When We Were Sisters
Entdeckt auf den Hofer Filmtagen: Zwei Mädchen zwischen Patchwork-Chaos und Sehnsucht. Berührende Coming-of-Age-Geschichte.
Viele Kinder und Jugendliche leben nach der Trennung ihrer leiblichen Eltern in Patchwork-Familien. Konfliktfrei verläuft das selten. Ein gemeinsamer Urlaub auf der griechischen Insel Kreta, fernab der alltäglichen Herausforderungen, soll dafür sorgen, dass sich die neue Familie in spe besser kennenlernt. Das dachten sich offenbar auch Monica aus Zürich, Mutter der 14-jährigen Valeska, und ihr neuer Schwarm Jacques aus Genf, der nach der Trennung seiner Frau Tochter Lena allein erzieht.
Die Erwartungen an diesen Urlaub sind riesig. Monica, die ihr Leben nicht in den Griff bekommt und ständig andere für ihr Leid und ihr Versagen verantwortlich macht, droht Valeska sogar unverhohlen, diese Chance auf ein endlich harmonisches Familienleben nicht zu vermasseln. Aber auch Jacques, ein arbeitslos gewordener Architekt, der seinen Kummer über den doppelten Verlust von Frau und Arbeit im Alkohol ertränkt, ist alles andere als ein Vorzeigevater. Um die Probleme der Erwachsenen geht es Regisseurin Lisa Brühlmann aber nur am Rande. Stattdessen ist ihr Film ganz aus der Perspektive der beiden Mädchen erzählt, die sich zunächst feindlich gegenüberstehen, dann aber zu echten Freundinnen werden und sich nichts sehnlicher wünschen, als Schwestern zu sein.
Die für ihr Alter hochgewachsene Valeska, die deswegen von ihrer Mutter wenig schmeichelhaft Giraffe genannt wird, kann zunächst nicht viel mit der gleichaltrigen, um einen Kopf kleineren Lena anfangen, die schüchtern und kindlicher wirkt. Um die Trennung von der Mutter und ihre Einsamkeit zu verkraften, bekam Lena vom Vater einen weißen Mischlingshund geschenkt. Valeska, die ihren Vater nie wirklich kennengelernt hat, ist neidisch auf Lena und den Hund – und dafür verantwortlich, dass dieser gleich in der ersten Urlaubsnacht verschwindet und trotz intensiver Suche nicht mehr aufzufinden ist. In der gleichen Nacht wird Valeska von ihrer Mutter wieder einmal sanft und zugleich eindeutig zurückgestoßen, da sie lieber mit ihrem neuen Freund Zeit verbringen möchte. Ein nächtlicher Spaziergang durch den Ort, so meint die Mutter, würde der Tochter gut tun. Auf dem Weg wird Valeska von vier einheimischen Jugendlichen angemacht und lässt sich bereitwillig auf einen Joint sowie sexuelle Erfahrungen mit einem der Jungen ein.
Durch die wiederholten Herabsetzungen ihrer Mutter hat Valeska ein negatives Selbstbild von sich und einen Hang zu Selbstverletzungen entwickelt, die im Film vorsichtig angedeutet werden. Erst durch die Begegnung mit Lena und deren Bereitschaft zur Vergebung macht Valeska die Erfahrung, dass sie ein eigenständiger Mensch mit legitimen Bedürfnissen und nicht einfach nur das Spiegelbild ihrer Mutter ist, anderen keineswegs nur Unglück bringt.
Dieses sensibel und eindringlich erzählte Drama über Freundschaft und Zusammenhalt ist kein seichter Urlaubsfilm. Es enthält auch einige harte Szenen, die so noch kaum in Filmen für junge Menschen zu sehen waren. Dramaturgisch werden diese aber nie künstlich aufgebauscht, sondern immer wieder durch kurze Einschübe von Glück, Harmonie und Verständnis sowie durch eine beruhigende Musikuntermalung mit fast mantraartigen, einfachen Tonfolgen ausgeglichen. Mut zum Wagnis bewies Lisa Brühlmann bereits mit ihrem ersten Spielfilm „Blue my Mind“ (CH 2017). Auch in ihrem zweiten Spielfilm verlangt sie ihren Darstellerinnen eine breite Palette von Gefühlsregungen ab, die Paula Rappaport als Valeska und Malou Mösli als Lena gekonnt meistern. Beide sind in vielen Nah- und Großaufnahmen ins Bild gerückt.
Eine Reihe von sich durch den Film ziehenden Metaphern verleiht dem Film zusätzliche Tiefe und Bedeutung. Zwei von ihnen sind bereits in den ersten Szenen zu sehen und markieren zugleich das Ende: Valeska hat sich zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer Hand ein sogenanntes Knast-Tattoo gestochen, drei schwarze Punkte, die zu einem Dreieck angeordnet sind. Auch Lena möchte später ein solches Tattoo haben, als Zeichen ihrer ewigen Freundschaft. Zugleich und insbesondere für Valeska steht das Zeichen für ihre Verlorenheit und ihr als Gefängnis empfundenes Leben mit der überforderten Mutter, die stets das Beste will, aber oft das Gegenteil bewirkt. Ähnlich lassen sich im Film gezeigte, frei lebende Hunde sowie der Hund, der Lena entwischt, deuten. Sie alle haben offenbar ihre innere Freiheit und eine Gemeinschaft gefunden, ein Gefängnis überwunden, das Valeska und Lena allzu gerne hinter sich lassen würden.
Holger Twele
Diese Kritik entstand im Rahmen der Berichterstattung zur Aufführung des Films bei den Internationalen Hofer Filmtagen 2025, wo „When We Were Sisters“ in der neu geschaffenen Sektion „#of Next“ lief, die sich speziell an ein junges Publikum richtet.
Schweiz, Griechenland 2024, Regie: Lisa Brühlmann, Festivalstart: 24.10.2025, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 101 Min., Buch: Lisa Brühlmann, Kamera: Michael Saxer, Musik: Balz Bachmann, Dino Brandão, Schnitt: Kaya Inan, Produktion: Zodiac Pictures Ltd., Filmiki Productions S.A., Dt., Besetzung: Paula Rappaport (Valeska), Malou Mösli (Lena), Lisa Brühlmann (Monica), Carlos Leal (Jacques) u. a.
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