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Herr Bachmann und seine Klasse

Im Kino: Eine mustergültige Langzeitdokumentation über einen Lehrer und seine multikulturelle Klasse.

So einen Lehrer wie Dieter Bachmann, der in einer nordhessischen Schule unterrichtet, werden sich nicht nur viele Kinder, sondern auch deren Eltern wünschen. Er kann offensichtlich wirklich gut mit Kindern umgehen und geht voll auf sie ein, er formuliert klare Regeln und setzt sie konsequent um, er hat immer ein offenes Ohr für seine Schüler*innen aus neun Ländern und verschiedenen Kulturen und er fördert sie mit ihren Talenten selbst gegen Vorbehalte der Eltern und Erwartungshaltungen der Gesellschaft. Mehr noch: Er lockert den Unterricht mit großem Engagement, viel Spaß und unkonventionellen Methoden wie akrobatischen und insbesondere musikalischen Einlagen auf. Musische Bildung hinkt hier einmal nicht der Bildung in klassischen Unterrichtsfächern hinterher, sondern wird vielmehr zu einem Schlüssel der Annäherung, des Vertrauens und des schulischen Erfolgs. Kein Wunder, dass der Lehrer nicht unbedingt wie Zeki Müller in „Fack ju Göhte“ (Bora Dagtekin, 2013) wirkt, aber immerhin so stark wie die deutsche Ausgabe von Jack Black im US-Film „School of Rock“ von Richard Linklater aus dem Jahr 2003.

Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zu Jack Black ist das permanente Tragen einer Wollmütze im Unterricht aus einem schier unerschöpflichen Fundus. Schade nur, dass Herr Bachmann nach dem 2016/17 gedrehten Dokumentarfilm mit einer Länge von 217 Minuten in Rente gegangen ist. So kann er wohl nicht mehr praxisnah zeigen, dass ihm selbst in Zeiten der Corona-Pandemie sicher gute Ideen und Methoden eingefallen wären, wie sich Schule realisieren lässt und auf das Leben vorbereiten hilft. Zweifelsfrei ist er ein Musterexemplar von Lehrer in einer multikulturell zusammengesetzten Klasse. Und das, obwohl Bachmann eigentlich gar nicht diesen Beruf ergreifen wollte. Er hatte Soziologie studiert und sah sich eher als Revolutionär oder Aussteiger, bis er 17 Jahre lang als Lehrer an der Georg-Büchner-Gesamtschule in Stadtallendorf tätig war. In dieser Zeit ging er gerne in die Schule, das ist in jeder Einstellung des Films zu spüren, und ihm war immer sehr daran gelegen, dass seine Schüler*innen ebenfalls gerne am Unterricht teilnehmen.

Das Zeitdokument der arrivierten Spiel- und Dokumentarfilmerin Maria Speth, die den Lehrer schon seit vielen Jahren kennt, kann neben anderen Langzeitdokumentationen über eine Schulklasse problemlos bestehen. Vielleicht sogar mit „Die Kinder von Golzow“ von Barbara und Winfried Junge, beginnend mit dem Jahr 1961, aber auch mit „Sein und Haben“ von Nicolas Philibert über eine französische Dorfschule in der Auvergne (2002), „Berg Fidel – Eine Schule für alle“ (2011) von Hella Wenders oder „Tableau Noir – Eine Zwergschule in den Bergen“ (2013) von Yves Yersin. Was den Film von Maria Speth heraushebt, sind der explizit multikulturelle Ansatz des Unterrichts an der Georg-Büchner-Gesamtschule und die Einbindung in die historische Entwicklung des Ortes. Beide Aspekte schlagen sich unmittelbar im Stoff des Unterrichts nieder. In Stadtallendorf mit etwa 21.000 Einwohner*innen hat ein Viertel der Bevölkerung keine deutsche Staatsbürgerschaft und 70 Prozent weisen einen Migrationshintergrund auf. Allein 5000 Menschen sind Muslime. Die beiden Hauptarbeitgeber des Industriestandorts, ein Stahlwerk und eine Schokoladenfabrik, tragen zum hohen Anteil ausländischer Arbeitskräfte bei. Zugleich ist eine historische Bürde allgegenwärtig, denn im Zweiten Weltkrieg war Stadtallendorf die größte Produktionsstätte in Europa für Waffen und Munition mit zahlreichen Zwangsarbeiter*innen und einem Konzentrationslager. In einem solchen Ort lassen sich Vergangenheit und soziale Gegenwart im Unterricht nicht ausblenden.

Das ist einer der Gründe, warum der Eindruck gar nicht erst entsteht, im Film ginge es nur um den Lehrer, seine charismatischen Fähigkeiten und ein Unterrichtskonzept nach seinen Bedürfnissen. Schon im Filmtitel kommt zum Ausdruck, dass es auch um die Klasse selbst geht – und die wird von einer jungen türkischstämmigen Lehrerin ebenfalls unterrichtet. Gleich die ersten Szenen gehen auf die multikulturelle Vielfalt in der Klasse ein, indem die Jugendlichen aus neun Nationen vermitteln, wie der Satz „Ich liebe dich“ in der jeweiligen Landessprache heißt. Der Musikunterricht, in dem der Lehrer immer wieder selbst zur Gitarre greift und die Schüler*innen auf ihren Instrumenten einstimmen, verbindet auf nonverbaler Ebene die unterschiedlichen Kulturen, so dass Harmonie und Einklang entstehen. Wie ein roter Faden durchzieht sich die ständig im Raum schwebende Frage, wie es mit den Schüler*innen nach der sechsten Klasse weitergeht. Werden sie in der Hauptschule bleiben oder schaffen sie den Übertritt in weiterführende Schulen? Der eigene Berufswunsch steht dabei nicht selten den Noten und den Absichten der Eltern entgegen. Gerade bei dieser Frage kommen die Persönlichkeiten und der soziale Hintergrund einzelner Schüler*innen zur Sprache, ihre persönlichen Schwierigkeiten und Ängste etwa, wie sie sich in einem fremden Land fühlten, aber auch ihre Einschätzung zu Religion und Rollenbildern. Im Verlauf des Schuljahres stellen sich bei allen deutliche Fortschritte beim Erlernen der deutschen Sprache und Erfassen der Unterrichtsinhalte ein. Sie alle haben Erfolgserlebnisse, viele gewinnen deutlich an Selbstvertrauen. Nach der Zeugnisvergabe gibt es eine herzliche Verabschiedung, am Ende bleibt der Lehrer allein zurück.

Holger Twele

© Grandfilm / Madonnen Film
12+
Dokumentarfilm

Herr Bachmann und seine Klasse - Deutschland 2021, Regie: Maria Speth, Kinostart: 16.09.2021, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 217 Min. Buch: Maria Speth, Reinhold Vorschneider. Kamera: Reinhold Vorschneider. Musik: Niklas Kammertöns. Schnitt: Maria Speth. Produktion: Madonnen Film. Verleih: Grandfilm. Darsteller*innen: Dieter Bachmann, weitere Lehrer*innen und Schüler*innen der 6. Jahrgangsstufe der Georg-Büchner-Gesamtschule in Stadtallendorf, Nordhessen u. a.

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