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Stabil

In der ARD-Mediathek: Nach einem Suizidversuch landet Greta in der Jugendpsychiatrie. Berührende Dramaserie über Jugendliche in mentalen Krisen.

Eine Jugendpsychiatrie als Dreh- und Angelpunkt? Viel zu düster, bitte nicht! – So oder ähnlich hätten wohl vor einigen Jahren noch die Entscheidungsträger*innen in der ARD geklungen, wenn auf ihrem Tisch eine Serie wie „Stabil“ gelandet wäre. Inzwischen werden Themen, die früher als Publikumsgift galten, glücklicherweise differenzierter betrachtet, in der Gesellschaft und in den Senderredaktionen. Noch dazu kämpfen die großen TV-Anbieter darum, die jungen Zuschauer*innen nicht komplett an die Streamingdienste zu verlieren.

„Stabil“ steht für einen Trend in der deutschen Fiction-Landschaft, der sich auf dem Filmfest München 2025 sehr schön beobachten ließ: Immer angesagter sind neuerdings Erzählungen, die sich auf Heranwachsende, ihre Identitätsfindung, ihre Unsicherheiten angesichts einer zunehmend instabilen Welt konzentrieren. Ebenso wie die RTL+-Produktion „Euphorie“ (André Szardenings, Antonia Leyla Schmidt, 2025) nähert sich auch die für die ARD entwickelte Dramaserie solchen Fragen.

„Stabil“ nimmt uns in einen auf der großen Leinwand oder dem kleinen Bildschirm selten gezeigten Kosmos mit: Greta gibt sich die Schuld am Tod ihrer Schwester Nele, mit der sie auf dem Motorrad einen schweren Unfall hatte. Nach einem Selbstmordversuch landet die 16-Jährige in der Jugendpsychiatrie, wo sie mit Dr. Kim an ihrer posttraumatischen Belastungsstörung arbeiten soll. Keine Handys, keine gefährlichen Gegenstände und kein Körperkontakt unter den Patient*innen – so lauten die klaren Regeln in der Klinik.

Eben dort lernt Greta andere junge Leute kennen, die, wie sie, nach Halt und Sicherheit suchen. Frederick, von allen nur „Fresse“ genannt, hat seine Impulse nicht unter Kontrolle, ist in seinem Sozialverhalten stark auffällig. Michelle verletzt sich selbst, wäscht sich nicht und sehnt sich nach der Zuneigung ihrer Mutter. „Killer“ ist ein erfolgreicher Gamer, den seine Spielsucht hierher gebracht hat. Und der kreative Alireza leidet nach Mobbingerfahrungen an einer Depression, die sein Vater einmal verharmlosend als „Orientierungsschwierigkeit“ abtut. Zwischen dem Künstler Alireza und Greta knistert es recht bald. Ein Drehbuchklischee, das die Serie jedoch nicht plump über die Handlung stülpt. Vielmehr führt uns „Stabil“ vor Augen: Wer aus der Bahn geworfen wurde, wer zunächst einmal mit sich selbst beschäftigt ist, hat es schwer, sich richtig auf einen anderen Menschen einzulassen. 

Nicht alle Figuren sind gleich gut gezeichnet. Michelles Geschichte etwa balanciert manchmal an der Grenze zum Stereotyp. Grundsätzlich interessieren sich die Macher*innen aber aufrichtig für die geschilderten Schicksale und bleiben stets nah dran. Den stärksten Eindruck hinterlassen die Storys rund um Greta und Fresse. Durch die Therapiesitzungen mit Dr. Kim kommen bei Greta spannende Erkenntnisse über das Verhältnis zu ihrer Schwester zum Vorschein. Gleichzeitig veranschaulicht ihre persönliche Reise, wie schnell äußere Einflüsse das Trauma, die Angst und die Schulgefühle wieder an die Oberfläche spülen können. Luna Mwezi meistert ihre herausfordernde Rolle mit Bravour, transportiert das emotionale Chaos zum Teil mit einer solchen Wucht, dass man erst mal kräftig durchatmen muss.

Große Präsenz hat auch Fresse-Darsteller Beren Zint, dem man die tickende Zeitbombe jederzeit abnimmt. Mit enormer Energie und Authentizität spielt er den bulligen Hitzkopf, lässt allerdings auch dessen weiche, verletzliche Seite aufblitzen. In Gegenwart von Tieren wird Fresse unglaublich sanft. Und Dr. Kim ist für ihn, der ohne Eltern aufgewachsen und von einer Einrichtung zur nächsten gezogen ist, eine der wenigen echten Vertrauenspersonen. Am liebsten würde Fresse die Psychiatrie gar nicht mehr verlassen. Denn hier hat er trotz aller Konflikte und Ausraster so etwas wie ein Zuhause gefunden. Besonders an seinem Fall spielt „Stabil“ das Ringen des Klinikpersonals um die richtigen Entscheidungen durch. Dr. Kim glaubt sehr an ihn, irgendwo sind der Hoffnung auf eine gute Perspektive aber auch Grenzen gesetzt.

Im Vergleich zur RTL+-Serie „Euphorie“, die auf poppige Bildkompositionen und eine direkte Publikumsansprache setzt, kommt das ARD-Jugenddrama zurückhaltender daher. Auch hier sorgen markante Farbenspiele und überhöhte Passagen für Einblicke in die Köpfe der Figuren. Die Ausbrüche aus der Realität sind aber deutlich seltener. Eine andere Strategie also – aber eine, die nicht minder überzeugt, denn auch „Stabil“ erzählt so eindringlich, dass diese Serie lange nachhallt.

Christopher Diekhaus

© ARD
16+
Spielfilm

Deutschland 2025, Serien-Idee: Teresa Fritzi Hoerl, Chiara Grabmayr, Regie: Teresa Fritzi Hoerl, Sinje Köhler, Homevideostart: 14.11.2025, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 6 Episoden à 26 bis 35 Minuten, Buch: Teresa Fritzi Hoerl (Headautorin), Mareike Almedom, Berthold Wahjudi, Sarah Claire Wray, Kamera: Friede Clausz, Musik: Giovanni Berg, Richard Ruzicka, Ton: Johannes Baumann, Schnitt: Lukas Meissner, Jochen Donauer, Frank Müller, Produktion: Christian Becker, Tina Kringer, Anbieter: ARD, Besetzung: Luna Mwezi (Greta), Caspar Kamyar (Alireza), Beren Zint (Frederick alias „Fresse“), Katharina Hirschberg (Michelle), Abak Safaei-Rad (Dr. Sarah Kim), Ronald Zehrfeld (Uwe) u. a.

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