Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Vorgestellt im Juli 2021 > Sommer 85

Sommer 85

Im Kino: Alles scheint möglich für Alexis im flirrenden Sommer 1985, atmosphärisch inszeniert von François Ozon.

Ein Tsunami der 1980er-Jahre-Nostalgie flutet seit ein paar Jahren aus Bildschirmen, Radios und Modehäusern. Nun labt sich auch Regisseur François Ozon mit seinem Coming-of-Age-Film „Sommer 85“ im grobkörnigen Super 16-Format an der satten Farbpalette der allerorts wiederbelebten Ära und untermalt seine Bilder mit pulsierendem New Wave-Sound. Vor der Kulisse der Normandie entfaltet sich im Sommer 1985 ein Wechselbad der Gefühle für den 16-jährigen Alexis, als dieser den unzähmbaren David trifft. Für 6 Wochen, 1008 Stunden, 3.628.800 Sekunden verdichtet sich sein Zeiterleben: Unmögliches scheint möglich – bis die Blase junger Ekstase jäh zerplatzt.

„Das ist er, der künftige Leichnam“ verkündet Alexis, der gerade mit seiner kleinen Segeljolle auf offener See gekentert ist und sich angesichts eines aufkommenden Unwetters in akuter Lebensgefahr befindet, aus dem Off. Aber damit meint er nicht sich selbst, sondern seinen nahenden Retter: Der zwei Jahre ältere David ist zur rechten Zeit am rechten Ort, zieht Alexis aus dem Wasser und bringt ihn ohne viel Federlesens zu sich nach Hause. Von einem Moment auf den anderen ist Alexis‘ Leben völlig umgestülpt und er wird vom Sog, den der Wildfang David ausübt, mitgerissen. David ist unbändig und frei und nimmt sich, was er will. Zum Beispiel Alex, dem er in Windeseile gehörig den Kopf verdreht. Im Nu wird aus dem homoerotischen Knistern eine wahrhaftige Sommerliebe mit schwindelerregenden Höhen und klaffenden Tiefen.

Mit der Verfilmung von Aidan Chambers Roman „Tanz auf meinem Grab“ erfüllte sich François Ozon, der das Buch als Teenager laut eigener Aussage förmlich verschlang, einen langgehegten Traum. Sein Film setzt ein, als Alexis gerade in Handschellen abgeführt wird und dem Publikum sein seltsames Faible für den Tod preisgibt. Animiert von seinem Französischlehrer und literarischen Mentor Monsieur Lefèvre macht sich der verstörte Alexis an die Niederschrift seiner Sommer-Memoiren, denn „alles, was sich nicht aussprechen lässt, lässt sich leichter schreiben‟. Damit wird unter anderem die Erzählstruktur des Films vorgegeben, der die Geschehnisse rückwirkend aus Alexis‘ Perspektive aufrollt.

„Sommer 85“ besticht durch starke Darsteller*innen-Leistungen sowie durch detailgetreues Setting und die erlesene Songauswahl von The Cure über Bananarama bis hin zu Rod Stewart. Wenn Ozon schlussendlich nie vollständig in die Seelen seiner Protagonisten durchdringt, so mag das an dem zuweilen behutsam-nüchternen Blickwinkel liegen, der zum Auf und Ab der Emotionen sowie ihrem verklärenden, aber nie verklärten Pathos eingenommen wird. „Das einzig Wichtige ist, dass wir alle irgendwie aus unserer Geschichte kommen!“ heißt es am Ende etwas rätselhaft. Nach den etwa 100 bittersüßen Minuten leuchtet einem die verborgene Wahrheit dieses sanft nachklingenden Satzes jedenfalls voll und ganz ein.

Nathanael Brohammer

 

 

© Wild Bunch
15+
Spielfilm

Été 85 - Frankreich 2020, Regie: François Ozon, Kinostart: 08.07.2021, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 100 Min. Buch: François Ozon, nach dem Roman „Tanz auf meinem Grab‟ von Aidan Chambers. Kamera: Hichame Alaoui. Schnitt: Laure Gadette. Musik: Jean-Benoît Dunckel. Produktion: Mandarin Films, FOZ, France 2 Cinéma, Playtime Productions, Scope Pictures, Radio Télévision Belge Francophone. Verleih: Wild Bunch. Darsteller*innen: Félix Lefebre (Alexis), Benjamin Voisin (David), Philippine Velge (Kate), Valeria Bruni-Tedeschi (Madame Gorman), Melvil Poupaud (Monsier Lefèvre) u. a.

Sommer 85 - Sommer 85 - Sommer 85 -