Hintergrund | | von Holger Twele
Achtung, Respekt und Vertrauen
Céline Sciamma und ihre Bedeutung für den Kinder- und Jugendfilm
Mit fünf Regiearbeiten sowie als Drehbuchautorin ist Céline Sciamma im Laufe der letzten Jahre zu einer wichtigen Stimme des französischen Kinos geworden. Besonders bemerkenswert ist dabei, wie sensibel sie sich den Geschichten junger Mädchen und Frauen widmet und auch schwierige Themen in einprägsame Bilder zu übersetzen versteht. Ein Rückblick auf das Werk von Céline Sciamma anlässlich der Aufführung ihres jüngsten Films „Petite Maman‟ im Wettbewerb der Berlinale 2021.
Viele Filmschaffende müssen sich ihre internationale Anerkennung erst hart erkämpfen. Das gilt insbesondere bei Filmen, in denen Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt stehen. Einschlägige Debütwerke werden nicht selten als „Fingerübungen“ abgetan, wobei die filmische Reife und die persönliche Handschrift sich angeblich erst später entwickeln. Die französische Autorin und Regisseurin Céline Sciamma, geboren am 12. November 1980 in Pontoise im Département Val-d‘Oise, hatte mehr Glück. Gleich von Anfang an war sie mit ihren Filmen regelmäßig auf den Festivals von Cannes und Berlin zu Gast. Und auch wenn die Absolventin der Pariser Filmhochschule La Fémis dafür bekannt ist, dass ihre Werke besonders einfühlsam um junge Mädchen und Frauen kreisen, kindliche Ängste aufgreifen oder die Suche nach nicht nur sexueller Identität und die oft harten Reibungsflächen mit der Welt der Erwachsenen thematisieren – in eine Schablone pressen oder in eine Schublade stecken lässt sie sich deswegen nicht.
Sexuelle Identitätsfindung
Gleich ihr erster Spielfilm „Water Lilies‟ (2007) über drei Mädchen um die 15 auf ihrer Suche nach Freundschaft, Liebe, sexueller Identität und dem „ersten Mal“ wurde auf das Festival in Cannes eingeladen und gewann später international mehrere Preise. In Deutschland lief der Film unter dem TV-Titel „Unter Wasser, über Kopf“. Die Hauptfigur Florence, verkörpert von der damals 18-jährigen Schauspielerin Adèle Haenel, gerät mit ihrer besten und etwas chaotischen Freundin Anne in Konflikt, als diese sich plötzlich für einen Jungen interessiert und mit ihm das erste Mal erleben möchte. In dem einfühlsamen, ganz aus der Perspektive der Mädchen erzählten und wunderschön fotografieren Film bleiben die Jungen eher farblos und reine Staffage. Das eigentliche Spannungsverhältnis entsteht zwischen drei Frauen, nachdem Florence Marie, die großgewachsene blonde Teamleiterin eines Wasserballetts, kennenlernt und sich in diese verliebt. Marie eilt der Ruf einer Schlampe voraus, nur weil sie sich bereits mit mehreren Jungen getroffen, gleichwohl aber nicht mit ihnen geschlafen hat. Der Bewunderung und Zuneigung von Florence kann und möchte Marie nicht widerstehen und eine echte Beziehung zwischen den beiden scheint greifbar nahe. Am Ende sind alle drei Frauen zwar um etliche Erfahrungen, aber auch um einige Enttäuschungen reicher.
Dem Thema der sexuellen Identitätsfindung bei Heranwachsenden gewann Céline Sciamma in ihrem zweiten Spielfilm „Tomboy“ (2011) überraschend neue Facetten ab anhand eines Mädchens, das sehr jungenhaft wirkt und viel lieber ein Junge als ein Mädchen sein will. Solche Mädchen werden als Tomboy bezeichnet. Die zehnjährige Laure mit Kurzhaarschnitt und schlanker Taille, die in den Sommerferien mit ihren Eltern gerade umgezogen ist, nutzt die Gunst der Stunde. Sie gibt sich gegenüber dem neuen Nachbarkind Lisa als Michaël aus und spielt mit den Jungen Fußball. Sie ahmt diese in ihren Gesten und Verhaltensweisen nach, etwa indem sie kräftig auf den Boden spuckt, rauft sich mit den anderen Jungen und übertrumpft so manchen von ihnen im Wettstreit. Das imponiert Lisa, zumal sich Michaël zugleich als besonders sensibler Typ erweist. Dank der Knetmasse in den Spielsachen der sechsjährigen Schwester Jeanne fällt das Spiel mit falschen Identitäten nicht einmal im Schwimmbad auf. Doch bald beginnt die Schule wieder und spätestens dann muss Laure offenbaren, wer sie wirklich ist. Ein Kleinod von einem Film, der mit minimalem Budget und einer Canon-Fotokamera gedreht wurde. Alle drei genannten Kinder spielen vollkommen authentisch, fast wie in einem Dokumentarfilm. Zoé Heran in der Rolle von Laure beziehungsweise Michaël wusste zudem über ihre Tomboy-Ausstrahlung, die rein gar nichts über die weitere Entwicklung aussagt, schon vorher genau Bescheid. Viele Nebenrollen wurden sogar mit ihren Freund*innen aus dem wahren Leben besetzt. Seine Intensität erhält der Film nicht zuletzt durch das zarte klare Gesicht der Hauptdarstellerin, die in vielen Groß- und Nahaufnahmen zu sehen ist. Die Beziehung zur kleinen Schwester, die explizit biografische Bezüge zur Regisseurin aufweist, ist von Achtung und Respekt getragen, was sich auch in Sciammas Umgang mit Kindern insgesamt niederschlägt.
Familiäre Beziehungen gewinnen an Bedeutung
Teenager, die Céline Sciamma in der Métro oder in Einkaufszentren beobachtete, inspirierten sie zu ihrem dritten Film „Bande de filles“ (2014), eine Coming of Age-Geschichte mit vier jungen Frauen, die in der Banlieue von Paris aufgewachsen sind. Sie werden ausnahmslos von Laiendarstellerinnen verkörpert. Familiäre Beziehungen, die in ihrem ersten Film keine Rolle spielten und im zweiten die Orientierung der Kinder kommentierten, rücken hier stärker in den Fokus und beeinflussen alle späteren Werke. Das betrifft vor allem die Mütter, auch (positive) Vaterfiguren wird es später geben. Im Leben der 16-jährigen Marieme gibt es ihn noch nicht. Die Mutter arbeitet als Putzfrau, ihr älterer Bruder Djibril diktiert das Leben seiner drei jüngeren Schwestern, überwacht sie und kommandiert herum wie die anderen Jungen des Viertels. Durch schulische Misserfolge gerade an einem Tiefpunkt angelangt, lernt Marieme eine coole Mädchengang mit ihrer Anführerin Lady kennen, die genau das unabhängige Leben führt, von dem sie bisher nur träumen konnte. Sie wird als viertes Mitglied aufgenommen, nennt sich fortan Vic(toire), genießt das Leben in vollen Zügen und verliebt sich heimlich in den Freund ihres Bruders. Rivalisierende Gangs, zweifelhafte Anwerbungsversuche aus der Drogenszene und ihr Bruder machen alle Zukunftsperspektiven wieder zunichte. Und obwohl ihr Freund zu ihr hält und sie sogar heiraten möchte, weiß sie inzwischen, dass sie von nun an kein „gutes Mädchen“ mehr sein will.
Von der Regisseurin zur Drehbuchautorin
Nach diesem Film arbeitete Sciamma zunächst an Drehbüchern. Das gemeinsam mit André Téchiné entwickelte Buch für seinen auf der Berlinale gezeigten Film „Mit Siebzehn“ (2016) konzentriert sich auf spätpubertäre männliche Jugendliche im Testosteron-Stress beziehungsweise auf Konflikte zwischen dem 17-jährigen Sohn einer Landärztin und dem Adoptivsohn einer Bergbäuerin mit maghrebinischen Wurzeln. Zwei Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft, die vorübergehend plötzlich unter einem Dach leben und sich in ganz wörtlicher Bedeutung zusammenraufen müssen. Wie die Mütter der beiden damit zurechtkommen, ist wesentlicher Bestandteil des Films, wobei die Vermutung naheliegt, dass Céline Sciamma gerade diesen Aspekt mit Leben erfüllt hat. Sie schrieb auch das Drehbuch für den Puppen-Animationsfilm „Mein Leben als Zucchini“ (2016) von Claude Barras, in dem alles miteinander verwoben und neu durchmischt wird, was in ihrem filmischen und biografischen Kosmos bisher relevant war.
Die alleinstehende Mutter des neunjährigen Icare benannte ihren Sohn nach dieser Gemüsesorte, was ihre nicht gerade liebevolle Beziehung zu ihrem Kind unterstreicht. Nach ihrem tragischen Tod, an dem Icare nicht schuldig, aber auch nicht unbeteiligt war, wird er in ein Waisenhaus gesteckt. Zu seiner eigenen Überraschung sind die anderen Kinder ihm gegenüber fast alle sehr nett, wobei sie selbst in ihren Familien oft noch Schlimmeres erfahren haben als er selbst. Besonders der Neuzugang Camille hat es Icare angetan. Als Camille von ihrer selbstsüchtigen Tante wieder abgeholt wird, wollen er und die anderen Kinder das solidarisch verhindern. Die Botschaft der auch als Kinderfilm preisgekrönten Stop-Motion-Animation ist eindeutig. Sogar tiefe Wunden, die im familiären Kontext entstanden sind, lassen sich heilen, falls die Kinder ein offenes Ohr für ihre Probleme, Verständnis und Fürsprache finden. Das Gefühl von Geborgenheit kann sich sowohl in einer neuen Familie als auch im Waisenhaus einstellen, vorausgesetzt, die Erwachsenen bereiten den Boden dafür.
In die Vergangenheit
Nur auf den ersten Blick scheint Sciammas vierter Spielfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019) aus den bisherigen Arbeiten herauszufallen, weil er in der Kulisse eines historischen Filmstoffs aus dem 19. Jahrhundert spielt. Die erfolgreiche Pariser Malerin Marianne wird damit beauftragt, heimlich ein Gemälde der jungen Héloïse anzufertigen. Die Adelige hat gerade eine Klosterschule verlassen und soll bald verheiratet werden. Héloïse weigert sich, Modell zu sitzen, um gegen eine von ihrer Mutter arrangierte Ehe zu protestieren. So beobachtet Marianne Héloïse und malt aus dem Gedächtnis heraus ihr Porträt bis sie sich in sie verliebt.
Über den in Cannes 2020 mit dem Hauptpreis ausgezeichneten Liebesfilm ist schon viel geschrieben worden. Es lassen sich thematisch biografische Bezüge zur Filmemacherin selbst ziehen. Schließlich ist auch sie eine Künstlerin, die das volle Vertrauen einer jüngeren Frau gewann, sich nicht patriarchisch dominierten gesellschaftlichen Konventionen beugen will und sich auch nicht in ein gemaltes Bild pressen lassen und dadurch vereinnahmen lassen möchte. Mit der Nachwuchsschauspielerin Adèle Haenel führt Sciamma seit ihrer Rolle in „Water Lilies“ auch im wirklichen Leben eine Beziehung.
Im Zusammenhang dieses Artikels sticht eine kleine Szene besonders hervor. Die Pariser Malerin Marianne und die adelige Klosterschülerin Héloïse begleiten eine unfreiwillig schwanger gewordene Hausangestellte auf ihrem Weg zu einer sogenannten Engelmacherin. Deren zwei Babys, etwa ein und zwei Jahre alt, krabbeln völlig unschuldig und natürlich bei der nicht direkt ins Bild rückenden Abtreibung neben der ängstliche wirkenden Hausangestellten auf dem Bett herum. Da ergreift das ältere der beiden Kleinkinder plötzlich die Hand der Schwangeren. Filme werden nicht gedreht, um sie mit Worten erklären zu müssen. In dieser kurzen Szene ist alles enthalten, was sich über Abtreibung aus unterschiedlichen Perspektiven filmisch erzählen lässt.
Großes Vertrauen in die jungen Darsteller*innen
In ihrem fünften Spielfilm „Petite Maman“ (2021) stehen zwei achtjährige Mädchen im Mittelpunkt, die „Mutter und Tochter“ spielen. Den Stoff hatte sie parallel zum genannten Historienfilm entwickelt. Im Berlinale-Presseheft zu diesem Film äußert sich Céline Sciamma explizit noch einmal zu ihrer Arbeit mit Kindern. Es gibt keine Proben, alles geschieht direkt am Set, wobei nur die jeweiligen Szenen eines Tages zählen. Diese müssen gut vorbereitet sein und erfordern viel Konzentration, denn beim Drehen mit Kindern gibt es klare zeitliche Beschränkungen. Möglich wird das nur mit einem starken Vertrauen an die Ernsthaftigkeit und das Talent der Kinder. Sciamma ist bisher noch nie von ihnen enttäuscht worden und das ist ihren Werken, der exakt auf den Punkt gebrachten Figurenzeichnung und den unvergesslichen Leistungen der jungen Darsteller*innen unabhängig vom Alter auch deutlich anzumerken.