedachten Beweis für die Existenz des schwarzen Canterbury-Panthers erbringen zu können, um die Schulden der Mutter zu tilgen, überredet sie den fremden Vater zu einem Campingausflug in die bergige Wildnis. Der willigt leichtfertig ein und muss schnell feststellen, dass ihm die Tochter zumindest an angelesener Erfahrung weit überlegen ist. Die vorsichtige Annäherung zwischen Vater und Tochter findet ein vorläufiges Ende durch die Begegnung mit Wegelagerern, wobei sich der Vater als Hasenfuß erweist. Aber das ist zum Glück nicht das Ende dieser etwas unglaubwürdigen, aber dennoch berührenden und sogar faszinierenden Geschichte, die einmal mehr den Beweis erbringt, dass in Neuseeland weiterhin außergewöhnliche Filme für ein junges Publikum entstehen, die in Deutschland nahezu undenkbar sind.