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Erster Schnee

Entdeckt bei der Berlinale: Eine Flüchtlingsgeschichte, die sich vor allem durch ihren Optimismus auszeichnet.

Im Alter von sieben Jahren floh der Regisseur Hamy Ramezan zusammen mit seiner Schwester und den Eltern über die Türkei und das ehemalige Jugoslawien nach Finnland, wo er seine neue Heimat fand. Später studierte er in Großbritannien Film. Es vergingen aber über 30 Jahre, bis er in seinem Debütspielfilm seine Erlebnisse als Kind verarbeitete, Realität und Fiktion vermischte. Denn den mittlerweile unzähligen Geschichten über Flüchtlingsschicksale, Asylanträge und Abschiebungen wollte er nicht einfach eine weitere hinzufügen, so sehr ihn die Erlebnisse geprägt haben. Diese waren für ihn so schrecklich, wie er in einem Interview äußerte, dass ihm ohnehin niemand Glauben schenken würde – also warum es dann erst versuchen? Vielmehr erzählt er die Geschichte des Films ganz aus der Perspektive des stets optimistisch bleibenden 13-jährigen Ramin samt seiner warmherzig zusammenhaltenden Familie. Ramins finnische Freund*innen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie sind wie Ramin neugierig auf das Erwachsenwerden und auf alles, was das Leben in diesem Alter an Abenteuern und neuen Erfahrungen zu bieten hat.

Schon zu Beginn des Films ist Ramin in der neuen Heimat voll integriert. Die Familie wohnt noch auf engstem Raum in einer Notunterkunft, die so hellhörig ist, dass Beschwerden der das gleiche Schicksal teilenden Nachbar*innen wegen Lärmbelästigung nicht ausbleiben. Ramin nutzt jede Gelegenheit, um dieser Enge zu entkommen. Am liebsten hält er sich bei der alten Helena auf, die ihn geduldig in die Geheimnisse der Blumenzucht einführt. Oder er trifft sich mit seinem finnischen Freund. Gemeinsam wagen sie kleine Mutproben, streifen durch die Wälder und haben Spaß daran, Straßenlaternen mit einem Tritt gegen die Masten kurzfristig auszuschalten. Auch in der Familie geht es entspannt zu. Der Geburtstag des Vaters wird ausgelassen gefeiert, und als der Vater betrunken einschläft, spielen Mutter und Sohn ihm am nächsten Morgen einen Streich. Und auch Ramins jüngere Schwester Donya ist nicht gerade auf den Mund gefallen. Sie setzt Ramins Freund den Floh ins Ohr, am nächsten Tag würden alle Jungen aus der Klasse für einen Wettbewerb in Frauenkleidern erscheinen. Als die Tanzstunde als Teil des Unterrichts beginnt, möchte Ramin unbedingt wissen, wie man sich verhält, wenn man ein Mädchen gern hat und woran man vielleicht erkennt, dass die Zuneigung auf beiden Seiten besteht. Eines Tages allerdings taucht die Polizei plötzlich in der Schule auf.

Ähnlich wie der Regisseur damals in seiner Kindheit lernt auch sein Alter Ego Ramin die fremde Sprache sehr schnell binnen sechs Monaten. So bleibt es ihm vorbehalten, der Familie den Brief der Ausländerbehörde zu übersetzen. Der besagt, dass der Asylantrag wegen nicht ausreichender Gründe abgelehnt wurde und jeder weitere Tag in Finnland der letzte sein könnte. Deswegen versinkt die Familie aber nicht gleich in Trauer und Verzweiflung. Auch für den Regisseur sind vor allem die guten Erinnerungen geblieben, der Stolz auf die eigene Familie, die Menschlichkeit, die ihr auch von anderer Seite immer wieder begegnete. Sogar die Polizisten werden nicht als Antagonisten dargestellt. Sie machen ihren Job, haben aber kaum Einfluss auf die Entscheidungskriterien der Politik. Ist das ein allzu geschöntes Bild und verleugnet der Film dadurch die Realität? Sicher nicht, denn die positiven Erfahrungen eines Kindes, aus dessen Perspektive der Film weitgehend erzählt ist, sind ein Teil der Realität und tragen zur Authentizität bei. Besonders schwierig war es, einen geeigneten Darsteller für die Rolle von Ramin zu finden, der den Spagat zwischen kindlicher Unbeschwertheit und der ständigen Angst vor der Abschiebung nuancenreich spielen konnte. Der Junge musste darüber hinaus Farsi sprechen und genauso gut Finnisch mit persischem Akzent. Glück hatte der Regisseur nicht zuletzt mit der Besetzung von Ramins Vater, der als treusorgendes Familienoberhaupt ernsthaft und zugleich optimistisch sein sollte. Er wird von dem bekannten iranischen Schauspieler Shahab Hosseini verkörpert, der durch die Filme von Asghar Farhadi international bekannt wurde.

Holger Twele

© Aamu Film Company
10+
Spielfilm

Ensilumi (Any Day Now) - Finnland 2020, Regie: Hamy Ramezan, Festivalstart: 01.03.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 81 Min. Buch: Hamy Ramezan, Antti Rauttava. Kamera: Arsen Sarkisiants. Musik: Tuomas Nikkinen, Linda Arnkil. Schnitt: Joona Louhivuori. Produktion: Aamu Film Company. Verleih: offen. Darsteller*innen: Aran-Sina Keshvari (Ramin Mehdipour), Shahab Hosseini (Bahman M.), Shabnam Ghorbani (Mahtab M.), Kimiya Eskandari (Donya M.) u. a.

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